Wenn man Englisch kann, sich für Biologie interessiert und einen Überblick darüber haben möchte, was die Wissenschaft über die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens bisher so herausgefunden hat, dürften das hier 40 gut investierte Stunden sein:
Es ist nicht nur interessant, sondern Robert Sapolsky präsentiert es auch auf sehr unterhaltsame Art und Weise, und zeigt insbesondere auf, welche gefährlichen Irrwege die Wissenschaft genommen hat und korrigiert viele überkommene Vorstellungen, die bis heute ...
...in weiten Teilen der Öffentlichkeit herrschen. Es ist auch eine wunderbare Vorlesung über Wissenschaftsgeschichte.
In meiner Schulzeit kam Epigenetik nicht vor, und es scheint auch heute nur am Rande erwähnt zu werden, obwohl man ohne Epigenetik unmöglich verstehen kann, wie das mit den Genen funktioniert und warum.
Jeder dürfte in der Schule von Proteinbiosynthese gehört haben, wie aus DNA die RNA abgeschrieben wird und je drei Basenpaare eine Aminosäure spezifizieren, so dass eine Sequenz davon den Bauplan für ein Protein enthält.
Neben diesen proteincodierenden Sequenzen enthält die DNA aber jede Menge anderer Informationen, die im Prinzip die ganze Logik enthalten, also steuern, wie viel von welchen Proteinen unter welchen Bedingungen gebaut werden.
Außerdem sind Gene modular aufgebaut, und es gibt quasi "Präprozessoren", die entscheiden, welche Teile aus der DNA in welcher Reihenfolge als RNA herauskopiert werden.
Die Konfiguration, also die Flags oder "Environment Variablen", die beschreiben, welcher Code aktiv ist, sind Proteine, die im Zellmillieu vorhanden sind und mit der weiblichen Eizelle vererbt werden.
Durch die Lebensumstände der Mutter, etwa Stress oder Hunger, können bestimmte Konfigurationen so verändert werden, dass das über Generationen hinweg Auswirkungen darauf hat, welche Gene aktiv sind.
Der wirklich wichtige Tenor des Ganzen aber ist: Während unser Verhalten einerseits stärker durch molekulare Erbanlagen bestimmt ist, als viele glauben, ist unser "genetisches" System andererseits viel flexibler, als vermutlich allgemein bekannt.
Es ist nicht einfach ein Haufen DNA, die ab und zu bei der Paarung vermischt wird und gelegentlich mutiert, um dann den Bauplan für ein neues Wesen zu ergeben, der ausgelesen und ausgeführt wird; vielmehr ist das System so aufgebaut, dass es z.B. so etwas wie "staging" kann,..
...also etwa Code dupliziert und mit verschiedenen Varianten eines Proteins experimentieren und etwa während der Schwangerschaft den Fötus für unterschiedliche Lebensbedingungen konfigurieren kann, etwa das herrschende Nahrungsangebot.
Hungert eine Schwangere im letzten Drittel der Schwangerschaft, wird der Metabolismus des Kindes etwa lebenslang auf extreme Nahrungsverwertungseffizienz getrimmt, was bei anschließendem Nahrungsüberangebot...
...zu einem höheren Körpergewicht und Anfälligkeit für das metabolische Syndrom und Diabetes führt. Anpassung an neue Lebensbedingungen erfolgt also nicht einfach durch zufällige Mutation von Genen, sondern durch Konfiguration und Modulation der Aktivität alter und neuer Gene.
So beruht etwa Zucht von Tierrassen, die innerhalb von einigen Dutzend Generationen völlig andere Phänotypen hervorrufen kann, weniger auf Mutationen in codierenden Genabschnitten als vielmehr auf epigenetischen Einflüssen.
Daher ist es auch möglich, domestizierte Tiere wieder in die Wildform "zurückzuzüchten", weil die meisten oder alle Gene dafür noch in der DNA sind, sie sind nur epigenetisch deaktiviert.
Außerdem kann unser genetisches System auch gezielt Proteine entwickeln, wie unser Immunsystem zeigt. Dabei erzeugt es nicht einfach zufällig beliebige Proteine, sondern hantiert mit bestimmten Bausteinen und fährt clevere Algorithmen,...
...um etwa Antikörper für bestimmte Zwecke zu konstruieren. Wir haben also Labore in unserem Körper, die neue Arten von Zellen züchten können, die wiederum Moleküle produzieren können, für die es gar keine Baupläne in unsere DNA gibt.
Während die DNA also quasi die gemeinsame "Firmware" und "Softwarebibliothek" aller Zellen im Körper ist, ist die "Laufzeitumgebung", also das, was auf RNA-Ebene tatsächlich in den "Arbeitsspeicher geladen" und ausgeführt wird, von dem abhängig, was sich bereits ...
...im Arbeitspeicher befindet und ausgeführt wurde, inbesondere die "Transkriptionsfaktoren". Generell braucht es für den Lesezugriff auf die DNA spezielle "Berechtigungen" und "Adressen", die in den Transkriptionsfaktoren kodiert sind, und wenn die nicht in der Zelle vorhanden..
...sind, kann auch das entsprechende Gen nicht "geladen" werden, um als RNA die zugehörigere Proteinbiosynthese steuern.
Die für mich wichtigste Erkenntnis ist, dass die Evolution eine hochflexible Maschinerie hervorgebracht hat, die nicht nur auf zufällige Mutationen setzt, sondern raffinierte Algorithmen fährt, um sich gezielt anzupassen, Innovationen auszuprobieren oder bei Bedarf "alten"...
...Code reaktivieren kann. All das spielt sich auf Ebene der Zellen ab, und während das Geschehen auf zellularer Ebene schon erheblichen Einfluss auf unser Verhalten hat oder haben kann, ist unsere Verhaltenssteuerung auch sehr weitgehend virtualisiert, seit wir Sprache...
...und Zivilisation erfunden haben. Diese Virtualisierung isoliert unseren Verstand jetzt nicht völlig von den darunterliegenden Schichten, aber gibt dem Menschen extreme Freiheitsgrade, was die Steuerung seines Verhaltens angeht - mehr als jedem anderen Lebewesen.
Leider gibt es Gene, die beeinflussen, wie sehr man zum Schwarz-Weiß- oder Schubladendenken neigt und Ambiguitäten hasst. Bei wem das Gen aktiv ist, der kann trotzdem lernen, mit Ambiguitäten umzugehen, denn unsere Gene befähigen uns dazu, über sie hinaus zu wachsen.

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Es ging mir nicht darum, anzuweifeln, dass der Klimawandel katastrophale Folgen haben wird und wir ihn so weit es geht begrenzen sollten, am besten auf 1,5 Grad, aber meine Erleichterung nach dem Lesen verschiedener IPCC-Studien ist echt, und ich möchte sie konkreter erklären.
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29 Oct
Facebook nennt sich jetzt meta. Und will das Metaversum sein. Oder bauen. Ich bin da mehr als skeptisch, wo die doch bisher mit einer Webseite überfordert waren. Ein Metaversum hat noch niemand vernünftig hinbekommen, obwohl viele es versucht haben, ich auch.
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