Pavel Mayer Profile picture
Mar 19 25 tweets 4 min read
"Es ist billiger in Syrien zu kämpfen als in Russland Wehrübungen abzuhalten." Angeblich soll das ein russischer General gesagt haben. () Passt zu dieser Meldung. Alles Propaganda oder trotzdem war? bbc.com/news/world-eur…
Ich bin geneigt, dem Glauben zu schenken; also, dass ein russischer General das gesagt haben könnte, und dass die russische Militärführung Syrien als willkommene Trainingsgelegenheit gesehen und genutzt und in dem Zug auch militärische Operationen durchgeführt hat,...
...bei denen der Trainingsaspekt entscheidenden Einfluss auf die Operationsplanung hatte und es so etwa zu exzessivem Einsatz schwerer Waffen kam, was wiederum zu vielen zivilen Opfern führte.
Der BBC-Artikel endet mit einem Nazi-Vergleich durch den russischen Verteidigungsministers Shoigu: Britische Truppen hätten angeblich bei Wehrübungen russische Uniformen und Panzer als feindliche Macht verwendet, und das hätten zuletzt die Nazis getan.
Ich glaube, der Welt hätte mehr auf Syrien schauen müssen, und was Russland da treibt. Ich frage mich, warum ich den Blick von Syrien und dem Krieg dort abgewendet habe. Ein bisschen ehtnozentristische Aufmerksamkeitsverzerrung war vielleicht auch dabei, aber...
...in meinem Fall eher umgekehrt, weil einige syrische Familien seit 50 Jahren familiär so eng mit meiner Familie verbunden sind, dass sie bei allen Festen und Geburtstagen dabei waren, und weil andere Exiltschechen und Schulfreunde meiner Eltern in syrische Partner...
...geheiratet hatten, und wegen der slawischen Skepsis gegenüber dem Konzept von Privatsphäre war ich stets im Groben über alle wichtigen, insbesondere tragischen Ereignisse in den syrischen-tschechischen Familien im deutschen Exil und zu Hause informiert.
Da ich viele der Leute, um die es ging, seit dem Alter von 6 Jahren kannte, waren viele wie Familie, die gleichaltrigen Kinder waren fast wie Cousins oder Cousinen, deren Kinder später wie entfernte Nichten oder Neffen.
Bis heute am meisten getroffen hat mich der Tod zweier Quasi-Cousins, Schwestern, die in meinem Alter waren und Mitte 25 im Abstand von einem Jahr an einer Überdosis Heroin starben. Dagegen war dann die erfolgreiche Flucht von Teilen der Familie nach Deutschland "good news".
Einige von ihnen wollten sich nach einem Berufsleben in Deutschland in Damaskus zur Ruhe setzen und kauften Wohnungen, die nun zum Teil in Schutt und Asche lagen. Die Kinder waren alle aus ihren syrischen Schulen gerissen worden und kamen in deutsche Schulen.
Darunter ein Mädchen ein Jahr vor ihrem Abitur, die in einem Jahr nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch den deutschen Abiturstoff meisterte und dafür auch noch erhebliche Probleme mit deutscher Bildungsbürokratie überwinden musste.
Ich fand das einerseits unglaublich bewundernswert, aber fragte mich auch, unter welchem familiären Druck sie vielleicht stand. Diese Erinnerungen kommen jetzt wieder hoch. Syrien und die Geschehnisse dort und die Folgen für die Geflüchteten hatten also meine Aufmerksamkeit.
Irgendwann habe ich mich aber meine Aufmerksamkeit abgewandt von Syrien, wie zuvor vom Irak und von Afghanistan, und auch von der Ukraine. Ich frage mich, warum, und ich glaube, dass es einfach zu schmerzvoll wurde und ich jede Hoffnung auf einen positiven Ausgang verloren hatte.
Es waren klassische "lost causes" geworden, hoffnungslose Fälle. Die Zerstörung so groß, die gesellschaftlichen Wunden so tief, Korruption, Gewalt, Krieg. Ein normaler Akt der mentalen Hygiene, dass ich mich abgewendet habe.
Oder anders herum gesagt: Ich kann nur ein begrenztes Maß an Elend an mich heranlassen. Ich ergötze mich nicht an meinem Leid, und Mitleid ist im Kopf und Körper wie eigenes Leid verdrahtet.
Nach einer gewissen Zeit und Menge an konstantem Leid oder Mitleid setzt Verzweifelung ein - der Zweifel geht verloren, die Hoffnung, dass es sich bessern könnte. Hoffnungslosigkeit. Der Ausweg ist Resignation.
Man kann auf zwei verschiedene Arten resignieren. Entweder man schneidet sich von der Information ab, kappt also Informationsquellen und richtet die Aufmerksamkeit anderswohin, man nimmt es gar nicht zur Kenntnis; lenkt sich ab, schaut weg.
Die andere Form der Resignation ist, wenn man die Information zur Kenntnis nimmt, aber die emotionale Reaktion darauf herunter reguliert. Man weiß es, aber es ist einem egal. Man tut nichts dagegen. Das Gefühl ist Ohnmacht.
Wenn man auf beide Arten resigniert, kann man das doppelte Resignation nennen. Man schaut weg, und wenn doch etwas durch kommt, bleibt man kühl und tut nichts.
Ich sehe ehrlich gesagt in vielen Fällen gar keine Alternative zur Resignation, und ich frage mich, ob es am besten ist, auf eine, die andere oder beide Arten zu resignieren, wenn Resignation einsetzt.
Ich wollte eigentlich nicht die Sorge wecken, dass wir auch wegen der Ukraine bald wieder resignieren könnten, wenn wir einem konstanten Strom von Leid ausgesetzt sind, aber wenn ich mir das durch den Kopf gehen lasse, sollten wir uns Sorgen machen.
Wenn der Krieg sich Monate bis Jahre hinzieht, besteht nicht nur die Gefahr, dass wir resignieren, die meisten von uns *werden* resignieren, es sei denn, wir schaffen es, unsere Hoffnung aufrecht zu erhalten. Die Ukrainer es schaffen, unsere Hoffnung aufrecht zu halten.
Der Krieg in der Ukraine ist auch Krieg um unsere Köpfe. Niemand ist immun gegen die mediale Manipulation. Man kann jetzt zensieren, oder man kann Resistenz aufbauen, aber ein freies Internet und ein freier Zugang zu Information...
...gehört zu einer offenen Gesellschaft. Allerdings: Zensur und Unterdrückung von toxischen Informationen, um die Menschen vor geistiger Korruption durch Informationsangriffe abzuschirmen, klingt wie totalitärer Alptraum, ist aber objektiv unverzichtbar.
Nur verlassen sollte man sich darauf nicht, dass einen die Zensur schützt. Aber Bismarck gibt Hoffnung: „Ein Gedanke, der richtig ist, kann auf die Dauer nicht niedergelogen werden.“ Und "Lügen können Kriege in Bewegung setzen, Wahrheit hingegen kann ganze Armeen aufhalten."

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Pavel Mayer

Pavel Mayer Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @pavel23

Mar 21
Wenn ihr Zweifel haben solltet, dass Putin und Russland vielleicht doch Recht haben könnte mit seinen Gründen, und dass die Ukraine und Westen auch schuld sind, und wir die Ukraine jetzt in einen blutigen Kampf hineintreiben, sollte sich Folgendes durch den Kopf gehen lassen.
Beide Seiten lügen im Krieg, mindestens durch Weglassen, aber wer kommt mit weniger Lügen aus? Wer lässt ein größeres Meinungsspektrum zu, und wer verbietet bei Gefängnisstrafe, von einem Krieg zu reden?
Wo herrscht mehr und wo herrscht weniger Korruption? Wo wird Kreativität und Vielfalt gefördert, wo wird sie unterdrückt? Nur, weil der Westen und die USA alles andere als perfekt sind, ja bisweilen auch barbarisch und kriminell, unter welchem System würdet ihr lieber leben?
Read 25 tweets
Mar 19
Nachdem der vorige Thread mit dem für Putin bestmöglichen Szenario endete, das ich mir vorstellen kann, nun ein Hirngespinst über das bestmögliche für "uns", die NATO und den Großteil der Welt, einschließlich Russland.
Bis zu diesem Punkt verläuft die Entwicklung noch parallel; Ich kann mir bis da hin keinen anderen Verlauf plausiblen Verlauf vorstellen, der nicht irgend ein völlig überraschendes, unvorhersehbares Ereignis enthält und alles auf den Kopf stellt, ...
...wie Szelenskiys Auftritt in den ersten Kriegstagen. :-)
Inzwischen gibt es aber viele Dinge, die geschehen sind, viele Köpfe auf der ganzen Welt haben darüber nachgedacht, ihre Expertise, Meinung und Erwartungen geäußert, und bekannte Fakten sind in einem neuen Licht...
Read 24 tweets
Mar 19
Zum Schluss noch ein paar phantasievolle Überlegungen, wie es weitergehen kann und was die NATO tun und lassen sollte. Es schließt an diesen Thread an:
Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass die NATO alles lassen sollte, das dazu führt, dass NATO und Russland in der Luft oder auf See direkt aufeinander schießen, und insbesondere keine NATO-Truppenverbände in die Ukraine zu schicken. Das wäre ein Geschenk an Putin.
Das muss aber nicht für alle Zeit gelten; die Situation kann sich dahingehend ändern, dass das notwendig wird oder keinen Unterschied mehr macht. Es könnte auch zu Situationen kommen, in der es sinnvoll sein kann, den Einsatz von NATO-Truppen gegen Russland anzudrohen, ...
Read 26 tweets
Mar 18
Im dritten Thread mit Schwerpunkt "Militärluftfahrt" über der Ukraine und No-Fly-Zone geht es um politische Fragen. Er schließt an diesen Thread an:
Wenn die NATO wie im ersten Thread beschrieben professionell die Bedrohung aus der Luft unterbinden würde, würde Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit taktische Atomwaffen einsetzen, aus der Vielzahl geschilderter Gründe.
Aktuell haben wir die Situation, dass die Welt sich so einig wie nie ist, dass Russland klar der Aggressor ist, und NATO und EU selten geschlossen sind, und in den USA arbeiten sogar Demokraten und Republikaner zusammen wie auch seit Ewigkeiten nicht mehr.
Read 24 tweets
Mar 18
Dies hier ist die Fortsetzung eines Threads zum Thema No-fly-zone, wo primär die militärischen Aspekte von Luftoperationen beleuchte werden: Für die Gesamteinschätzung ist aber noch ein Blick auf die Situation am Boden wichtig, und die Rolle von Drohnen.
Die meisten Schäden und Opfer werden derzeit wohl durch durch Artilleriebeschuss hervorgerufen, weil die russische Luftwaffe nicht die Lufthoheit hat, und nicht einmal die Luftüberlegenheit, wie Russland behauptet.
Die medial spektakulären Zerstörungen im Landesinnern und in Innenstädten dagegen werden oft von Marschflugkörpern verursacht, die aus dem Russischen oder Weißrussischen Luftraum von strategischen Bombern gestartet werden.
Read 25 tweets
Mar 18
Ein guter Artikel von einem Experten für Militärluftfahrt, Justin Bronk, Royal United Services Institute Research Fellow, Airpower & Technology.

Er argumentiert überzeugend, warum eine no-fly-zone keine gute Idee ist und eher Putin nützen würde.

rusi.org/explore-our-re…
Hier Bronk über seinen Artikel im Gespräch mit Ward Carroll, einem F14 Radar Intercept Officer (RIO) mit 20 Jahren Einsatzerfahrung auf US-Flugzeugträgern, Buchautor und Redakteur u.a. von military.com
Die beiden bestätigen meine bisherige Skepsis gegenüber einer eine No-Fly-Zone sowie die allgemeine Einschätzung von @timpritlove und mir über die militärische Situation, aber mit vielen Details und tiefer Sachkenntnis und zusätzlichen Informationen. Hier die wesentlichen Punkte.
Read 26 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Don't want to be a Premium member but still want to support us?

Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal

Or Donate anonymously using crypto!

Ethereum

0xfe58350B80634f60Fa6Dc149a72b4DFbc17D341E copy

Bitcoin

3ATGMxNzCUFzxpMCHL5sWSt4DVtS8UqXpi copy

Thank you for your support!

Follow Us on Twitter!

:(