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Mar 21 25 tweets 4 min read
Wenn ihr Zweifel haben solltet, dass Putin und Russland vielleicht doch Recht haben könnte mit seinen Gründen, und dass die Ukraine und Westen auch schuld sind, und wir die Ukraine jetzt in einen blutigen Kampf hineintreiben, sollte sich Folgendes durch den Kopf gehen lassen.
Beide Seiten lügen im Krieg, mindestens durch Weglassen, aber wer kommt mit weniger Lügen aus? Wer lässt ein größeres Meinungsspektrum zu, und wer verbietet bei Gefängnisstrafe, von einem Krieg zu reden?
Wo herrscht mehr und wo herrscht weniger Korruption? Wo wird Kreativität und Vielfalt gefördert, wo wird sie unterdrückt? Nur, weil der Westen und die USA alles andere als perfekt sind, ja bisweilen auch barbarisch und kriminell, unter welchem System würdet ihr lieber leben?
Wo glaubt ihr, vor Gericht eher Recht zu bekommen? Wo glaubt ihr, is die Gefahr willkürlicher Polizeiakte größer? Und wer waren die Leute, die Opfer von Giftanschlägen geworden sind? Auf welcher Seite standen sie?
Nein, das Problem ist nicht, dass wir zu wenig auf Russlands Interessen und Putins Befürchtungen Rücksicht genommen haben - wir haben viel zu viel Rücksicht, Toleranz und Verständnis gehegt, während Putin mordend durch die Welt zog - seit 22 Jahren.
Es ist nicht so, dass Putin sich verändert hätte oder der Westen ihn zu etwas getrieben hat. Er war schon immer so, und wollte schon immer Russland vergrößern, und war in der Wahl seiner Mittel nie zimperlich.
Putin-Russland ist nicht entwicklungsfähig. Und frag mal die Oligarchen und ihre Kinder, wo sie lieber zur Schule gehen und leben wollen? In Russland oder im faschistischen Westen? Und wo die ganzen schönen Dinge herkommen, mit denen sie sich umgeben?
Russland ist einfach ein Land wie viele auf dieser Welt, wo die Zivilisation an vielen Stellen unterentwickelter ist als bei uns. Wo mehr geraucht und gesoffen wird. Leute nicht so alt werden. Korruption fester Teil des Apparats und der Kultur ist.
Hierarchien viel ausgeprägter sind. Der Schwächere dem Stärkeren mehr ausgeliefert ist, weil Polizei und Rechtssystem korrupter sind.
Und wo der Staat viel schwächer und rückständiger ist und seine Entscheidungen nur schlecht erklären und legitimieren kann, weil er kaum Prozesse beherrscht, um Kritik und Wünsche konstruktiv in Entscheidungen einzubeziehen.
Bei allen Unzulänglichkeiten unseres politischen Systems: Nur wer wirklich einmal in der Politik war, hat eine ungefähre Vorstellung davon, wie komplex unsere Gesellschaft und unser politisches System sind. Übermenschlich komplex.
Dass manche Gesellschaften keine Demokratie haben, liegt nicht daran, dass sie Demokratie nicht wollen, sondern nicht können. Es fehlen die Voraussetzungen. Die erforderliche Bildung etwa. Das Verhältnis von Konflikten zur Kompetenz in friedlicher Konfliktlösung.
Verteilung von Macht und Vermögen. Kompetente, halbwegs integre Juristen. Wenn es irgendwo oder gar an vielen Stellen massiv an den Grundlagen mangelt, muss sich ein Land erst entwickeln, bevor eine voll funktionsfähige Demokratie entsteht.
Die USA mit ihrer "flawed Democracy" sind nicht der Leuchtturm der Demokratie; das sind die skandinawischen Länder, aber es reicht ja völlig aus, wenn sich ein Land in die richtige Richtung bewegt. Wer immer gleich spontane Selbstdemokratisierung fordert oder erwartet, ...
...wie es scheinbar in vielen Ländern des Ostblocks erfolgte, unterschätzt, wie viel Hilfe, Motivation und strukturelle Vorgaben, Regeln und Institution von der EU übernommen wurden. Außerdem lagen die meisten Ostblockländer kulturell nur 20-40 Jahre zurück,
...während Russland viele politische und gesellschaftliche Innovationen des 19. Jh. noch nicht verinnerlicht hat, wie etwa das Konzept von Privatsphäre.
Wem das jetzt kulturchauvinistisch klingt, kann ja nach drüben gehen. Oder erst mal den Thread noch mal von vorne lesen. Es geht mir bei Kultur auch nicht um die feinen Künste, Ballet, Literatur, Musik oder um Wissenschaft, ...
...sondern um eine Organisation von Staat und Gesellschaft, die dem einzelnen mehr autonome Selbstentfaltung ermöglicht, mehr Fehler erkennt und korrigiert, weniger Kontroll- und Erzwingungskosten und weniger Fehlallokation von Ressourcen hat.
Für jeden halbwegs klaren Menschen fällt der Systemvergleich eindeutig aus, und Putin hätte Russland einfach nach seiner Machtergreifung nur wieder langsam öffnen müssen, aber seine Stärke ist nur gespielt.
Hätte Putin wahre innere Stärke und Vertrauen in seine eigene Vision, müsste er nicht so tyrannisch regieren, wie er es tut, und würde sich nicht so fürchten, wie er es tut.
Wir sind stärker, glaube ich, weil unsere Ideen stärker sind und daher unsere Extraktionssysteme mehr extrahieren, unsere Prozesse besser prozessieren, unsere Verteilungssysteme mehr verteilen.
Es geht daher gerade auch nicht um NATO oder Russland, und nicht einmal einen Zivilisationskrieg; es geht um die Frage, ob Krieg an sich im Jahre 2022 noch etwas ist oder sein kann, womit sich Interessen durchsetzen lassen.
Die USA haben vielleicht die Lektion schon gemerkt, dass "Regime Change" etwas sehr Unvorhersehbares ist und dass militärische Invasionen ungewinnbar geworden sind, weil die Welt zu komplex und zu sehr voneinander abhängig ist.
Russland hat sich viel von den USA abgeschaut, aber vor allem die falschen Dinge, glaube ich. In der Ukraine geht es um die Frage, ob die Lehre aus diesem Krieg sein soll, dass Krieg sich lohnt, oder dass Krieg ungewinnbar und unbezahlbar geworden ist. Auch das ist nichts Neues.
Der Krieg ist für uns also ein Krieg gegen den Krieg;
für die Ukraine ein Krieg gegen Besatzung.

Für uns also "Fucking for virginity",
für die Ukraine "Fuck the Russians".

Hier stehen wir und können nicht anders. Wir sind halt Menschen. Wir werden es wahrscheinlich überleben.

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