"Warum äußerst du dich als Physiker zu medizinischen Themen wie COVID-19? Das ist doch nicht dein Gebiet!" Das höre ich jetzt wieder besonders häufig, oft gewürzt mit üblen Beschimpfungen. Gut, ich erkläre es gerne noch einmal.
Zuallererst: Jeder darf sich immer zu allem äußern. In einer Demokratie ist es Unsinn, jemanden dafür zu kritisieren, dass er sich zu einem bestimmten Thema äußert. Kritisieren soll man ihn, wenn er zu ein Thema Unsinn erzählt.
Aber es stimmt: Nur weil man das Recht hat, seine Meinung zu verbreiten, heißt das noch lange nicht, dass es eine gute Idee ist. Manchmal ist es klüger, sich nicht zu äußern, und stattdessen lieber anderen Leuten zuzuhören, die es besser wissen.
Ich als Physiker ärgere mich auch manchmal, wenn sich Leute über Physik äußern, die keine Ahnung haben. Die erzählen dann, sie hätten Einstein widerlegt oder den Energieerhaltungssatz überlistet, verstehen aber nicht einmal die einfachsten Grundlagen.
Aber genau das mache ich nicht: Ich verbreite keine eigenen Theorien über medizinische Fragen. Ich habe nämlich keine. Ich bin fachlich nicht in der Lage, die Thesen der Experten zu überprüfen oder zu widerlegen, daher käme ich auch nicht auf die Idee, das zu versuchen.
Vielleicht kann ich mir als Physiker ein paar ganz einfache mathematisch-statistische Zusammenhänge ansehen - aber auch hier gibt es Leute, die das besser, detaillierter und mit mehr Hintergrundwissen machen. Ich würde mir bei solchen Dingen niemals anmaßen, ein Experte zu sein.
Zwei Dinge gibt es in dem Zusammenhang allerdings schon, bei denen ich viel Erfahrung habe: 1) Nach langer naturwissenschaftlicher Ausbildung kann ich (zumindest in gewissem Rahmen) nachvollziehen, ob jemand naturwissenschaftlich arbeitet.
Ich kann keine Detailfehler in medizinischen Arbeiten finden, aber ich kann in vielen Fällen zumindest haarsträubenden Unsinn als solchen erkennen. Esoteriker von Wissenschaftlern zu unterscheiden - das gelingt meist recht einfach.
Und 2): Nach fast 15 Jahren Wissenschaftsjournalismus glaube ich, komplizierte Dinge einigermaßen verständlich erklären zu können. Wenn es darum geht, medizinische Thesen aufzustellen, bin ich kein Experte. Wenn es darum geht, aufgestellte Thesen zu erklären, schon ein bisschen.
Manchmal führt das zu seltsamen Situationen: Es gibt Ärzte, die furchtbaren unwissenschaftlichen Unsinn erzählen. Wenn ich ihnen dann widerspreche, hat das keine gute Optik: Er ist ein Arzt, ich "nur" Physiker. Da muss bei medizinischen Fragen doch der Arzt recht haben, oder?
Nein - nicht wenn der Physiker sich zum Anwalt der naturwissenschaftlichen Medizin macht und die Meinung der besseren, naturwissenschaftlichen Ärzteschaft vertritt, während der Arzt (peinlicherweise) jedes wissenschaftliche Denken verlassen hat.
Auch dem Automechaniker würde ich beim Autoreparieren widersprechen, wenn er das Auto gesundbeten möchte - obwohl ich ziemlich wenig Ahnung von Autos habe.
Darum geht der Vorwurf "bleib bei deinem Fachgebiet" ins Leere. Es stimmt: Wenn jemand kein Experte ist, sich aber gegen die Meinung der Experten stellt, dann sollte man vorsichtig sein. Das sollte er wirklich nur dann wagen, wenn er außergewöhnlich gute Argumente hat.
Aber jemanden, der die Meinung der Experten wiedergibt, dafür zu kritisieren, selbst kein Experte zu sein, ist Unsinn. Nach diese Logik dürfte es keinerlei Journalismus geben, sondern nur noch Fachpublikationen. Das will wohl niemand.
Also: Sollte ich eines Tages verrückt werden und der etablierten Medizin widersprechen, dann kritisiert mich. Solange ich aber nur versuche, zwischen Wissenschaft und Alltagssprache zu übersetzen: Kritisiert mich, wenn ich Fehler mache - aber nicht dafür, dass ich es versuche.

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9 Nov
Es scheint also, als gäbe es eine Chance auf einen erfolgreichen RNA-Impfstoff gegen Coronaviren. Da kommt wohl jetzt auch eine Verschwörungstheorie-Welle auf uns zu: "Man will unser Erbgut mit fremder RNA umprogrammieren!" Das ist natürlich Unsinn. (Thread)
Disclaimer: Das hier ist nicht mein Spezialgebiet, daher nur ein paar ganz grundlegende Dinge: RNA-Impfstoffe sind tatsächlich etwas ziemlich Neues. Es gibt bisher noch keinen, der für Menschen zugelassen ist. Aber ihre Grundidee ist weder besonders tollkühn noch spektakulär.
Während man normalerweise Viren oder Virenteile in den Körper einschleust, damit das Immunsystem lernt, dagegen vorzugehen, schleust man bei RNA-Impfstoffen RNA in den Körper ein (bzw. mRNA, für "messenger RNA").
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30 Oct
Offenbar gibt es Verwirrung um Begriffe wie "überexponentiell" - daher ein kurzer Thread dazu. Zunächst: Was ist eigentlich exponentielles Wachstum?
Manche Leute glauben, exponentielles Wachstum heißt, eine Zahl wächst immer schneller. Das stimmt nicht. Nur weil etwas immer schneller wächst, muss es noch lange nicht exponentiell wachsen.
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28 Oct
Also doch keine Aliens auf der Venus! Die angeblich verräterischen Moleküle, die kürzlich entdeckt worden sein sollten, waren wohl doch etwas anderes. Wir lernen daraus etwas Wichtiges über Medien & Wissenschaft (Thread): spektrum.de/news/kein-lebe…
Erstens: Die modernen Medienmechanismen, die von Aktualität und Sensation leben, werden der Wissenschaft nicht gerecht. In der Politik mag es einschneidende Ereignisse geben, die ganz plötzlich alles ändern: Eine Wahl, ein Gipfeltreffen, eine Vertragsunterzeichnung.
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16 Oct
Bhakdi & co erklären die Pandemie für beendet. Eine gewagte These - aber lebt die Wissenschaft nicht genau von solchen gewagten Thesen, vom Aufbrechen der bisher gültigen Lehrmeinung? Manchmal schon - aber sicher nicht so. (Thread)
Bhakdi vertritt eine Meinug, die dem breiten Konsens der Wissenschaft widerspricht: In der Forschung ist man sich einig, dass die Corona-Epidemie eine gefährliche Sache ist, die noch lange andauern wird. Bhakdi sieht das anders, das ist natürlich sein gutes Recht.
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15 Oct
Ministerin Köstinger meldet ihr zweijähriges Kind als Mitglied der Jungen Volkspartei an. Warum ich das problematisch finde. (Thread)
Auf den ersten Blick könnte man sagen: Kinder sollten generell nicht kategorisiert werden. Sie sollten sich selbst entscheiden, zu welchen Gemeinschaften sie gehören wollen - von Religion über Parteien bis zum Schachclub. Doch ich glaube, ganz so einfach ist es auch nicht.
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29 Sep
Ich stelle immer wieder fest, dass sich Leute mit Begriffen wie "Corona-Leugner" angegriffen fühlen, die damit überhaupt nicht gemeint waren. Das ist ein Problem. (Thread)
Wie bei jedem aktuellen Thema gibt es über die Corona-Pandemie verschiedene akzeptable Meinungen. Unter welchen Umständen ist ein Lockdown das kleinere Übel? Wo sollte man Masken tragen? Wann wird es eine Impfung geben? Darauf gibt es keine eindeutige bekannte Antwort.
Wer bei solchen Fragen eine Meinung vertritt, die nicht dem politischen Mainstream entspricht, darf natürlich nicht als "Esoteriker" oder "Corona-Leugner" angegriffen werden. Ich habe aber den Eindruck, dass viele Menschen genau solche Begriffe zu Unrecht auf sich beziehen.
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