Interessantes Cable vom amerikanischen Botschafter Burns in Moskau von 2008 zur Ukraine-Situation. Es mutet geradezu prophetisch an, und alles, was damals befürchtet wurde, ist eingetreten: wikileaks.org/plusd/cables/0…
Der Kernpunkt ist, dass Georgien und die Ukraine die NATO-Mitgliedschaft nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zu engen Beziehungen zu Russland gesehen haben und quasi unter dem Schutzmantel der NATO Russland den Stinkefinger zeigen wollten.
Russland hatte also weniger Probleme mit einer NATO-Mitgliedschaft der Länder an sich, sondern wie sich diese auf die dato engen Beziehungen mit Russland auswirken würde, und Russland hat Recht behalten mit seinen Befürchtungen.
Zur Wahrheit gehört auch, dass in der Ukraine seit 2014 Krieg herrscht und Ultranationalisten die abtrünnigen Gebiete fast täglich beschossen und jedes Jahr hunderte Menschen getötet haben, ohne, dass die Zentralregierung in Kiew dem Einhalt geboten hätte.
Das mag wie victim-blaming klingen, und es rechtfertigt auch keine Invasion, aber das Cable macht klar, dass es sich bei der russischen Invasion nicht um eine Macho-Aktion von Putin handelt, sondern sie bisheriger Höhepunkt eines Konflikts ist, der seit über 15 Jahren schwelt.
Oder mit anderen Worten: Die Invasion kam quasi mit 15 Jahren Ansage, und seit 2014 bzw. seit Minsk II in 2015 ist nie Ruhe eingekehrt in der Ostukraine.
Es ist unklar, welche Seite wie häufig gegen den Waffenstillstand verstoßen hat, aber Fakt ist, dass es seit 2014 keinen Tag Frieden gab in der Region. Mangels genauerer Fakten kann man folgende Spekulationen anstellen:
a) Die russischstämmigen Separatisten haben durch bewaffnete Provokationen den Konflikt acht Jahre am Kochen gehalten, um Putin jederzeit einen Vorwand für einen Einmarsch zu geben
b) Ukrainische Ultranationalisten und Vertriebene haben sich darum bemüht, den Leuten in den abtrünnigen Provinzen den Sieg zu versauern und sie mit Artillerie, Scharfschützen und Killerkommandos terrorisiert
Wahrscheinlich trifft beides zu. Im August 2014 hatte die ukrainische Armee Luhansk eingekreist und mit Artillerie beschossen, nachdem sich die Provinz in einem illegalen Referendum im Mai für unabhängig erklärt hatte.
Durch Intervention russischer Truppen wurden die ukrainische Armee vertrieben und auf dem Rückzug in der Schlacht um Ilovaisk massakriert, nachdem es zu Unstimmigkeiten über die Bedingungen eines freien Abzugs gekommen war, den Putin angeregt hatte.
Der Tag des Massakers wurde zu einem Nationalfeiertag in der Ukraine erklärt, um die rund 1000 Gefallenen zu ehren und um diese "Schandtat" im Bewusstsein der Ukrainer zu halten und Hass auf die Russen zu schüren und lebendig zu halten.
Die aktuelle Eskalation ist insofern ein Wendepunkt, als das erstmals russische Truppen offiziell in Erscheinung treten; bis dahin waren sie quasi als "Freischärler" der abtrünnigen Provinzen unterwegs, mit abgeklebten russischen Hoheitszeichen.
Was die Intensität der Kämpfe und die Zahl der Toten angeht, haben die Kämpfe bisher noch nicht die Intensität von 2014 erreicht, aber könnten sie in Kürze weit übertreffen.
Ansonsten war damals die ukrainische Armee eher schlecht geführt, hat massive Fehler gemacht und u.a. Luhansk mit 500.000 Einwohnern heftigst mit Artillerie beschossen, mit 36-100 zivilen Opfern und 350-500 toten Separatisten, davon 150 russische Soldaten.
Auf Seiten der ukrainischen Armee wird von 366-1000+ Toten ausgegangen, alles über einen Zeitraum von knapp 4 Wochen, die diese Operation im Donbass angedauert hat.
Mitte Februar 2015 kam es dann zu Minsk II, woraufhin die Rebellen gleich erst mal den Kampf um Debalzewe anzettelten, mit über 300 Toten, die meisten davon auf ukrainischer Seite.
Im Kampf um Schyrokyne vom 10. Februar bis Juli 2015, der von der Ukraine angezettelt wurde, starben noch 150-1000 Menschen. Seitdem gab es wohl vor allem kleinere Scharmützel, bei denen jährlich 50 bis einige hundert Menschen starben.
Offensichtlich ist dem Westen entgangen, dass in der Ukraine seit 2014 Krieg herrscht, der mit dem russischen Überfall in eine neue Phase getreten ist. Eigentlich gab es seit Minsk II 7(!) Jahre Zeit, das Blutvergießen zu beenden, ...
...aber ein paar hundert Tote jedes Jahr waren die Mühe wohl nicht wert.
Was jetzt die "Schuldfrage" betrifft, bin ich in der Regel geneigt, bei Konflikten dem Stärkeren mehr Schuld für das Fortbestehen eines Konflikts geben. Im Verhältnis Ukraine-Russland wäre also Russland Schuld, im Verhältnis NATO-Russland also eher die NATO.
Das mag etwas simplizistisch sein, aber wenn sagen wir ein zehnjähriges Kind einem Erwachsenen gegen das Schienbein tritt und der dem Kind dann die Nase bricht, kann man auch nicht sagen, das Kind ist Schuld an seiner gebrochenen Nase, es hat schließlich angefangen.
Aus dem Cable jedenfalls wird klar, dass die Situation seit 15 Jahren verstanden ist und Russland klare Ansagen gemacht hat, was passieren wird, nämlich, dass die Ukraine, ermutigt durch die NATO, den Russen den Stinkefinger zeigen wird und das Russland das nicht mitmachen wird.
Rechtfertigt das jetzt den russischen Überfall? Sicher nicht. Aber für mich gibt es eine klare Mitverantwortung der NATO und des Westens, der wusste, was passieren wird und die Feuer neben dem Tanklager, die er mit angezündet hat, einfach jahrelang hat brennen lassen.
Dass eine blühende Demokratie in der Ukraine Putins autoritäres System untergraben könnte, halte ich für Phantasie. Genug Russen wissen, wie es im Westen aussieht und läuft; gerade die Älteren aber wollen kein anderes System und denken eher wie Putin. Damit müssen wir umgehen.
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Fortsetzung: Ich bin seit 15 Jahren da raus, aber es scheint seitdem eher schlimmer geworden zu sein im BMV, und mir graut davor, dass dieses Ministerium, dass mit 50 Mrd. Etat im Jahr nicht ein mal den Eindruck von einsatzfähigem Militär zu erwecken schafft,…
…jetzt weiter mit Geld aufgepumpt werden soll. Meine These ist, dass selbst, wenn man auf 100 Mrd. Rüstungsetat aufstocken würde, wir kein brauchbares Militär dafür bekämen mit diesem Verteidigungsministerium. Man braucht doch bloss die Verlautbarungen der letzten Tage hören,…
…um zu merken, dass die Leute im BMV mehr übereinander als miteinander reden. Wenn es nach mir ginge, würde ich das gesamte BMV auflösen und komplett neu gründen und alle Seilschaften im BMV zerschlagen, denn wir kippen sonst nur Geld in eine hoch dysfunktionale Struktur.
Nichts und niemand hält übrigens andere Länder, auch NATO-Länder, davon ab, der Ukraine auch militärisch zu helfen, also etwa russische Flugzeuge über der Ukraine abzuschiessen oder russische Bodentruppen zu bombardieren oder gar Bodentruppen zu schicken.
Es wäre ja nicht so, dass das rechtlich gesehen ein Angriff auf Russland oder eine Provokation wäre, denn russische Truppen haben in der Ukraine nichts zu suchen, und die ukrainische Regierung kann jeden zum Bombardieren von Russen auf ihrem Staatsgebiet einladen und ermächtigen.
Ich sage nicht, dass das zum jetzigen Zeitpunkt eine gute Idee wäre, aber es ist eine Option, die jedes Land einseitig hat. Wäre es ein NATO-Land, das interveniert, wären die anderen NATO-Länder nicht verpflichtet, zu helfen, aber …
Ich fürchte, die Ukrainekrise ist erst am Anfang und wird eskalieren. Putin hat sich in mehrfacher Hinsicht verrechnet. Zum einen wird es nicht so schnell und nicht so leicht, die militärischen Ziele zu erreichen, er liegt bereits jetzt im Zeitplan zurück.
Zum anderen hat er die Reaktion der Menschen in aller Welt unterschätzt, auch der eigenen Bevölkerung, aber vor allem werden Bürger in der freien Welt von ihren Regierungen mehr Aktion fordern, als diese (noch) bereit sind, zu zeigen.
Putin hat seine Truppen vor ein praktisch unlösbares Problem gestellt: Zum einen sollen sie die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur schonen, zum anderen Seite sollen sie die Hauptstadt und andere Bevölkerungszentren unter Kontrolle bringen und nur die "Nazis" töten.
Die Bilder aus der Ukraine heute sind erschütternd; noch nie war Krieg aus solcher Nähe und in seiner furchtbaren Brutalität und Banalität zu sehen. Das Fernsehen zeigt zwar die schlimmen Bilder nicht, aber auf Twitter findet sich inzwischen einiges.
Ich glaube, dass Putin sein Blatt überreizt hat, und die Drohungen an Schweden und Finnland interpretiere ich als Angst. Putin hat jetzt schon mehr verloren, als er militärisch in der Ukraine gewinnen kann.
Die schrecklichen Bilder sprechen nämlich eine klare Sprache, und was auch immer Putin oder Russland an Verständnis oder Sympathie für seine Situation hatte, mit dem brutalen Morden in der Ukraine hat Russland alles verspielt.
Eine schöne Verschwörungserzählung wäre, wie IM Erika als russischer Sleeper an die Spitze der deutschen Regierung gelangt ist, den Ausbau von Wind und Sonne zurückgefahren, Atomkraftwerke abgeschaltet, die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr kaputtgespart hat.
Während Schröder dafür gesorgt hat, dass Gas und Öl und Kohle aus Russland ungestört zu uns fließen können, hat Merkel dafür gesorgt, die Alternativen zu sabotieren so gut es geht.
Findet ihr es nicht auch verdächtig, wenn jemand gegen Atomkraft *und* gegen erneuerbare Energien arbeitet, so wie Merkel? Das macht nur Sinn, wenn jemand fossile Energieträger pushen möchte, deren größter Lieferant Russland ist.
Die steigenden Ölpreise werfen die Frage auf, ob Russland zumindest kurzfristig seine Einnahmen aus Ölexporten nennenswert steigern könnte; ebenso bei energieintensiven Rohstoffen wie Aluminium, wenn dem nicht mit Sanktionen begegnet wird, und auch Gold hat Russland viel.
Nicht, dass Russland angegriffen hätte, um den Ölpreis und andere Rohstoffpreise in die Höhe zu treiben und die westlichen Aktienmärkte zu treffen, aber es scheint zumindest ein Nebeneffekt zu sein, der für Russland sogar vorteilhaft ist.
Des weiteren ist noch immer unklar, wie viele Soldaten und Gerät sich auf ukrainischem Boden befinden und welchen Umfang die Kämpfe tatsächlich haben und was eigentlich genau das militärische Ziel ist.