Die indoeuropäische Sprachfamilie ist die am besten erforschte Sprachfamilie überhaupt. Bei meinem PhD-Projekt zu den Nordhalmahera-Sprachen bin ich ganz am Anfang und mit einigen Problemen konfrontiert, über die ich euch jetzt erzählen möchte 🦎 Karte von Halmahera, die Nordhalmahera-Sprachen sind in ihre
🦎 Falls ihr nichts über historische Linguistik wisst, dass lest euch bitte vorher diesen Thread von mir durch. Ansonsten werden ihr Probleme haben das folgende zu verstehen.
🦎 Die NH-Sprachen sind als Sprachfamilie mittlerweile unumstritten anerkannt. Schon 1915 stellte van der Veen fest, dass sich sie Sprachen deutlich von den benachbarten austronesischen Sprachen unterscheiden.
🦎 Neben unterschiedlichem Vokabular nannte er auch 5 grammatische Merkmale:
🦎 1. Die normale Satzstellung ist SOV, d.h. zuerst steht das Subjekt, dann das Objekt, dann das Verb. In austronesischen Sprachen ist die Position von Objekt und Verb vertauscht.
Hier ein Beispiel aus Tobelo, das wörtlich ‚Ich ein Haus sah‘ bedeutet (Voorhoeve 1994a: 671) ngohi o tau to-diai I a house I-saw 'I saw a house'
🦎 2. Postpositionen, sowas wie „des Wetters WEGEN“. Austronesische Sprachen haben meist Präpositionen, die vor dem Nomen stehen.
Hier ein Beispiel aus Galela, das wörtlich ‚die Küste zu wir gehen‘ bedeutet (Voorhoeve 1994a: 671) o dowongi oka po-supu the coast to we-go
🦎 3. bei der Besitzkonstruktion steht die besitzende Entität vor der besessenen, sowas wie „Peter sein Auto“. In austronesischen Sprachen ist es meistens andersrum.
Hier ein Beispiel aus Tobelo, wörtlich ‚die alte Frau ihr Haus‘ (Voorhoeve 1994a: 671) o bereki ami tau the old woman her house
🦎 4. Subjekt & Objekt werden am Verb markiert, sowas wie „Ich schreib’s“, das kommt in austronesischen Sprachen selten vor.
In Galela bedeutet ‚er sah es‘ z.B. „yamake“, das <y> markiert ‚er‘ und das <a> ‚es‘ (Voorhoeve 1994a: 671)
🦎 5. Nominalklassen, die drei Genera markieren, sowas findet man in austronesischen Sprachen auch eher selten.
🦎 Nicht alle diese Merkmale kommen in allen NH-Sprachen vor. Sie zeigen uns auch erstmal nur, dass die Sprachen wohl nicht austronesisch sind, eine Verwandtschaft belegen sie nicht.
Dazu hat man das Vokabular verglichen.
🦎 Potentielle Kognate zwischen den NH-Sprachen zu finden, ist nicht schwer. Ich hatte euch gestern schon das Set für ‚Haut, Rinde‘ gezeigt. Hier sind noch zwei weitere, nämlich das für ‚Blut‘ und für die Verneinung
🦎 Es wurden zwar schon Lautkorrespondenzen aufgezeigt, aber die sind noch eher wacklig, weil sie auf wenigen Kognatsets basieren.
🦎 Lange Zeit nahm man noch an, dass West Makian austronesisch sei. Das lag daran, dass West Makian so viele Wörter & Grammatik aus der austronesischen Sprache East Makian entlehnt hat, dass sich die beiden Sprachen oberflächlich sehr ähneln.
🦎 Erst 1976 zeigte Watuseke durch einen Vergleich von Zahlwörtern, dass West Makian den NH-Sprachen zugehörig ist.
Quelle: Watuseke 1976: 282
🦎 Warum Zahlwörter? Weil die zum sog. „Grundwortschatz“ gehören. Dazu gehören Wörter, die in jeder Sprache vorkommen (z.B. auch Pronomen, Verwandtschaftsterminologie) und bei denen man davon ausgeht, dass sie seltener aus anderen Sprachen entlehnt werden.
🦎 Zwischenfazit: die Nordhalmahera-Sprachen unterscheiden sich von den umliegenden austronesischen Sprachen und mögliche Kognate & Übereinstimmungen in der Grammatik weisen auf eine enge Verwandtschaft hin.
Das reich noch nicht für einen fundierten Stammbaum aus.
🦎 Voorhoeve (1994b) hat z.B. diesen Stammbaum vorgeschlagen mit West Makian als einem Zweig und allen anderen Sprach im anderen, wobei der sich nochmal in Ternate & Tidore und den Rest spaltet. Sprachstammbaum ganz oben: NH language family linker Zweig:
🦎 Auch die Grammatik wurde noch nicht so systematisch verglichen, wie es für einen soliden Stammbaum nötig wäre.
Also: man weiß, dass die NH-Sprachen wohl verwandt sind, aber noch nicht welche näher miteinander verwandt sind.
🦎 Bei meinem Threads über die indoeuropäischen Sprachen gestern ist euch vielleicht aufgefallen, dass dort vor allem sehr alte Sprache verglichen werden. Das liegt daran, dass sie logischerweise näher an der Ursprache dran sind.
🦎 Bei erst kürzlich belegten Sprachen wie den NH-Sprachen, ist das nicht so einfach. Auf dem Bild seht ihr eins der ältesten Dokument in Ternate: Ein Vertrag zwischen den niederländischen Kolonialisten und dem Sultan von Ternate aus dem Jahr 1638.
digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PP… vergilbtes Manuskript links eine fast unleserliche Handschri
🦎 Grundsätzlich ist eine Rekonstruktion auch bei erst kürzlich belegten Sprachen kein Problem, denn es handelt sich ja um ein Modell und das ist so gut wie die Belege es eben hergeben.
🦎 Aber die Rekonstruktion basiert auf einem viel dünnerem Datenfundament. Ein Beispiel: Beim Kognatset unten für ‚Sonne‘ haben erstaunlich viele Sprache „waŋe“ (sprich: wange).
🦎 Das könnte daran liegen, dass das Protowort in allen Sprachen dazu geworden ist, es könnte aber auch sein, dass die Sprachen das Wort untereinander entlehnt haben. Dann würden sie nicht mehr die normalen Lautwandel zeigen.
🦎 Ein weiteres Problem sind Dialektentlehnung oder Entlehnung zwischen Sprachen einer Sprachfamilie. Ein deutsches Beispiel für so eine Entlehnung aus einer nah verwandten Sprache ist „klappen“, das aus dem Niederdeutschen entlehnt wurde.
🦎 Woran erkennen wir solche Entlehnungen? Im Fall von „klappen“ ist es recht simpel. Ihr erinnert Euch an die hochdeutsche Lautverschiebung. Nach der müsste „klappen“ zu „klaffen“ geworden sein.
🦎 Und das ist tatsächlich auch so, „klaffen“ hatte im Mittelhochdeutschen noch die Bedeutung von „klappen“. Dann änderte sich die Bedeutung zu der heutigen (‚offen stehen‘) und „klappen“ wurde fortan für die alte Bedeutung benutzt.
🦎 Bei den NH-Sprachen ist es schwieriger, denn ich habe ja noch keine Lautgesetzte und weiß nicht, wie die Wörter *eigentlich* sein müssten. Ich kann auch nicht wie im Deutschen einfach nachschauen, ob das Wort erst später in die Sprache gekommen ist
🦎 Darum kann ich nur mit solchen Totalübereinstimmungen vorsichtig sein und sie mir genauer angucken, sobald ich mehr über die Lautentwicklungen weiß.
🦎 Die NH-Sprachen werden auch nur auf einer Fläche von wenigen 10.000 km2 gesprochen, die Sprecher*innen der einzelnen Sprachen hängen also recht nah aufeinander. Da ist es logisch, dass man in Kontakt kommt und mal was entlehnt.
🦎 Außerdem standen viele der NH-sprachigen Gebiete unter dem Einfluss von Ternate/Tidore, daher könnten diese einflussreichen Sprache ihre Spuren hinterlassen haben.
🦎 Hinzu kommt dann noch der ständige Einfluss von austronesischen Sprachen, zum Beispiel durch die Verkehrssprache Moluccan Malay und die Amtssprache Indonesisch.
🦎 Ein Beispiel ist hier die Unterscheidung von exklusiven & inklusivem „wir“ (Erklärung im angehängten Tweet), das findet sich in vielen benachbarten austronesischen Sprachen
🦎 Solche Kontaktphänomene, also Veränderungen in der Sprache, die durch Kontakt zu andere Sprachen hervorgerufen wurden, sind vom Stammbaummodell nicht zu fassen, denn das beachtet ja nur ererbte Wörter.
🦎 Ein weiteres Problem ist die schlechte Dokumentation der Sprachen. Die ausführlichsten Wörterbücher, die ich habe, kommen auf ein paar tausend Einträge, ob sind es deutlich weniger.
🦎 Das ist natürlich nichts gegenüber den 18 Mio. Einträgen im Dudenkorpus. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir Kognate entgehen, ist sehr hoch.
duden.de/sprachwissen/s…
🦎 So, jetzt habt ihr hoffentlich einen kleinen Einblick gewonnen, vor welchen Problemen ich bei meiner Arbeit mit den Nordhalmahera-Sprachen stehe.
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Referenzen:
Gary Holton and Marian Klamer. 2018. The Papuan languages of East Nusantara and the Bird's Head. In Bill Palmer (ed.), Papuan Languages and Linguistics, 569-640. Berlin: Mouton.
C. L. Voorhoeve. 1994a. Contact-induced change in the non-Austronesian languages in the north Moluccas, Indonesia. In Tom Dutton and Darrell T. Tryon (eds.), Culture change, language change: Case studies from Melanesia, 649-674. Berlin: Mouton de Gruyter.
C. L. Voorhoeve. 1994b. Comparative Linguistics and the West Papuan Phylum. In E. K. M. Masinambow (ed.), Maluku dan Irian Jaya, 65-90. Jakarta: LEKNAS-LIPI.
F. S. Watuseke. 1976. West Makian, a Language of the North-Halmahéra Group of the West-Irian Phylum. Anthropological Linguistics 18. 274-285.
van der Veen, Hendrik. 1915. De Noord-Halmahera'se taalgroep tegenover de austronesiese talen. Leiden: van Nifterik

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23 Oct
Im letzten Thread für diese Woche möchte ich auf eine Frage eingehen, die hoffentlich bald mithilfe meines PhD-Projekts beantwortet werden kann: Sind die Nordhalmahera-Sprachen mit Sprachen auf Neuguinea verwandt? Und verbunden damit: Wo kommen die Menschen auf Halmahera her? 🐦 Karte von Halmahera (links) & dem Neuguinea (rechts), mit de
🐦 Ich hatte schon erzählt, dass die NH-Sprachen auch als „Papua-Sprachen“ bezeichnet werden. Das ist ein Sammelbegriff für alle Sprachen auf und um Neuguinea, die nicht austronesisch sind.
🐦 Es ist *keine* Sprachfamilie, d.h. es gibt weder Lautkorrespondenzen noch Kognate noch systematische Übereinstimmungen in der Grammatik.
Read 24 tweets
22 Oct
Ihr alle kennt das Konzept von verwandten Sprachen und wisst, dass z.B. Deutsch und Niederländisch verwandt sind. Ihr kennt auch Stammbäume, z.B. für eure eigene Familie. Woher wissen wir, welche Sprachen verwandt sind und in einen Stammbaum gehören? 🌳
(Bild: Anthony 2007: 12) Sprachstammbaum Oben zentral: Proto-Indo-European Zweigen vo
🌳 Der extrem komplexe Stammbaum im vorherigen Tweet (der eigentlich mehr aussieht wie ein umgedrehter Stammbusch) ist ein möglicher Stammbaum für die indoeuropäische (oder indogermanische, kurz IE) Sprachfamilie. Wie werden uns den gleich im Detail anschauen.
🌳 (Hinweis: Ich schmeiße gleich viel mit Sprachnamen um mich, falls ihr eine davon nicht kennt, dann fragt bitte (oder googlet))
Read 29 tweets
21 Oct
Den Satz „Sprachwandel ist ganz natürlich!“ liest man so oder so ähnlich ziemlich oft auf Twitter, vor allem wenn es um Dinge wie Gendern oder Jugendsprache geht. Aber was bedeutet das genau? 🌀
🌀 Sprachwandel ist, oh Wunder, Veränderungen in einer Sprache. „Natürlich“ bezieht sich darauf, dass Sprachwandel in allen lebenden Sprachen vorkommt, er ist unmöglich aufzuhalten und quasi ein natürliches Beiprodukt menschlicher Kommunikation.
🌀 Dass Sprachwandel existiert können wir leicht erkennen, indem wir uns einen beliebigen Text nehmen, der älter ist als, sagen wir mal, 50 Jahre. Schon nach so einer relativ kurzen Zeit sollten Veränderungen in der Sprache auffallen.
Read 23 tweets
20 Oct
So, da bin ich wieder. Ich wollte euch ja noch was zum Thema Sprachdokumentation 📒 erzählen.
📒 Bei der Sprachdokumentation werden Sprachen aufgezeichnet und meisten auch ihre grammatischen Merkmale untersucht.
Nach einer Schätzung meiner Linguistikprofessorin in Köln sind nur ca. 500(!) der ca. 7000 Sprachen beschrieben, also nur knapp 7%.
📒 Sprachen sind auch unterschiedlich gut beschrieben. Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es weitaus mehr Material zu Englisch und anderen großen europäischen Sprachen als zu anderen Sprachen.
Read 15 tweets
20 Oct
Bei der Frage, was ist so schlimm daran, wenn eine Sprache ausstirbt, ist vielleicht ein Gedankenexperiment sinnvoll.
Stellt euch vor, ihr wandert nach China aus und sprecht mit euren Kindern nur Chinesisch, kein Deutsch. Was sind die Konsequenzen? ☠️
☠️Ihr möchtet euren Kindern euer Lieblingsbuch aus Kindertagen vorlesen, aber es gibt keine chinesische Übersetzung. Die könnt ihr jetzt selbst machen oder es seinlassen.
Auch deutsche Märchen funktionieren auf Chinesisch nicht so wie auf Deutsch.
☠️Eure Kinder finden es sehr witzig, wenn ihr deutsche Sprichwörter versucht auf Chinesisch auszudrücken. Aber die chinesischen aufzunehmen fällt euch auch schwer, schließlich habt ihr die Sprache erst als Erwachsene*r gelernt.
Read 15 tweets

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