Ihr alle kennt das Konzept von verwandten Sprachen und wisst, dass z.B. Deutsch und Niederländisch verwandt sind. Ihr kennt auch Stammbäume, z.B. für eure eigene Familie. Woher wissen wir, welche Sprachen verwandt sind und in einen Stammbaum gehören? 🌳
(Bild: Anthony 2007: 12)
🌳 Der extrem komplexe Stammbaum im vorherigen Tweet (der eigentlich mehr aussieht wie ein umgedrehter Stammbusch) ist ein möglicher Stammbaum für die indoeuropäische (oder indogermanische, kurz IE) Sprachfamilie. Wie werden uns den gleich im Detail anschauen.
🌳 (Hinweis: Ich schmeiße gleich viel mit Sprachnamen um mich, falls ihr eine davon nicht kennt, dann fragt bitte (oder googlet))
🌳 Das Stammbaummodell geht davon aus, dass sich Sprachen von älteren Vorfahren abgespalten haben. Ganz unten im Stammbaum seht ihr z.B. Latein, wovon sich Portugiesisch, Spanisch, Katalanisch, Provenzalisch usw. abgespalten haben. Das sind die #romanischen Sprachen.
🌳 Latein hat sich dann wiederum von einer latino-faliskischen Sprache abgespaltet und die wiederum von einer italischen und die dann vonm Proto-Indoeuropäischen (kurz PIE).
Ihr könnt also bei einer Sprache anfangen und dann den Stammbaum hochwandern.
🌳 Alle Sprachen, die sich auch letztendlich aus PIE entwickelt haben sind mit den romanischen Sprachen verwandt und je weniger Knoten dazwischen sind, desto näher ist die Verwandtschaft.
🌳 Woher wissen wir jetzt, dass alle diese Sprachen in diesen Stammbaum gehören? Einfach gesagt: durch Sprachvergleich.
Schaut euch mal die Wörter im Bild in den ältesten belegten IE-Sprachen der einzelnen Zweige an.
Quelle: en.wikipedia.org/wiki/Indo-Euro…
🌳 Folgende Dinge werden euch auffallen: 1. Fast alle Wörter beginnen mit <p>. Außer Gotisch, da ist es <f> und Armenisch/Keltiberisch, da ist kein Konsonant am Wortanfang. 2. Danach kommt irgendein Vokal. 3. Danach folgt <t>, <d>, <s> oder kein Konsonant
🌳 Es ist sehr offensichtlich, dass die Wörter alle ähnlich sind. Es kommt bei Sprachverwandtschaft aber nicht auf zufällige sondern auf *systematische* Ähnlichkeit an. Z.B., dass Gotisch immer ein <f> da hat, wo die anderen Sprachen ein <p> haben.
🌳 Solche systematischen Übereinstimmungen in Lauten nennt man „Lautkorrespondenzen“ und sie sind das A & O der historisch-vergleichenden Methode.
🌳 Die „historisch-vergleichende Methode“ ist der systematische Vergleich von Sprachen und das Herausstellen von systematischen Entsprechungen von Lauten, wodurch Sprachverwandtschaften aufgedeckt werden.
🌳 Denn die Lautkorrespondenzen stammen daher, dass sich alle verwandten Sprachen aus derselben Ursprache entwickelt haben.
🌳 Wenn Wörter in verschiedenen Sprachen sich aus dem selben Wort einer älteren Sprache entwickelt haben, wie bei dem „Fuß“-Beispiel oben, dann sprechen wir von „Kognaten“. Ja, auch unser „Fuß“ und Englisch „foot“ sind Kognate zu z.B. Altgriechisch poús.
🌳 Wenn ein Wort in einer Sprache in direkter Linie auf den nächst höheren Knoten im Stammbaum zurückgeführt werden kann, dann sagen wir es ist „ererbt“. Wenn es hingegen aus einer anderen Sprache übernommen wurde, dann ist es „entlehnt“.
🌳 Kognate machen großen Spaß. Falls ihr euch dafür interessiert lege ich euch meine Reihe #LessObviousDutchGermanCognates ans Herz, wo ich witzige Kognate in Deutsch und Niederländisch poste
🌳 Nach den Lautkorrespondenzen sind auch Übereinstimmungen in der Grammatik wichtig. Bei diesen Verbparadigmen (Verbformen) aus Sanskrit, Altgriechisch und Gotisch sollten euch wieder einige Ähnlichkeiten auffallen.
Quelle: Fortson 2004: 85
🌳 Z.B. in der 2. Person Singular („du“) ist die Endung in allen Sprachen <-s>. Auch die anderen Endungen ähneln sich stark. Das liegt daran, dass auch Grammatik von der Ursprache ererbt ist. Auch dort kann es Kognate geben.
🌳 Ich hatte oben schon erwähnt, dass Gotisch da ein <f> hat, wo andere alte IE-Sprachen ein <p> haben. Diese Veränderung im Laut tritt in allen germanischen Sprachen auf (manchmal ist es auch /v/).
🌳 Mithilfe solcher “gemeinsamer Neuerungen“ können wir Unterfamilien in einer Sprachfamilien feststellen. Das können nicht nur Veränderungen in Lauten sein, sondern auch in der Grammatik.
🌳Wichtig ist, dass die Neuerung in allen Sprachen auftritt und sie sich dadurch von anderen Sprachen derselben Familie unterscheiden.
🌳 Es kommt auch schon mal vor, dass ein Wort mit einer ähnlichen Bedeutung in zwei Sprachen (fast) identisch, aber kein Kognat ist.
🌳 Sowas ist mir gestern im #Sahu-Wörterbuch unterkommen. Dort gibt es ein Wort „kabala“, das eine sehr ähnliche Bedeutung wie die jüdische Mystik „Kabbala“ hat.
Weiterführung der Bildbeschreibung (in der Bildbeschreibung)
Referenzen:
Anthony, David W. (2007). The Horse, the Wheel, and Language: How Bronze-Age Riders from the Eurasian Steppes Shaped the Modern World. Princeton University Press.
Fortson, Benjamin W. (2004). Indo-European Language and Culture: An Introduction. Malden, Massachusetts: Blackwell
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Im letzten Thread für diese Woche möchte ich auf eine Frage eingehen, die hoffentlich bald mithilfe meines PhD-Projekts beantwortet werden kann: Sind die Nordhalmahera-Sprachen mit Sprachen auf Neuguinea verwandt? Und verbunden damit: Wo kommen die Menschen auf Halmahera her? 🐦
🐦 Ich hatte schon erzählt, dass die NH-Sprachen auch als „Papua-Sprachen“ bezeichnet werden. Das ist ein Sammelbegriff für alle Sprachen auf und um Neuguinea, die nicht austronesisch sind.
Die indoeuropäische Sprachfamilie ist die am besten erforschte Sprachfamilie überhaupt. Bei meinem PhD-Projekt zu den Nordhalmahera-Sprachen bin ich ganz am Anfang und mit einigen Problemen konfrontiert, über die ich euch jetzt erzählen möchte 🦎
🦎 Falls ihr nichts über historische Linguistik wisst, dass lest euch bitte vorher diesen Thread von mir durch. Ansonsten werden ihr Probleme haben das folgende zu verstehen.
🦎 Die NH-Sprachen sind als Sprachfamilie mittlerweile unumstritten anerkannt. Schon 1915 stellte van der Veen fest, dass sich sie Sprachen deutlich von den benachbarten austronesischen Sprachen unterscheiden.
Den Satz „Sprachwandel ist ganz natürlich!“ liest man so oder so ähnlich ziemlich oft auf Twitter, vor allem wenn es um Dinge wie Gendern oder Jugendsprache geht. Aber was bedeutet das genau? 🌀
🌀 Sprachwandel ist, oh Wunder, Veränderungen in einer Sprache. „Natürlich“ bezieht sich darauf, dass Sprachwandel in allen lebenden Sprachen vorkommt, er ist unmöglich aufzuhalten und quasi ein natürliches Beiprodukt menschlicher Kommunikation.
🌀 Dass Sprachwandel existiert können wir leicht erkennen, indem wir uns einen beliebigen Text nehmen, der älter ist als, sagen wir mal, 50 Jahre. Schon nach so einer relativ kurzen Zeit sollten Veränderungen in der Sprache auffallen.
So, da bin ich wieder. Ich wollte euch ja noch was zum Thema Sprachdokumentation 📒 erzählen.
📒 Bei der Sprachdokumentation werden Sprachen aufgezeichnet und meisten auch ihre grammatischen Merkmale untersucht.
Nach einer Schätzung meiner Linguistikprofessorin in Köln sind nur ca. 500(!) der ca. 7000 Sprachen beschrieben, also nur knapp 7%.
📒 Sprachen sind auch unterschiedlich gut beschrieben. Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es weitaus mehr Material zu Englisch und anderen großen europäischen Sprachen als zu anderen Sprachen.
Bei der Frage, was ist so schlimm daran, wenn eine Sprache ausstirbt, ist vielleicht ein Gedankenexperiment sinnvoll.
Stellt euch vor, ihr wandert nach China aus und sprecht mit euren Kindern nur Chinesisch, kein Deutsch. Was sind die Konsequenzen? ☠️
☠️Ihr möchtet euren Kindern euer Lieblingsbuch aus Kindertagen vorlesen, aber es gibt keine chinesische Übersetzung. Die könnt ihr jetzt selbst machen oder es seinlassen.
Auch deutsche Märchen funktionieren auf Chinesisch nicht so wie auf Deutsch.
☠️Eure Kinder finden es sehr witzig, wenn ihr deutsche Sprichwörter versucht auf Chinesisch auszudrücken. Aber die chinesischen aufzunehmen fällt euch auch schwer, schließlich habt ihr die Sprache erst als Erwachsene*r gelernt.