Okay, soll ich nochmal für alle erklären, warum wir in Mikrobiologie, Epidemiologie etc. von "#exponentiell|em Wachstum" reden?
Stefan, hörst Du zu? Prima, ich versuch, es einfach zu halten, okay?
Gut, also, nehmen wir mal an, wir haben ein Geschehen in der Natur, das wir (1/20)
gerne mathematisch beschreiben möchten. Grundsätzlich gibt es dann mehrere Möglichkeiten:
a) Das vielleicht simpelste, ist dass wir an die Messwerte eine Kurve anlegen und die soweit modifizieren, dass sie möglichst gut passt. Genau, Stefan, da könnten wir zum Beispiel die (2/20)
Gompertz-Funktion verwenden. Wir können dann die Parameter so anpassen, dass die Kurve möglichst gut passt (z.B. Methode der kleinsten Quadrate) und fertig. Damit wir das machen können, müssen wir halt von vornherein annehmen, dass unser Geschehen dem Modell entspricht, das(3/20)
jemand anderes aufgestellt hat. Das ist bei manchen sehr einfachen Dingen okay, aber halt das simpelste Vorgehen mit dem größten Risiko, sich zu irren. Ich weiss, Du machst das am liebsten, aber lass uns doch mal schauen, was wir sonst noch machen können, okay? (4/20)
b) Schon besser ist, wenn wir verschiedene mögliche Kurven jeweils anpassen und dann (z.B. über ein Bestimmtheitsmass) die am besten passende Funktion mit den am besten passenden Parametern auswählen. Klar, das ist eine ganze Menge Arbeit, aber heute geht das mit Computer- (5/20)
unterstützung ganz gut. Auf niedrigem bis mittlerem Niveau sogar mit Excel (Das Solver-Plugin ist Dein Freund). Wen wir so Kurven an unsere Messwerte anpassen und nach einer möglichst gut passenden suchen, dann beschreibt das meist unsere Messwerte ganz gut, aber, wenn wir (6/20)
so gefundene Funktion auch zur Vorhersage nutzen wollen, wie es weiter geht, ist das noch nicht optimal.
Manchmal ist es das bei komplexen Szenarien das beste, was wir machen können, aber wir müssen uns klar machen, dass wir da extrapolieren und das immer unsicherer wird. (7/20)
c) Und jetzt wird es cool, denn manchmal können wir etwas noch viel besseres machen: Differentialgleichungen aufstellen! Klingt erstmal einschüchternd, ich weiss Stefan, aber hör einfach kurz zu, okay? Du errinerst Dich vielleicht aus der Schule noch ans Ableiten und (8/20)
Integrieren, ja?
Prima! Dann weisst Du sicher auch noch, dass die Ableitung der Steigung einer Kurve entspricht und damit angibt, wie sich die Werte verändern.
Und jetzt kommt das coole: Wenn wir nämlich feststellen, dass die Änderung von Werten mit der Höhe (9/20)
der Werte einen bestimmten Zusammenhang hat, dann sagt uns das, dass eben auch die Werte einer Funktion folgen, die genau so mit ihrer Ableitung zusammenhängt.
Wenn Du Dich an die Funktion e^x erinnerst, dann erinnerst Du Dich sicher auch, dass deren Ableitung auch (10/20)
e^x war. Und bei e^(a*x) ist die Ableitung (nach x) gleich a*e^(a*x) - das war die Kettenregel, genau!
Das heisst also allgemein, dass bei Exponentialfunktionen die Ableitung gleich der Funktion ist, mal eventuell einem Faktor, oder anders ausgedrückt, die Änderung (11/20)
ist proportional zu den Werten.
So, das heisst jetzt aber auch, dass bei einem Zusammenhang, bei dem die Änderung proportional zu den Werten ist, der Verlauf der Werte sich durch was für eine Funktion beschreiben lässt? Stefan?
Nein, nicht Gompertz... Durch eine (12/20)
Exponentialfunktion natürlich!
Um die Gompertzfunktion so herzuleiten müsstest Du einen komplexeren Zusammenhang feststellen. Dann wird auch das Lösen der Differentailgleichung schwieriger, aber auch das ist kein Hexenwerk.
Gut, und jetzt überlegen wir mal, was das für (13/20)
echte Daten bedeutet, okay?
Da sind die Zusammenhänge zwischen Werten (z.B. Infizierte) und Änderung (z.B. Neuinfektionen) ja nicht so sauber und eigentlich gibt es keine exakte Lösung. Was machen wir also, Stefan?
Nein, nicht einfach wieder Gompertz nehmen... (14/20)
Wir halten uns an Ockhams Rasiermesser und verwenden erstmal das Modell, für das wir die wenigsten Annahmen machen müssen.
Wenn die Neuinfektionen ungefähr proportional zu den Infektionen sind, modellieren wir also erstmal als Exponentialfunktion bis die wirklichen (15/20)
Werte stark genug abweichen, dass eine andere Funktion das ganze besser beschreibt. Dadurch haben wir zwar auch nur einen bestimmten Bereich, in dem unser Modell vorhersagekräftig ist, aber da wir tatsächlich keine weiteren Annahmen einfliessen lassen müssen - wie bei (16/20)
Gompertz zum Beispiel eine obere Schranke, ist es ehrlicher von einer exponentiellen Wachstumsphase zu sprechen, solange diese Proportionalität zwischen Werten und Änderung ungefähr besteht.
So Stefan und als Hausaufgabe darfst Du Dir jetzt mal ein (17/20)
gutes Statistikbuch nehmen und alle Werte des RKI und mir für jede Welle von Corona ausrechnen, ab wann die tatsächlichen Neuinfektionen signifikant (p<0,05) von der Annahme zur Infektionszahl proportionaler Neuinfektionen abgewichen sind, so dass man wirklich (18/ 20)
nicht mehr von exponentiellem Wachstum hätte sprechen sollen.
Und dann vergleichst Du das mal mit dem Zeitpunkt, wo Du Drosten und mich angepflaumt hast.
Und dann Stefan, dann reden wir vielleicht weiter und machen das, was ich hier grob angerissen hab nochmal (19/ 20)
sauber, okay?
Aber erst wiederholst Du die PCR. Sorry, aber mit der Boris Johnson-Art des Pippetierens gibt es halt keine guten Ergebnisse, hab ich Dir vorher gesagt...
Mäuschen out
(20/20)
P.S. Ja, ich weiss, an welchen Stellen das stark vereinfacht ist, ich hoffe ich habe ob des späten Abends keine groben Klopper reingebastelt, gerade das Anpassen auf Tweetlänge ist bei sowas echt etwas kritisch...
Also gerne korrigieren

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