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In den @TTNachrichten findet man einen erschreckenden Text zum Thema Therapien gegen #Autismus. Ich möchte ihn mit euch durchgehen, um euch aus autistischer Sicht zu zeigen, wie schlimm sowohl der Text, als auch der Gedanke hinter dieser Therapie ist. tt.com/artikel/307453…
In dem Text wird über eine Mäusestudie berichtet, deren Erkenntnisse auf Autist*innen übertragen werden KÖNNTE. Diese Mäusestudien sind eine schlimme Sache. Dabei werden auf unterschiedliche Arten Verhaltensweisen bei Mäusen hervorgerufen, die dann als "autistisch" interpretiert
werden. Nur: Menschen sind keine Mäuse und von interpretiertem Mäuseverhalten auf das komplexe Sein einer autistischen Person zu schließen hat einen entmenschlichenden Beigeschmack.
Der Text beginnt mit: "Autisten haben bekanntlich Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hinein zu fühlen und mit ihnen adäquat zu kommunizieren. Dieses Problem lässt sich möglicherweise medikamentös lösen."

Autist*innen (auch weibliche Personen können autistisch sein)
haben nicht pauschal Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das ist eine ungute Verallgemeinerung. Trotzdem wird es als Problem identifiziert – für Nichtautist*innen. Dabei ist, schauen wir einmal genau hin, das Problem eigentlich, dass Nichtautist*innen sich
nicht in autistische Menschen hineinversetzen können und adäquat mit ihnen kommunizieren, sprich, sich auf die autistische Art der Kommunikation einzulassen. Das ist für uns Autist*innen sehr problematisch, lässt sich aber leider nicht medikamentös lösen.
Es gab schon viele Versuche, Autist*innen mittels Oxytocin dazu zu bringen, mehr körperliche Nähe zuzulassen und mit Festhaltetherapien, ABA und anderem den Widerstand dagegen abzutrainieren. Es ist unverständlich, warum Autist*innen keine körperliche Autonomie zugestanden wird.
Kindern bringt man frühzeitig bei, Grenzen zu ziehen, unerwünschten Körperkontakt abzulehnen, nein zu sagen. Autist*innen sollen dahingehend aber beinahe willenlos gemacht werden, sie sollen Körperkontakt zulassen, auch wenn es ihnen sehr unangenehm ist und sie es nicht wollen.
Durch die autistische Wahrnehmung kann Körperkontakt sehr sehr intensiv sein, kann überfordern. Sinneszeize können durch ihre ungefilterte Wahrnehmung so heftig empfunden werden, dass sie körperliche Schmerzen verursachen. Natürlich möchte man das nicht ertragen müssen.
Die Besessenheit, Autist*innen Körperkontakt, Augenkontakt und anderes aufzuzwingen ist aber beinahe grenzenlos. Das Missbrauchspotenzial wird dabei völlig vergessen. Wie soll ein autistisches Kind wissen, dass es erzwungenen Körperkontakt von Familie und Verwandschaft ertragen
muss, von Fremden aber nicht? Wann ist eine Person fremd? Wann sagt man nein, wann nicht? Wo sind die Grenzen? Für Menschen, die soziale Regeln so schwer lesen und verstehen können wie Autist*innen, ist das fast nicht auszumachen.
Weiter im Text. "Scheiffele schließt nicht aus, dass mit dem neuen Ansatz auch andere Beeinträchtigungen von Autisten – obsessive Ordnungsregeln und repetitive Handlungen beispielsweise – behandelt werden könnten." Leidet die autistische Person unter ihren Ordnungsregeln
und ihren repetitiven Handlungen, dann ist eine Verhaltenstherapie bei einer umsichtigen Therapeutin oder einen Therapeuten sicher eine gute Idee. Generell sind Struktur und Ordnung aber etwas, das Autist*innen Halt und Sicherheit gibt. Sie vereinfachen das Leben und helfen, gut
durch den Alltag zu bekommen. Nur, weil es Nichtautist*innen als unerwünscht und beeinträchtigend empfinden, sollen uns diese Verhaltensmuster genommen werden, unser Alltag massiv verschlechtert und unser Leben deutlich erschwert werden. Würde man Autist*innen zuhören und
ihre Wünsche und Bedürfnisse auch nur im Ansatz ernst nehmen, sollte klar sein, wie hanebüchen und menschenverachtend dieser ganze Ansatz ist. Warum ist es so schwer, Autist*innen ihr Leben so leben zu lassen, wie es ihnen gut tut? Ihre Bedürfnisse anzuerkennen, ihre Art zu
kommunizieren? Ihre nicht vorhandenen Filter zu respektieren und ihnen entsprechend Reizarmut zuzugestehen? Ich persönlich finde es schrecklich, dass derartige Studien noch immer durchgeführt werden.
Ich finde es grauenhaft, wie wenig Akzeptanz und Verständnis dem autistischen Sein entgegengebracht wird. Und ich finde, die @TTNachrichten sollten sich in Grund und Boden schämen, so etwas unreflektiert zu veröffentlichen.
Versteht ihr meine Wut und mein Entsetzen? Ist euch nach diesem Thread klarer, wo das Problem für mich liegt?
Bei @zeitonline gab es heute hingegen einen empfehlenswerten Text (Paywall) von einem autistischen Journalisten. Liest man beide nacheinander, merkt man umso stärker, wie menschenverachtend der erste ist.
Da schon wieder invalidiert werden mag: Das "falls gewünscht" im Text ist sicher nicht auf den Wunsch der autistischen Person zu beziehen. Man kann davon ausgehen, dass Eltern, Therapeut*innen, Betreuer*innen etc. diese Entscheidung treffen werden.

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