Jede neue #Covid19-Impfnachricht in Deutschland führt zu hysterischem Aufschrei. Aber ist jede neue Nachricht zu Schwierigkeiten bei der Impfkampagne wirklich als großer Aufreger geeignet? Und worauf kommt es jetzt wirklich an? #Thread 1/

tagesschau.de/investigativ/k…
Beispiel 1: Als Boris Johnson in den vergangenen Tagen versprach, man könne jedem erwachsenen Briten ein #Covid19-Impfangebot bis Ende Juli machen, wurde das erneut als Beleg für deutsches Versagen gesehen. 2/
Beispiel 2: Die Verzögerung bei der Verimpfung des AstraZeneca-Impfstoffes wurde ebenfalls als „neues Impfdesaster“ kommentiert. Wahlweise wird auf @jensspahn, Merkel, die Regierung oder @vonderleyen geschimpft.3/
Keine Frage: Die Impfkampagne läuft sehr schleppend an. (Und ja, die Impfstoffbestellung ist sch***e gelaufen, aber das ist ein anderes Thema.) Wichtige Zeit ist verloren, und wir werden dadurch am Ende unnötig mehr #Covid19-Tote und mehr Wirtschaftsschaden haben.4/
Aber was ist wirklich katastrophal und was kann man eher vernachlässigen? (Natürlich kann man sich immer aufregen, aber bei begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen wäre es eigentlich hilfreich, sich derzeit auf die wichtigen Fragen zu konzentrieren.) 5/
Betrachtet man die derzeit für die kommenden Wochen konkret geplanten Lieferungen (laut @BMG_Bund) und legt die für das zweite und dritte Quartal angekündigten Lieferungen auf die einzelnen Wochen im jeweiligen Quartal um, 6/
dann stellt man erstaunlicherweise fest, dass eine Durchimpfung der deutschen Erwachsenen ebenfalls bis Ende Juli (wie für UK von Boris Johnson angekündigt) möglich erscheint. 7/
Bis dahin ist die Lieferung von über 130 Mio. Dosen geplant, eine Komplettimpfung von rd. 90 Mio. Personen wäre damit möglich (weil bei dem J&J-Impfstoff mit bis dahin angekündigten 10,1 Mio. Dosen nur eine Dosis nötig ist). 8/
Zum Abgleich: In Deutschland haben wir rund 70 Mio. Erwachsene, wovon 75 % angeben, sich „sicher“ oder „wahrscheinlich“ impfen lassen zu wollen. Ergäbe 52,5 Mio. Impfbereite. Bis Ende Juni werden >90 Mio. Dosen erwartet. 9/
Tatsächlich müssten die gelieferten Dosen so eigentlich auch schon bis Ende Juni reichen, um jeden impfwilligen Erwachsenen mindestens einmal geimpft zu haben, sogar ohne Veränderung des Impfprotokolls. 10/
Von der Impfstofflieferung (wenn sie denn kommt wie angekündigt) wäre es demnach möglich, bis Ende des zweiten Quartals Großbritannien beim Impfen eingeholt zu haben. 11/
„Müsste“ und „könnte“ verdecken natürlich die Schwierigkeiten. Natürlich kann es sein, dass Lieferpläne wieder gekürzt werden oder es Produktionsschwierigkeiten gibt. 12/
Was aber wichtiger scheint (und mit „Ansage“ ist): Im zweiten Quartal kämen nach den Lieferplänen pro Woche rd. 6 Mio. Dosen Impfstoff an, die verimpft werden müssen, um dies zu schaffen. (Wenn die Lieferungen nicht gleichverteilt sind, sogar mehr pro Woche.)13/
Hier liegt die Herausforderung. Ich habe leider nicht gefunden, welche Kapazitäten die Impfzentren bundesweit haben. Rechnet man die Berliner Kapazitäten auf den Bund hoch, wären wir bei etwa 450.000 Impfungen pro Tag oder rd. 3 Mio. Impfungen pro Woche. 14/
Hinzu kämen Hausärzte, Betriebsärzte und alle anderen, die noch impfen können. Wir haben in Deutschland etwas mehr als 50.000 HausärztInnen. Um insgesamt auf die übrigen 3 Mio. pro Woche zu kommen, müsste jedeR von 15/
diesen HausärtzInnen dann jede Woche 60 Personen impfen. Ob das realistisch ist, weiß ich nicht abzuschätzen – immerhin haben die ja anderes zu tun und sind z.T. auch in den Impfzentren eingesetzt. 16/
Ganz unrealistisch scheint das aber nicht zu sein. In einer üblichen Grippesaison werden innerhalb von zwei Monaten rd. 15 Mio. Dosen verimpft, also 1,875 Mio. pro Woche. 3 Mio. scheint da (aus Laiensicht) in Reichweite.17/
Diese Rechnungen zeigen aber, wo jetzt der Fokus liegen muss: Das System mit allen Möglichkeiten ertüchtigen, in dieser Größenordnung ab April impfen zu können, wenn ausreichend Impfstoffe ankommen. Dabei sollten keine Kosten gemieden werden. 18/
Wie schlimm ist es in diesem Zusammenhang, dass zunächst in der vergangenen Woche der AstraZeneca-Impfstoff nicht schnell genug verimpft wurde? 19/
Wenn ich es richtig sehe, sind etwas mehr als 1 Mio. Dosen AZ-Impfstoff geliefert worden, davon sind rund 270.000 verimpft. Bleibt ein Rückstau von 730.000 Dosen, wodurch die Lücke zwischen Lieferungen und Impfungen größer wird (siehe Grafik). 20/
Wenn es gelingt, die Logistik der Verimpfung so hochzufahren, dass wir tatsächlich im zweiten Quartal pro Woche 6 Mio. Dosen verimpft bekommen, dann bedeutet der aktuelle Rückstau beim Endpunkt der Verimpfung gerade einmal eine Verzögerung von einem Tag. 21/
Das klingt marginal, allerdings darf man nicht vergessen, dass andererseits die 730.000 nicht-verimpfte Dosen bedeuten, dass derzeit ebenso viele Menschen noch keinen Impfschutz haben, die sich in der Zwischenzeit anstecken können. 22/
Bei einer Inzidenz wie derzeit 60 pro. 100.000 Einwohner u. 7 Tage wären bei den 730.000 Nicht-Geimpften bis Ende Juni ca. 11000 zusätzlich Infizierte zu erwarten. Tragisch, aber auch nicht entscheidend im Gesamtbild der Pandemie. 23/
Jede Störung und Verzögerung ab April hat dagegen das Potenzial, dann mehr Verzögerung (und mehr zusätzlich Infizierte und Tote) zu bringen als die aktuelle Verzögerung bei der #AstraZeneca-Verimpfung, weil es dann täglich um viel mehr Impfungen geht. 24/
Bleibt zu hoffen, dass sich die Verantwortlichen diese Logik klar machen und jetzt das Verimpfen im zweiten Quartal gut vorbereiten. /END

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24 Feb
Important contribution to the output gap debate: Marcell Göttert & Timo Wollmershäuser from @ifo_institut present an approach how to use survey data to estimate output gaps. Some short comments in a #thread 1/

econpol.eu/publications/w…
Göttert and Wollmershäuser use survey data on capacity utilization to estimate output gaps. In comparison to the current approach by the EU_Commission, this can already be seen as an improvement as the measure is less susceptible to revisions of past values. 2/
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11 Feb
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30 Sep 20
Today we have published our new @IMKFlash economic forecast for Germany. The seven highlights in a #Thread below.
The full text (in German) can be found here:
imk-boeckler.de/download-proxy…
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#1: The statement that the #Covid19-crisis was the deepest crisis in post-war history remains only partly valid. For the year 2020 as a whole, we now see a decline in GDP of 5.2%. In 2009 the decline was „only“ 5.6% according to current data. 2/
#2: Over the course of the quarter, however, the slump in the second quarter was still by far the most severe since the start of quarterly data collection. As a rebound, the 3rd quarter now sees a record increase. 3/
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30 Sep 20
Wir haben heute unsere neue @IMKFlash Konjunkturprognose veröffentlicht. Die sieben Highlights im #Thread.

Der Gesamttext ist hier zu finden: imk-boeckler.de/download-proxy…
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#1: Es gilt nur noch eingeschränkt, dass die #Covid19-Krise die tiefste Krise der Nachkriegsgeschichte ist. Für das Gesamtjahr 2020 sehen wir jetzt einen Rückgang des BIP von 5,2 %. 2009 betrug der Rückgang nach aktuellem Datenstand 5,6%. 2/
#2: Im Quartalsverlauf war der Einbruch im zweiten Quartal allerdings immer noch mit Abstand der heftigste seit Beginn der Datenerfassung. Als Rückprall folgt im 3. Quartal nun ein Rekordanstieg. 3/
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29 Sep 20
Meine Verteidigung von @beyond_ideology gegen die Häme von @schnellenbachj hat auf #EconTwitter gestern viele Reaktionen verursacht. U.a. wurde mir „autoritärer Charakter“ und soziale Kälte vorgeworfen. Ein #Thread zur Klarstellung. 1/
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28 Sep 20
Unsere @imkflash Finanzexpertin @KatjaRietzler war heute im #Bundestag zur Anhörung der Wirkung des zweiten Familienentlastungsgesetzes + Teilabschaffung des #Solidaritätszuschlags. Hier ihre Stellungnahme: 1/
bundestag.de/resource/blob/…
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