Bei der Frage, was ist so schlimm daran, wenn eine Sprache ausstirbt, ist vielleicht ein Gedankenexperiment sinnvoll.
Stellt euch vor, ihr wandert nach China aus und sprecht mit euren Kindern nur Chinesisch, kein Deutsch. Was sind die Konsequenzen? ☠️
☠️Ihr möchtet euren Kindern euer Lieblingsbuch aus Kindertagen vorlesen, aber es gibt keine chinesische Übersetzung. Die könnt ihr jetzt selbst machen oder es seinlassen.
Auch deutsche Märchen funktionieren auf Chinesisch nicht so wie auf Deutsch.
☠️Eure Kinder finden es sehr witzig, wenn ihr deutsche Sprichwörter versucht auf Chinesisch auszudrücken. Aber die chinesischen aufzunehmen fällt euch auch schwer, schließlich habt ihr die Sprache erst als Erwachsene*r gelernt.
☠️Ihr möchtet eure Kinder gerne für euren Lieblingssport begeistern, aber der ist in China nicht so populär und viele Fan-Wörter gibt es nicht auf Chinesisch.
☠️Euer Vater war Bergmann und als ihr euren Kindern davon erzählen wollt, fehlt euch das entsprechende Vokabular. Als ihr nachschlagt merkt ihr, dass „Steiger“ kein internationaler Begriff ist und „Glück auf“ erst recht nicht.
☠️Ihr bekommt auch Besuch von den Großeltern, aber die können nicht direkt mit euren Kindern reden, ihr müsst alles übersetzen. Für euren Kinder bleiben Oma & Opa daher ein Stück weit Fremde.
☠️Nach eurem Tod finden eure Kinder eine Box, darunter ein handgeschriebenes Kochbuch von deiner Großmutter. Die Kinder interessieren sich dafür, aber leider können sie die Rezepte nicht nachmachen. Der Online-Übersetzer weiß nämlich nicht, was „Prummekuche“ bedeutet.
☠️In der Box ist auch ein Tagebuch deines Vaters, auch über ihn wollen deine erwachsenen Kinder gerne mehr wissen, aber sie können das Buch ja nicht lesen. Sie müssten also jemand beauftragen, aber soll das wirklich jemand außerhalb der Familie lesen?
☠️Was ist also verloren gegangen? Eurer literarischer Hintergrund, eure Kultur, Wissen über eure Vorfahren und so weiter. Wenn ihr das alles nicht schlimm findet, dann habt ihr Glück gehabt – eure Kinder werden sich vielleicht wünschen, ihr hättet ihnen Deutsch beigebracht.
☠️Und jetzt stellt euch vor, es geht nicht um eine Riesensprache wie Deutsch sondern um eine ganz kleine, die nicht geschrieben wird und nie dokumentiert wurde. Kulturen mit ungeschriebenen Sprachen speichern viel Wissen in Geschichten ab.
☠️Wenn es da keine Sprecher*innen mehr gibt, bedeutet das: alle Mythen, Legenden, Geschichten, alle das kulturspezifisches Wissen ist nicht mehr in der mündlichen Tradition abrufbar. Und es kommt nie wieder.
Um es klar zu machen: Deutsch wird nicht aussterben, wenn ein*e Sprecher*in nach China auswandert. Das ist ein Gedankenexperiment, damit ihr euch leichter in die Leute hineinzuversetzen, die gerade eine Sprache aufgeben. Es geht vor allem um MÜNDLICHE Kulturen
Hier ein Thread über Sprecher*innen, die sich genau in so einer Situation befinden:
Ihr alle kennt das Konzept von verwandten Sprachen und wisst, dass z.B. Deutsch und Niederländisch verwandt sind. Ihr kennt auch Stammbäume, z.B. für eure eigene Familie. Woher wissen wir, welche Sprachen verwandt sind und in einen Stammbaum gehören? 🌳
(Bild: Anthony 2007: 12)
🌳 Der extrem komplexe Stammbaum im vorherigen Tweet (der eigentlich mehr aussieht wie ein umgedrehter Stammbusch) ist ein möglicher Stammbaum für die indoeuropäische (oder indogermanische, kurz IE) Sprachfamilie. Wie werden uns den gleich im Detail anschauen.
🌳 (Hinweis: Ich schmeiße gleich viel mit Sprachnamen um mich, falls ihr eine davon nicht kennt, dann fragt bitte (oder googlet))
Den Satz „Sprachwandel ist ganz natürlich!“ liest man so oder so ähnlich ziemlich oft auf Twitter, vor allem wenn es um Dinge wie Gendern oder Jugendsprache geht. Aber was bedeutet das genau? 🌀
🌀 Sprachwandel ist, oh Wunder, Veränderungen in einer Sprache. „Natürlich“ bezieht sich darauf, dass Sprachwandel in allen lebenden Sprachen vorkommt, er ist unmöglich aufzuhalten und quasi ein natürliches Beiprodukt menschlicher Kommunikation.
🌀 Dass Sprachwandel existiert können wir leicht erkennen, indem wir uns einen beliebigen Text nehmen, der älter ist als, sagen wir mal, 50 Jahre. Schon nach so einer relativ kurzen Zeit sollten Veränderungen in der Sprache auffallen.
So, da bin ich wieder. Ich wollte euch ja noch was zum Thema Sprachdokumentation 📒 erzählen.
📒 Bei der Sprachdokumentation werden Sprachen aufgezeichnet und meisten auch ihre grammatischen Merkmale untersucht.
Nach einer Schätzung meiner Linguistikprofessorin in Köln sind nur ca. 500(!) der ca. 7000 Sprachen beschrieben, also nur knapp 7%.
📒 Sprachen sind auch unterschiedlich gut beschrieben. Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es weitaus mehr Material zu Englisch und anderen großen europäischen Sprachen als zu anderen Sprachen.
🌊 So, nachdem wir uns eben Sprachbedrohung im Abstrakten angeschaut haben, betrachten wir jetzt im Konkrete die Nordhalmahera-Sprachen.
Dabei werden uns viele Faktoren begegnen, die auch in anderen Teilen der Welt relevant sind
🌊Von den 10 Sprachen, die ich euch am Montag vorgestellt habe, habe ich zu 5 Daten zur Sprachsituation: Ternate, Tidore, Sahu, Tobelo & Pagu.
🌊 Die Informationen sind teilweise über 20 Jahre alt, also könnte sich in der Zwischenzeit viel verändert haben.
Guten Morgen und willkommen zurück in der wunderbaren Welt der Sprache
Heute möchte ich mit euch über ein weniger schönes Thema sprechen: bedrohte Sprachen und Sprachtod 💀 commons.wikimedia.org/wiki/File:Papy…
💀 Das Konzept von ausgestorbenen Sprachen ist uns ja allen bekannt. Ihr kennt ägyptische Hieroglyphen, hattet vielleicht Latein oder Altgriechisch in der Schule und das Bild oben zeigt eine Sprachen, mit der ich mich für meine Masterarbeit beschäftigt habe: Reichsaramäisch
💀Die meisten Linguist*innen stimmen darin überein, dass eine Sprache als ausgestorben gilt, wenn sie keine Sprecher*innen mehr hat, bei manchen müssen es genauer Muttersprachler*innen sein
Guten Abend, wie versprochen schauen wir uns jetzt ein konkretes Beispiel für die problematische Unterscheidung von Dialekten und Sprachen an, nämlich die Nordhalmahera-Varietäten Ternate und Tidore 🏝️.
Hier könnt ihr etwas Hintergrund wissen nachlesen:
🏝️ Ternate und Tidore waren beide mächtige Sultanate und die beiden Lekte (Sprachvarietäten) werden oft als eigenständige Sprachen geführt und beschrieben.
Linguist*innen wie Voorhoeve (z.B. 1988) sagen aber, es würde sich um zwei Dialekte einer Sprache handeln.
🏝️ Wir hatten heute Morgen gesehen, dass Sprachen und Dialekte meist auf soziolinguistischer Basis unterschieden werden und Linguist*innen auch oft versuchen, das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit anzuführen.