Vor einem halben Jahr begann mit der Invasion der #Ukraine durch #Russland der blutigste Krieg den wir seit 1945 in Europa erleben und der selbst die Zerfallskriege Jugoslawiens in d. Schatten stellt. Was denken RussInnen über den Krieg? Meine (subjektive!) Einschätzung 🧵/1
Die meisten RussInnen haben sich mit den Defiziten des eigenen Staates abgefunden: Korruption, Disfunktionalität, soziale Ungleichheit. Da Proteste zu nichts führten, blieb nur Zynismus. Nach außen ist das Bild d. eigenen Landes aber ungetrübt: Eine Kraft d. "Guten" in der Welt/2
Die Vorstellung, dass Russland in seiner Geschichte nie "Krieg" geführt hat, ist tief in der Gesellschaft verankert. Immer nur Verteidigung der Heimat oder Schutz von Verbündeten. Zentraler Fixpunkt ist der 2. WK und der "Sieg über den Faschismus". Opfer- u. Heldenkult/3
Es braucht also gar nicht viel Anstrengung der russischen Propaganda, um daran anzuknüpfen: Russland als Macht der Gerechtigkeit auf der Welt. Es ist d. "Westen", der nur Kriege führt. Zwar ist die Deutungshoheit d. Marxismus-Leninismus zusammen mit der Sowjetunion verschwunden/4
Ironischerweise führt die russisch-orthodoxen Kirche diese Weltsicht aber fort. Obwohl nur etwa 5% der RussInnen regelmäßig in die Kirche gehen, stärkt heute die Kirche den Mythos d. "unbeflekten" Russland. Moskaus "göttliche Mission" hat die Idee der Weltrevolution abgelöst/5
In Europa wird der Begriff des "#Brudervolk/s" nicht verstanden. #Ukraine und #Belarus sind aus Sicht Moskaus die "jüngeren Brüder", die man belehren, erziehen und strafen muss. Viele RussInnen sind fest davon überzeugt, dass ihre Sprache u. Kultur ihnen gegenüber überlegen ist/6
So ist es nicht verwunderlich, dass die Umbenennung einer Tolstoj-Straße in Russland große Empörung hervorruft, die Zerstörung einer ukrainischen Schule aber kaum. Wer sich aktiv der "großen" russischen Kultur verweigert, kann nur dumm, barbarisch oder gar "Faschist" sein/7
Gerade in der Generation 50+ ist dieses Denken tief verwurzelt. Selbst wenn der Krieg selbst nicht gutgeheißen wird, ist es für viele unvorstellbar das "gute Russland" verantwortlich zu machen. Die Propaganda über "westliche Provokationen" in #Butscha etc. mag unlogisch sein/8
oder absurd klingen: Es kann aber nicht anders sein, weil es nicht sein darf. Die jüngere Generation versucht d. Krieg so weit es geht auszublenden. Freunde von früher posten Partybilder auf Instagram als sei nichts passiert, obwohl viele 2012 noch geg. Putin protestiert haben/9
Das hat auch mit der "Atomisierung" der russischen Gesellschaft zu tun, wo jede Form der Eigenitiative streng bestraft werden kann und jeder für sich kämpfen muss. Somit ist es einfacher die Realität auszublenden und einfach über die Runden zu kommen, Party und Zynismus/10
Ich glaube übrigens nicht an ein Informationsdefizit. Ich habe nach 2014 von russischen Freunden viele Dinge über den Krieg im #Donbas erfahren, die in Deutschland niemand wissen konnte (oder wollte) - natürlich kämpften dort russische Soldaten, diese prahlten sogar in der/11
Nachbarschaft damit, wie sie die unerfahrenen und schkecht bewaffneten ukrainischen Soldaten "wie die Hasen" abgeschossen haben. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es heute anders ist. Informationen verbreiten sich über persönliche Netzwerke sehr schnell im Land/12
Konsequenzen folgen daraus aber keine. Eher wird der enge Kontakt mit Familienmitgliedern in der Ukraine abgebrochen. Familien verstehen sich untereinander nicht mehr, selbst wenn sie die gleiche (russische) Sprache nutzen, die natürlich niemals "verboten" war/13
Ist die Hoffnung auf einen Aufstand der russischen Gesellschaft also verloren? Man darf sich keine Illusionen machen: Es ist eben nicht nur die Person #Putin. Aber es gilt noch immer auch der Spruch des Soziologen Alexei Jurchak: "Everything was forever until it was no more"/14
Das System ist so lange stabil, bis es zusammenfällt. Noch im August 1991 hätte niemand den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen.../Ende (am Schluss noch ein Bild aus besseren Zeiten, mein Kurs zur deutschen Geschichte für Studierende der deutschen Sprache an der MGU Moskau)
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"Geostrategen" wie #Kissinger begreifen die Welt als großes Spielbrett, wo die Mächtigen Gebiete zu ihren Zwecken hin- und herschieben. Vorbild ist der #WienerKongress (1815) oder die Konferenz von #Jalta (1945). Das will letztlich auch #Putin, der "historisch" argumentiert /1
Das russische Außenministerium bezieht sich wahlweise auf die mittelalterliche Ruß oder den Vertrag von Perejaslaw (1654) zwischen Zarenreich und Kosakenhetmanat. Der Wille der aktuellen Bevölkerung spielt dagegen keine Rolle. Die Ukraine sei ein "unechter/künstlicher Staat" /2
Wer sich (besonders als russischsprachiger) Bürger mit diesen Staat identifiziere, habe ein "falsches Bewusstsein" (Medwedew), das man "bereinigen" müsse. Ein Prozess d. "Russifizierung" hat in den besetzten Territorien im Bildungswesen, d. Administration etc. bereits begonnen/3
#Polen/s Präsident Andrzej #Duda spricht heute als erster ausländischer Staatschef seit Beginn der russischen Invasion auf die #Ukraine️ vor dem Parlament (Verkhovna Rada). Symbolischer Höhepunkt der komplexen und konfliktreichen polnisch-ukrainischen Geschichte. Ein Thread/1
"Noch ist #Polen/die #Ukraine nicht verloren/gestorben" die Nationalhymnen beider Länder beginnen ähnlich, beide Länder thematisieren den schwierigen Beginn ihrer Staatswerdung. Die frühneuzeitliche polnische Adelsrepublik und das ukrainische Hetmanat verschwanden im 18. Jhd./2
Sie wurden Opfer ihrer imperialen Nachbarn (Russland/Österreich/Preußen [nur Polen]) aber auch interner Konflikte. Beides waren aber keine Nationalstaaten, sondern dienten der Bewahrung v. tradit. Standesrechten. Keine Demokratien aber Gegenmodelle zum autokratischen Zarenreich/3
2022: Europa sucht (leider) wieder nach einer neuen Sicherheitsordnung. Dabei stellt sich erneut die Frage, wie man mit einer "gekränkten Großmacht" umgeht. #Macron warnt vor einer Demütigung #Russland/s. Ist eine "gerechte" Ordnung überhaupt möglich? Ein historischer Blick 🧵/1
Der #WienerKongress (1815) beendete die Revolutionskriege und ordnete Europa neu. Für #Gauland ein positives Beispiel, was mehr über seine Weltanschauung als historische Kenntnisse aussagt. In Wien trafen sich die Großmächte der Restauration, der Hochadel und die Fürsten/2
Die Verhandlungen und die Grenzziehung verliefen ohne jegliche Rücksicht auf die Bürger und ihre Rechte. Liberale Bewegung sollten im Gegenteil klein gehalten werden, was die "Karlsbader Beschlüsse" (1819) noch einmal bekräftigen. Nachhaltig war diese Ordung aber nicht/3
#Russland/s Krieg in der #Ukraine ist auch ein Kampf um Erinnerung. Wer hat das Recht auf das Erbe der #Sowjetunion und wie geht man mit der komplexen Geschichte der untergegangenen Weltmacht um? Am #TagderBefreiung spitzt sich dieser Konflikt der Symbole zu - ein Thread 🧵/1
Staatenbund, Bundesstaat oder (groß-)russisches Imperium? Die #Sowjetunion war alles davon. In der westl. Wahrnehmung verschwimmt diese Differenzierung. Im Englischen wird #Russia/#SovietUnion meist synonym verwendet, auch in Deutschland findet oft keine Unterscheidung statt /2
Die #Sowjetunion ging 1922 aus Sowjetrussland hervor als #Lenin seine Hoffnungen auf die Weltrevolution aufgeben musste. Er war nicht nur Ideologe sondern auch Pragmatiker der Macht: Nur knapp 50% der Bevölkerung waren Russen, andere Nationalitäten erhielten zunächst Freiräume/3
Ich bin promovierter Historiker und habe die letzten Jahre zum 1.WK/Zwischenkriegszeit gearbeitet. Nein, der #VersaillerVertrag hat nicht den 2.WK ausgelöst oder zum Aufstieg Hitlers geführt. #Gauland bedient sich (mal wieder) nationalistischer Mythen /1
Frankreichs bedeutende Industriegebiete im Nord-Osten waren fast vier Jahre lang von Deutschland besetzt, wurden ausgeplündert und am Ende systematisch zerstört. Reperationen waren aus Sicht von Paris angemessen. Letztendlich zahlte Dtl. davon auch nur einen Bruchteil/2
Gemessen an der Wirtschaftsleistung war die Belastung durch Reperationen für z.B. Ungarn deutlich größer. Deutschlands Industrie blieb durch den Krieg unangetastet. Die Briten setzten außerdem auf ein "Gleichgewicht" der Mächte und stutzten viele Forderungen Frankreichs zurück/3
Als die deutsche Armee 1941 vor #Moskau stand, ließ #Stalin eine heilige Ikone mit einem Flugzeug um die Stadt herum fliegen. Obwohl er brutale Repressionen gegen die orthodoxe Geistlichkeit anordnete, verstand er die Verknüpfung von russ. Nationalismus und Orthodoxie /1
In der existenziellen Krise des II. Weltkriegs stellte Stalin die kommunistische Ideologie (z.T.) hinten an und setzte auf ("groß")russischen Nationalismus. #Putin und seine Propaganda sehen das heutige #Russland ebenfalls in seiner Existenz durch den "Westen" bedroht /2
#Putin legitimiert seine Herrschaft als Verteidiger vor den Feinden von außen. Erneut hätten es "Faschisten" auf Russland abgesehen. Diesmal aber in Form der "Liberal-Faschisten", die versuchen würden, dem Land eine "fremde" Ordnung aufzuzwingen" - die liberale Demokratie/3