Eine der gefährlichsten, schädlichsten Legenden dieser Pandemie ist vermutlich die Legende, dass es nur ein gutes Immunsystem braucht, um mit Covid-19 fertigzuwerden.
Darüber möchte ich ein paar Worte verlieren.
Ich glaube nicht, dass das Menschen glauben, die mir folgen, oder dass ich hier Leute erreichen kann, die das glauben. Aber für den Fall, dass ihr Freunde und Verwandte aufklären wollt, versuche ich hier mal ein paar Argumentationshilfen zu liefern.
Der überspannende Irrglaube 1:
Ein gutes Immunsystem ist der beste Schutz gegen Covid-19.
Der Irrglaube führt zu leichtsinnigem Verhalten, z.B. Ignorieren der Abstands- oder Maskenregeln. Man glaubt sich sicher, weil sonst macht man ja auch nicht jeden Schnupfen mit.
Leider hat sich durch ungeschickte Kommunikation zu Beginn der Pandemie schnell der Glaube eingestellt, an Covid-19 würden nur Menschen mit Vorerkrankungen sterben und das wurde wieder von vielen Menschen in "ohne Vorerkrankungen bin ich sicher" übersetzt.
Dabei ist vielen Menschen nicht bewusst, dass viel öfter ihr Verhalten im Alltag ausschlaggebend dafür ist, ob sie sich mit Infektionskrankheiten anstecken, oder nicht.
Menschen, deren Verhalten z.B. ist, sich nicht so oft ins Gesicht zu fassen, haben ein geringeres Risiko, sich mit Infektionskrankheiten zu infizieren.
Ebenso Menschen, die schlicht nicht so oft in Menschenmassen sind, stärker auf Handhygiene achten etc. etc.
Hier sorgt auch gerne mal der "Survivors Bias" für Verwirrung. Wer nicht so oft erkrankt, weil er z.B. in der Erkältungszeit nicht die Öffentlichen nutzt, ein eigenes Büro hat und keine kleinen Kinder zu Hause, redet sich gerne ein, wie super sein Immunsystem doch ist.
Dabei sind wohlmöglich eher die Lebensumstände Schuld daran, wenn jemand von den typischen Erkältungskrankheiten verschont bleibt.
Wer aber öfter man die Augen reibt und das auch, nachdem er die Haltestange im Bus angefasst hat, wird schneller krank.
Irrglaube 2: Das gute, starke Immunsystem weiß, was es mit Krankheitserregern anzufangen hat.
Das ist die vielleicht eklatanteste Bildungslücke der meisten Leugner.
Den Unterschied, zwischen der normalen Funktion des Immunsystems und der Reaktion auf ein neues Virus nicht zu kennen.
Mal jetzt furchtbar vereinfacht: Das Immunsystem im Normalbetrieb ist ein Polizist, der gerade das Fahndungsfoto eines Mörders erhielt, ihn sieht & festnimmt.
Das Immunsystem bei einem neuen Virus, ist der Polizist, der das Fahndungsfoto nicht bekommen hat, und an dem der Mörder deswegen unerkannt vorbeiläuft.
Oder der Polizist, dem das Verhalten des Mörders auffällig vorkommt, der ihn kontrolliert, aber dann gehen lässt, weil nichts gegen ihn vorliegt. Und eine halbe Stunde später kommt die Fahndungsmeldung.
Oder aber der Polizist, der noch keine Ahnung von der Fahndung nach dem Mörder hat und der vom Mörder erschossen wird, als er in dessen Richtung geht, weil der Mörder denkt, dass er jetzt aufgeflogen ist.
Das Immunsystem ist, wie Drosten immer so schön sagt: immunologisch naiv.
Es nutzt das beste Immunsystem nichts, wenn es den Erreger nicht erkennt und erste reagiert, wenn sich ein Virus schon im halben Körper verbreitete hat und das dann losschlägt und versucht die infektiösen Zellen abzustossen.
Oder das den Erreger erkennt aber schnell, weil es nichts mit ihm anzufangen weiss, völlig überreagiert.
In beiden Fällen funktioniert das Immunsystem ja, aber anders, als wenn Antikörper für eine Krankheit existieren, ist es ahnungslos _wie_ es den Erreger bekämpfen kann.
(Mea culpa an alle Mediziner, Virologen, Immunologen. Ja, ich weiss, dass ich das hier gerade sehr schmerzhaft vereinfache, aber ich denke nicht, dass die verschiedenen Bestandteile einer Immunreaktion wirklich zum Verständnis des Grundproblems beitragen. ;) )
Ein neues Virus ist deswegen so gefährlich, weil das Immunsystem es nicht kennt, keine wirklich passende Gegenwehr im Gepäck hat und man daher auch nicht abschätzen kann, wie die körperlichen Reaktionen genau aussehen, wenn es auf eine diverse Bevölkerung trifft.
Irrglaube 3: Es gibt ein schwaches Immunsystem und ein starkes Immunsystem.
Eher: es gibt Immunschwächen, ein Immunsystem das im Rahmen normaler Parameter funktioniert und ein hyperaktives Immunsystem.
Letzteres nennt man "Autoimmunkrankheiten".
Irrglaube 4: Man kann ein Immunsystem gezielt stärken.
Die Faktoren, dass das Immunsystem im Rahmen der normalen Parameter funktioniert sind:
- ausreichend und erholsamer Schlaf
- ausgewogene Ernährung
- regelmässige Bewegung/Sport
- an der frischen Luft
- nicht rauchen, kein übermässiger Alkoholkonsum/Drogenkonsum
Schlaf ist dabei ein sehr wichtiger Faktor. Das Immunsystem arbeitet schon bei Schichtarbeitern nicht mehr optimal.
Sind die Faktoren optimal, bieten Nahrungsergänzungsmittel keinen zusätzlichen Nutzen.
Sind sie nicht optimal, können sie das Optimum nicht herstellen.
Es führt kein Weg daran vorbei. Wer möchte, dass sein Immunsystem optimal arbeitet, muss gesund leben.
Der theoretische Gedanke oder das Versprechen das Immunsystem zu "stärken", also über das Funktionieren innerhalb normaler Parameter hinaus zu trainieren, würde eher in Richtung hyperaktives Immunsystem führen. Ergo: in Richtung Autoimmunkrankheiten.
Und jegliche Art von "Immuntherapie" gehört in die Hände von erfahrenen Ärzten und nicht in die Hände von Heilpraktikern und 'ganzheitlichen' Kliniken am Rande der Legalität.
Irrglaube 5: Ein starkes Immunsystem kommt mit jeder Krankheit klar.
Ein starkes Immunsystem kann einen sogar erst recht umbringen, wenn es dumm läuft.
Wenn das Immunsystem die Fähigkeit nicht hat, den Erreger zu identifizieren und dann zielgerichtet zu arbeiten, schlägt es auch mal blind los. Dann gerne gegen den eigenen Körper. Der sogenannte Zytokinsturm ist eine Überreaktion, bei der das gute Immunsystem dem Körper schadet.
Wenn das Immunsystem nicht 100% arbeitet und daher ein bisschen träger reagiert, kann eigentlich schlechtere Immunsystem in bestimmten Situationen somit eher dem Überleben dienlich sein.
Ein Immunsystem arbeitet nur dann optimal, wenn es den Erreger kennt und _zielgerichtet_ arbeitet. Das führt zu Irrglaube 6.
Irrglaube 6: Wer ein gutes Immunsystem hat, braucht keine Impfung. Nur wessen Immunsystem schwach ist, braucht die Impfung.
Das sind die Narrative, bei denen ich mir die Haare ausreissen möchte.
Wie oben erwähnt. Ein Immunsystem kann noch so gut sein, wenn es das Virus nicht kennt reagiert es zu spät und dann oft zu extrem.
Und wie lernt das Immunsystem ein neues Virus kennen? Nun, durch die Infektion, mit der Gefahr, dass das Immunsystem erst mal blöd darauf reagiert.
Oder eben auf dem sicheren Weg über eine Impfung.
Die Impfung ist das Fahndungsfoto der Medizin. Das Immunsystem bekommt das Virus gezeigt, und wenn es pfeifend vorbeiwandert, bekommt es vom Immun-Polizisten eines über die Rübe.
Je schwächer ein Immunsystem bereits ist, um so weniger gut sind Impfungen wirksam, weil dann das Immunsystem nicht genug Saft hat, um eine gute, und damit ausreichende und langanhaltende Immunreaktion zu liefern.
Ein Immunsystem, das im Normbereich arbeitet und die Impfung zusammen sind das Winner-Team.
Irrglaube 7: Wer Vorerkrankungen hat, infiziert sich leichter mit Covid-19.
Richtig ist: wer Vorerkrankungen hat, hat bei einer Infektion ein höheres Risiko einen schweren Verlauf zu erleben.
Die Infektiosität von Covid-19 ist für alle Menschen gleich, Niemand hat dort Immunzellen, die gegen eine Infektion mit Covid-19, wo sie nötig wären, nämlich in der Nase und den oberen Atemwegen.
Infizieren kann sich jeder & die Infektion dann weitergeben. Auch asymptomatisch.
Bei manchen Menschen bleibt die Infektion (weitgehend) symptomfrei - und es ist noch nicht ganz klar, wieso.
Aber infizieren kann sich jeder und das ist keine Frage des Immunsystems, sondern der Virenlast.
Wenn man an Covid-19 erkrankt, sind nur bestimmte Teile des Körpers, bestimmte Körperfunktionen besonders belastet. Das Herz-Kreislaufsystem z.B.
Die Erkrankung lässt den Blutdruck und AFAIK auch den Blutzucker steigen.
Wer also vorher bereits Probleme mit Herz-Kreislauferkrankungen, wie einem erhöhten Blutdruck hatte, oder wer Diabetes hat, bei dem eskalieren bereits bestehende Probleme viel leichter in Richtung schwerer Verlauf.
Irrglaube 8: Wer eine Vorerkrankung hat, der hat auch immer ein schlechtes Immunsystem.
Es gibt Vorerkrankungen, die wirken sich direkt auf die Arbeit des Immunsystems aus. Zum Beispiel Diabetes. Es gibt aber Menschen mit Vorerkrankungen, die selten schwer krank werden.
Es gibt keinen direkten Link zwischen der Arbeit des Immunsystems und jeder möglichen Vorerkrankung.
Chronisch krank zu sein, gesund zu leben und ein Immunsystem zu haben, das innerhalb normaler Parameter arbeitet, ist kein Widerspruch.
TL:DR
- Nein, es nutzt nichts, das Immunsystem zu stärken
- Ein gutes Immunsystem schützt nicht vor der Infektion mit Covid-19. Auch nicht vor der Erkrankung.
- Nur ein Immunsystem, dass das Virus kennt, kann sich optimal wehren.
- deswegen impfen
Und noch ein paar abschließende Worte:
Das Narrativ des Immunsystems, das Stärkung braucht und gestärkt werden kann, ist weitgehend von der Pseudomedizin- und Nahrungsergänzungsmittelszene besetzt.
Durch deren ungehinderte Lobbyarbeit, ist ein Wissensvakuum entstanden.
Ein Wissensvakuum in dem viele, sehr viele Menschen nicht mal im Ansatz wissen, was das Immunsystem tut und deswegen das Märchen vom "Stärken" immer weiter tragen. Die Hersteller und Vertreiber von Nahrungsergänzungsmitteln freut es.
Ebenso die Anbieter halbseidener "Immuntherapien" gegen Krebs oder andere Erkrankungen.
Wir müssen dieses Thema von Impfgegnern, Schwurblern zurückgewinnen, denn aktuell führen diese Narrative dazu, dass sich Menschen leichtsinnig und rücksichtslos verhalten.
In dem sie sich dank ihres 'starken Immunsystems' für unverwundbar halten, sich selbst infizieren und die Infektion weitertragen.
In dem sie auf die Impfung verzichten, im Glauben, sie nicht zu brauchen.
Das Märchen vom starken Immunsystem schadet unser aller Gesundheit.
Meh. Hab einige Male "Covid-19" geschrieben, wenn der richtige Begriff SARS-CoV-2 gewesen wäre. Mea Culpa.
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Unpopular Opinion: Es gibt nur ein Setting, in dem unfallfrei über Rassismus*, Sexismus oder Behindertenfeindlich diskutiert werden kann. Alle anderen Settings sind von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Auf einer Skala von "Steigbügelhalter des Faschismus" bis zu "Meh".
+Antisemitismus, Antiziganismus etc.
Setting 1: Reden mit Rassisten, Sexisten, behindertenfeindlichen Personen.
Damit macht man sich unweigerlich auch zum Steigbügelhalter dieser Ideologien, weil man etabliert, dass man über die systematische Benachteiligung & Diskriminierung von Menschengruppen reden kann.
Geld mit Aktivismus verdienen. Zu der Sache, die da kürzlich hochgekocht ist, schwirrten mir auch noch lose Gedanken im Kopf rum.
Ich erinnere mich noch gerne an die Mail eines großen Wohlfahrtsunternehmens … wie toll mein Blog sei. Wie toll ich schreibe.
Wie wichtig die Texte seien. Und ob ich denn etwas für ihr Magazin beitragen könne.
Das Magazin, wohlgemeint professionell produziert und nicht in Kartoffeldruck von der Nichte des Vorstands in der Vorschule hergestellt.
Ich kannte die Reaktion natürlich vorher, dennoch konnte ich mir die Antwortmail nicht verkneifen. Das sei ja wunderbar und ich auch sehr geschmeichelt. Und sehr gerne würde ich etwas für das Magazin beitragen.
Ich wollte noch etwas zu Neutralität schreiben, da der Begriff meinem Empfinden nach derzeit mal wieder massiv mißverstanden oder gezielt mißbraucht wird.
Allgemein, im Bezug auf Wissenschaft und im Bezug auf das Wissenschaftsverständnis von Hendrik Streeck.
Denn seine Position wird anscheinend sehr oft als die neutrale Position empfunden, während Positionen wie die von Viola Priesemann als 'extrem' empfunden werden. Meinem Eindruck nach, ist das auch, wie Streeck sich selbst zu verkaufen versucht.
Als neutrale, wissenschaftliche Instanz. Allerdings ist er anything but.
Erst mal vielleicht die weniger wissenschafts-theoretischen Aspekte von "Neutralität":
Wir haben unsere Gesellschaft unsere Kultur eingerichtet, dass wir Extreme verachten und Kompromisse schätzen.
Rechte, entschuldigt, Konservative, die sich wieder so gebärden, als müssten wir noch Jahrzehnte im "Lockdown" leben.
Es geht genau darum, das nicht zu müssen. Und das erreicht man nun mal besser, wenn man nicht wie ein ungeduldiges Kind alles sofort wieder normal haben will.
Konservative 2021 und wie sie durch den Pandemie-Marshmellowtest fallen.
Noch jemand, der mir erklären will, dass Lockdowns Ungerechtigkeiten vergrößern? Ja, deswegen sollte man sie so konsequent wie möglich gestalten, damit sie so kurz wir möglich sein können.
#Streeck
Weil gestern wieder jemand meinte, Streeck habe ja im Nachhinein erklärt, wie er das mit dem Schulexperiment wirklich meinte und das müsse man dann ja akzeptieren:
Da Muster, Streeck sagt was Menschenfeindliches, es gibt einen Aufschrei, Streeck gibt den falsch Verstandenen und rudert in der Formulierung, nicht aber in der Sache, ein wenig zurück.
Das ist die Taktik der Diskursverschiebung nach Rechts, wie sie auch die AfD anwendet.
Und nur weil Streeck schnieke und smart aussieht, gewinnend lächeln kann, Akademiker ist und nicht so dreist dumpf rassistisch daherkommt, wie die AfD, sollte man sich nicht täuschen lassen.
Zu Beginn sprach eine WHO-Mitarbeiterin, die nachdrücklich darauf hinwies, dass wir die Pandemie nicht Land für Land bekämpfen können und sich auch die Wirtschaft erst erholt, wenn alle Länder sicher sind.