Erschreckend viele Klicks bekommt derzeit eine Pressekonferenz über COVID von Andreas Sönnichsen und der FPÖ. Die Aussagen darin sind nicht nur irreführend, es werden sogar mehrere Irreführungen ineinander verschachtelt. Es ist interessant, sich das näher anzusehen (Thread)
Das Originalvideo will ich hier nicht verlinken, man findet es aber leicht auf Youtube. Sönnichsen argumentiert darin gegen die Impfung, weil die in manchen Fällen Myokarditis (Herzmuskelentzündung) auslösen kann. Er bezieht sich dabei auf ein Paper aus nature medicine.
Interessant: Das Paper (nature.com/articles/s4159…) sagt das Gegenteil von dem aus, was Sönnichsen behauptet. Das Myokarditis-Risiko ist nach der Impfung deutlich GERINGER als nach einer COVID-Infektion. Das bestreitet auch Sönnichsen nicht (!). Aber er verdreht das einfach.
Er sagt: Es wurden mehr Leute geimpft als an COVID erkrankt sind. Und wenn man das berücksichtigt, dann ist der Gesamtschaden der Impfung insgesamt größer. Seine Querdenker-Fans applaudieren. Doch das ist aus mehreren Gründen Unsinn.
Zunächst: Natürlich ist das relative Risiko entscheidend - Fälle pro hunderttausend Personen, nicht Fälle insgesamt. Nur danach kann ich mich als Einzelperson richten, wenn ich entscheide, ob ich mich impfen lassen soll oder nicht.
Nach Sönnichsens Argument wäre es auch besser, in einen Pool mit hungrigen Haien zu springen als eine Straße zu überqueren. Die Todeswahrscheinlichkeit ist zwar im Haibecken größer, aber weil viel mehr Leute Straßen überqueren, richtet das mehr Schaden an als Haifischbecken.
Ja ok- das kann ich aber nicht als Basis meiner persönlichen Entscheidung nehmen. Außerdem ist klar: Wer nicht geimpft ist, wird früher oder später infiziert. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion geht für Ungeimpfte irgendwann gegen 100%. Damit ist sein Argument bereits kaputt.
Also: Sönnichsen nimmt ein Paper und interpretiert die Zahlen so, dass genau das Gegenteil von dem herauskommt, was die Autoren des Papers sagen. Aber damit nicht genug: Auch das gelingt ihm nur durch unwissenschaftlich selektiven Umgang mit Zahlen:
Er nimmt nur die Moderna-Zahlen (die sind in diesem Paper besonders hoch), den Rest ignoriert er völlig. Damit würde man bei jedem Uni-Seminar nach Hause geschickt, das geht gar nicht. Wie Sönnichsen, der immerhin an einer Uni gearbeitet hat, das über sich bringt, ist mir unklar.
Weiter geht's. Nächster Fehler: Er ignoriert völlig, welche Folgen die Myokarditis hat. Laut einem anderen Paper, ebenfalls kürzlich in nature medicine erschienen, verläuft Myokarditis nach einer Impfung nämlich meist sehr glimpflich: nature.com/articles/s4156…
Diese Tabelle sagt eigentlich alles: Ja, es gibt (selten) Myokarditis nach Impfung - fast immer problemlos. Es gibt viel häufiger Myokarditis nach COVID-Infektion - viel, viel gefährlicher! Schon wieder ein Punkt, an dem man sagen kann: Sönnichsen ist völlig widerlegt.
Aber auch damit nicht genug. Der allergrößte Unsinn, den eigentlich jeder sofort erkennen sollte, ist ein anderer: COVID ist eine Lungenerkrankung - Myokarditis eine Herzerkrankung! Myokarditis ist NICHT der Grund, warum COVID gefährlich ist, sondern nur ein Zusatzproblem!
Sönnichsen vergleicht also das Hauptproblem der Impfung mit einem Nebenthema bei der Erkrankung. Dass die Impfung selbst bei diesem Vergleich noch gut abschneidet (auch wenn Sönnichsen das verdreht) spricht sehr FÜR die Impfung. Aber es ist ein völlig falscher Vergleich.
In Wahrheit müsste man natürlich alle potenziell schädlichen Impf-Auswirkungen mit allen potenziell schädlichen COVID-Auswirkungen vergleichen. Und da gewinnt die Impfung natürlich mit gewaltigem Abstand - gar keine Frage.
Bei COVID nur das Myokarditis-Risiko zu berücksichtigen ist wie über die Gefahr bei Fallschirmsprüngen mit kaputtem Fallschirm zu reden, und nur zu analysieren, dass man dabei ins Wasser fallen und ertrinken könnte. Ja, ist möglich. Aber das Problem ist meist eher der Aufprall.
Und das ist für mich wirklich nicht verständlich: Nach 2 Jahren COVID wissen wir doch, dass es sich um eine Lungenkrankheit handelt. Und Sönnichsen geht darauf mit keinem Wort ein?
Man könnte natürlich viele andere Aussagen aus Sönnichsens Pressekonferenz zerpflücken, aber dafür ist die Zeit zu schade. Klar ist: Er wählt Daten selektiv aus, verdreht sie, zieht aus ihnen Schlüsse, die das Gegenteil dessen sind, was die Autoren der Studien selbst sagen.
So etwas darf nicht passieren. Es ist der Medizinischen Uni Wien, an der Sönnichsen arbeitete, hoch anzurechnen, dass sie sich klar distanziert hat. Wie Sönnichsen mit diesem Umgang mit Studien und Fakten je an eine solche Position kommen konnte, ist mir persönlich ein Rätsel.
Fest steht: Ja, es gibt Myokarditis-Fälle im Zusammenhang mit Impfungen. Das soll man auch nicht schönreden. Aber sie sind selten, fast immer mild und insgesamt SINKT das Myokarditis-Risiko durch die Impfung, weil man damit das Risiko einer COVID-Erkrankung senkt. Geht boostern!

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