Ihr habt das bestimmt schon tausendmal gehört, aber ich erzähl euch mal ein bisschen über die Pandemielage an Universitäten (wobei das zwischen den Städten und den Ländern variiert). [Thread]
Also zunächst ist das Problem, das seit 15 Jahren immer wieder angesprochen wird, nämlich die völlige Überlastung der Massenuniversitäten, die weder die Räumlichkeiten noch das Personal für die großen Studierendenzahlen hatten, nicht einfach weg.
Die sicherste Option auf Präsenzlehre wäre das Anbieten von klein gehaltenen Seminaren. Wie das geklappt hat? Nun, ich gebe dieses Semester gleich zwei Stück, einmal 100, einmal 85 Teilnehmer*innen. Mit beiden bin ich im Hörsaal.
Generell galt zu Beginn des Semesters 3G. Um das zu prüfen, hat die Universität einen Sicherheitsdienst angestellt, der die Eingänge bei zentral verwalteten Gebäuden stichprobenartig kontrolliert. Warum stichprobenartig und nicht flächendeckend? Die Seiteneingänge bleiben frei.
Darüber hinaus deckt der Zeitraum, in dem kontrolliert wird, nicht ansatzweise die Vorlesungszeiten von 08:00 bis 20:00 Uhr ab. Während der letzten zwei Wochen wurde vor meinem Seminar überhaupt nicht kontrolliert. In solchen Fällen tu ich es selbst - was ich aber nicht müsste.
Der Campus hat eine Teststation, vor der seit 3G immer eine ewig lange Schlange steht. Als ich das letzte Mal kontrolliert habe, stand eine Person einfach auf und ging. Ich gehe mal davon aus, dass sie aus Zeit-/Bequemlichkeitsgründen ungetestet war und das keine Seltenheit ist.
Es liegt also letztlich in der Eigenverantwortung von Dozierenden, zu Beginn ihrer Veranstaltungen durch die Reihen zu gehen und 3G durchzusetzen, was mit Verlaub bei einer Seminargröße von 100, auch wenn dann nur 80 da sind, eine kleine Zumutung ist.
Die Studierenden haben Maskenpflicht, solange flächendeckend 3G und ein Mindestabstand von 1,5m nicht gewährleistet sind. Bei mir also immer. Das funktioniert, Kolleg*innen standen aber schon ratlos vor Fällen mit Maskenattest, denen sie die Teilnahme ja nicht untersagen können.
Was passiert jetzt, wenn in meinem Seminar jemand einen positiven PCR-Test hat? Nun, die offizielle Meldekette sieht vor, dass die Person dem Gesundheitsamt alle Veranstaltungen meldet, die sie in den zwei Tagen vor dem positiven Test besucht hat. Das Amt informiert die Uni.
Die Uni informiert die Lehrperson. Wir erfahren nicht, wer erkrankt ist und wo die Person saß. Seminare, die mehr als zwei Tage vor dem Test besucht wurden, werden gar nicht informiert. Nach meinem Stand muss überhaupt niemand in Quarantäne o.ä.
Das ist Datenschutzrechtlich bestimmt richtig und wichtig, sorgt aber eben dafür, dass wir die Sitznachbar*innen nicht informieren können. Mit Glück informieren die Studierenden uns nochmal selbst, à la "Ich saß vorne links". All das führt zu einem wachsenen Unsicherheitsgefühl.
Inzwischen bleiben die ersten Studierenden zu Hause. Insbesondere diejenigen, die pendeln müssen, halten das Fortführen der Präsenz für unverantwortlich. Um mitten im Semester eine Hybridlösung zu konzipieren, fehlen mir Zeit, Energie und Mittel.
Und ich weiß, was ihr euch jetzt fragt: Ja, ich habe absolut die Möglichkeit, einen Wechsel auf Onlinelehre zu beantragen. Einige Kolleg*innen haben das bereits getan. Da geraten wir aber direkt in die nächste Falle: die meisten Veranstaltungen sind nach wie vor in Präsenz.
Um den Studierenden zu ermöglichen, zwischen Präsenz und online zu wechseln, wurden Räume eingerichtet, in denen sie von ihrem jeweiligen Endgerät aus ins Onlineseminar kommen. Diese sind nicht in zentral verwalteten Gebäuden. 3G wird (Stand vorletzte Woche) nicht kontrolliert.
Wenn wir also punktuell zur Onlinelehre übergehen, wird die Situation für uns persönlich sicherer, aber für die Studieren gibt es endgültig keine Möglichkeit der Nachverfolgung mehr.
Diese Situation variiert von Uni zu Uni, von Fach zu Fach. Aktuellste Ansage bei uns ist, dass wir zurück zur Homeoffice-Pflicht gehen werden, die Präsenzlehre aber bestehen bleibt. Für viele Forschenden war die Rückkehr ins Büro im Sommer aber quasi eine Lebensnotwendigkeit.
Meine Kolleg*innen haben Kinder, ich lebe allein und hatte im Homeoffice eine schwere Depression. Dass wir nun unseren strukturierenden Arbeitsplatz aufgeben sollen, dabei aber weiter jede Woche 90 Minuten mit 100 Leuten im Hörsaal stehen, ist schwer zu verarbeiten.
So weit ich es sehen kann, haben die variierenden Probleme der universitären Lehre und Forschung eines gemeinsam: sie sind direkte Folgen bereits vorher bestehender und lange kritisierter Missstände, die uns jetzt um die Ohren fliegen.
Die Ausrichtung auf Wachstum (aka Einschreibquoten), ohne die räumlichen und personalen Kapazitäten - und auch die Kapazitäten der Werwaltung - anzupassen, hat den Universitäten jeglichen Reaktionsspielraum genommen.
Schon vor der Pandemie haben die meisten Leute in Academia Überstunden gemacht, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Ich lese gelegentlich "Müssten nicht gerade die Unis mit ihren gedammelten Kompetenzen...?" und denk mir nur JA LEUTE, MIT WELCHER ZEIT?
Und hier wird auch die Debatte um #IchbinHanna relevant, denn während ich absolut die Möglichkeit gehabt hätte, im Sommer ein eigenes Hybridkonzept zu entwickeln oder mich vorbereitend hochschulpolitisch einzubringen, kickt mich das als Forscherin gnadenlos ins Aus.
Ich konnte im letzten Jahr direkt dabei zusehen, an welchen Stellen die nötigen Maßnahmen nicht ergriffen, die Vorbereitungen nicht getroffen wurden, und der Grund war nie Blindheit, Dummheit oder Nachlässigkeit, sondern immer, dass es einfach keine Kapazitäten mehr gab.
Die moderne Universität wird ohne Spielräume geplant und finanziert. Alles ist auf die erwarteten Betreuungs- und Verwaltungsaufgaben ausgerichtet - oder knapp darunter. In einem solchen System, das zwei Jahre im Voraus kalkuliert sein muss, sind Sondersituationen nicht drin.
Um noch eine positive Sache dazulassen: Die Studierenden sind der Hammer. Kooperativ, kompromissbereit, hilfsbereit, das alles trotz der Tatsache, dass sie seit bald zwei Jahren mit allem alleingelassen werden. Sie sind die größten Leidtragenden in dieser Angelegenheit.
Unsere Studierenden haben sich im letzten Jahr massiv für Präsenzlehre unter sicheren Bedingungen eingesetzt und konkrete Vorschläge zur Umsetzung gemacht. Sie wurden von der Politik nicht gehört und wir konnten wenig helfen. Es ist bitter.
Drei Nachträge.

Erstens: ich entschuldige mich nicht mehr für Tippfehler. Sie sind beredte Denkmäler meiner allumfassenden Müdigkeit. Danke, dass ihr den Thread trotzdem geteilt habt.
Zweitens:
Ich hab das überlegt, aber fühle mich nicht wohl damit, die Studierenden in eine Situation gegenseitiger Kontrolle zu bringen. Das schließt Strukturen ein, die ich wiederum nicht kontrollieren kann.
Drittens:
Dafür brauche ich einen Laptop, eine Kamera und stabiles Internet im Hörsaal. Alles drei ist an kleineren/schlechter finanzierten Unis nicht gewährleistet, wo insbesondere die Geisteswissenschaften jetzt gerade erst technisch Aufrüsten.
Ich möchte aber auch daran erinnern, dass sich diskussions- und lektüreintensive Seminare, wie wir sie unseren Studierenden in den Geisteswissenschaften m.E. schulden, insbesondere bei großer Teilnehmer*innenzahl ohne Kamerateam kaum übertragbar sind.

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Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber: ich bin im Frühjahr von Twitter weg, als gerade Delta kam, und jetzt bin ich wieder hier und ihr macht genau die gleichen Witze. Es fühlt sich an, als hätte ich nen Film pausiert.
Um meine Diskursbeiträge der letzten 9 Monate nachzureichen:

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Wahlkampf: schlimm
Ampel: schlimm
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EU-Außengrenzen: beschämend
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