Finde es gut, dass die Seuchenbekämpfung nun per Bundesgesetz gesteuert werden soll. Aber inhaltlich hält der Entwurf an vielen faulen Kompromissen der MPK fest und zementiert diese. Besonders problematisch scheint mir der Schwellenwert 100. Eine kurze Geschichte der Inzidenz 👇
Generell ist die Inzidenz, also die Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, ein guter Indikator: Das 7-Tage-Fenster bereinigt die Schwankungen im Wochenverlauf, die Normierung nach Einwohnerzahl macht unterschiedlich große Gebiete vergleichbar.
Infektionsmeldungen sind zwar von der Teststrategie abhängig, doch anders als Intensivpatienten und Todesfälle reagieren sie sehr schnell - für ein Frühwarnsystem sind sie die entscheidende Zahl.
Einen festen Grenzwert gibt es in Deutschland schon seit Mai 2020, auf Vorschlag von @HBraun. Der Kanzleramtschef hatte sich damals für die Schwelle 35 ausgesprochen. Bis zu diesem Wert seien die Gesundheitsämter in der Lage, die Infektionsketten nachzuverfolgen.
Um diesen Wert zu ermitteln, hatte Braun damals mit den Chefs mehrerer Gesundheitsämter gesprochen. So berichten es Katja Gloger und Georg Mascolo in ihrem Buch "Ausbruch". Keine besonders breite Datengrundlage also, aber ein einigermaßen sachlich begründbarer Wert.
Vielen Epidemiologen ist die Schwelle von 35 zu hoch. Bei einer Überschreitung könne die Lage sehr schnell außer Kontrolle geraten. Laut Berechnungen von @ViolaPriesemann sind nur Inzidenzen bis 7 wirklich stabil. Auf diesem Gedanken basiert auch #NoCovid. arxiv.org/pdf/2011.11413…
Vielen Ministerpräsidenten war die 35 jedoch seit jeher zu niedrig. Die MPK beschloss damals im Mai 2020, die Grenze erst bei einer Inzidenz von 50 zu ziehen.
Beide Werte, 35 und 50, sind inzwischen auch im Infektionsschutzgesetz verankert, § 28a.
gesetze-im-internet.de/ifsg/__28a.html
Als es Mitte Februar um einen Ausstieg aus dem Lockdown ging (trotz heranrollender dritter Welle, but that's another story), brachte die Bundesregierung erneut die 35er-Inzidenz ins Gespräch: Erst ab deren Unterschreitung solle gelockert werden.
CDU-Chef @ArminLaschet war empört: "Man kann nicht immer neue Grenzwerte erfinden". Wohlgemerkt: Laschet meinte die 35, die da bereits monatelang im Gesetz stand.
Als die dritte Welle dann vollends da war und die Fallzahlen wieder stiegen, einigte sich die MPK auf die sogenannte Notbremse. Die sollte weder ab 35 noch ab 50 greifen, sondern erst ab einer Inzidenz von 100. Plötzlich hatte Laschet kein Problem mehr mit neuen Grenzwerten.
Die 100 ist ein rein politischer Kompromiss. Nichtmal ihre Fans können dafür eine wissenschaftliche Begründung liefern. Die 100 beruht auf dem Prinzip Hoffnung, auf "Warten wir mal ab, vielleicht wird es doch nicht so schlimm." Sie steht exemplarisch für das Versagen der MPK.
Ich kann daher nicht nachvollziehen, dass die Bundesregierung nun der MPK das Pandemie-Management entreißt - und gleichzeitig einen der faulsten Kompromisse dieses gescheiterten Gremiums in Gesetzesrang erhebt.
Eigentlich betreibt die Bundesregierung mit dem @rki_de eine Behörde, die sie in solchen Fragen beraten soll. Dessen Konzept "ControlCovid" sieht bei einer Inzidenz von 50 schon Maßnahmen vor, die über die Notbremse hinausgehen. Die 100 taucht nicht auf. rki.de/DE/Content/Inf…
Hab das alles bei @zeitonline nochmal ausführlicher aufgeschrieben: zeit.de/wissen/2021-04…
Und nun durfte ich dazu auch noch ein paar Fragen von @jacarmesin beantworten: zeit.de/2021-04/bundes…

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11 Mar
Yes Folks, die dritte Welle ist da. Die Inzidenz steigt stabil, heute macht die Kurve nochmal einen kleinen Knick nach oben. Daher ein Thread zur Lage der Infektion 👇
Momentan ist der Ansteig gemächlich, die Kurve recht flach. Warum? Weil wir es mit zwei Epidemien zu tun haben. Der Sars-Cov-2-Urtyp geht weiter zurück, während sich die britische Mutante #b117 exponentiell ausbreitet.
Das spiegelt sich in der regionalen Verteilung wieder: In der Hälfte der Kreise dominiert die Mutante bereits, dort steigen die Zahlen (rot). Anderswo stagnieren oder fallen sie momentan. Da der Anteil der Mutante insgesamt zunimmt, wird sich das Wachstum wohl beschleunigen.
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19 Feb
Seit fünf Tagen stagniert die Inzidenz in Deutschland. Was bedeutet das? Schwer zu sagen, aber der Thread zur Lage der Infektion wird's versuchen.
Die Deutschland-Inzidenz ist nur ein Mittelwert der Bundesländer, und die zeigen unterschiedliche Bilder. Bayern und NRW ähneln dem Bund. Der Ex-Hotspot Brandenburg ist auf stabilem Kurs nach unten, in Thüringen steigen die Fallzahlen tendenziell wieder.
Die Länder sind wiederum nur das Mittel der Kreise... Und da ist es wirklich unübersichtlich. In der Mehrzahl der Kreise sinken die Inzidenzen (grüne Fläche), doch die Zahl derer im roten Bereich steigt. Tendenziell gilt: Sind die Fallzahlen schon niedrig, sinken sie auch weiter.
Read 9 tweets
5 Feb
Das ist der zentrale Chart dieser Tage.
Insgesamt gehen die Fallzahlen zurück, doch zugleich baut sich eine unsichtbare Welle auf, getrieben von #B117. Dazu gibt es erstmals Zahlen vom @rki_de. Analyse mit @ChristinaBerndt @s_muellerhansen @sz sueddeutsche.de/wissen/coronav…
Der R-Wert liegt gerade knapp unter 1, deshalb sinken die Zahlen. Da #B117 um 30-50% ansteckender ist, hat es einen eigenen, höheren R-Wert. So setzt sich die Mutante mit der Zeit durch. Derzeit macht sie laut RKI etwa 5.8% der Infektionen in Deutschland aus.
"Die Verdrängung der anderen Varianten durch B.1.1.7 deckt sich mit den Erwartungen basierend auf der Ausbreitung in England und anderswo", sagt mir @sbfnk, der die Mutante am @cmmid_lshtm erforscht.
Read 6 tweets
5 Feb
Mal wieder ein Thread zur Lage der Infektion.
Die Inzidenz geht weiter zurück, doch der Rückgang scheint sich zu verlangsamen - die Kurve flacht ab. Was könnte das bedeuten?
Zunächst mal ist ein gewisses Abflachen zu erwarten, schließlich haben wir es mit einer Exponentialfunktion zu tun. Die biegt sich nach links, wird also auf dem Weg nach oben steiler, auf dem Weg nach unten flacher.
Bislang ist für mich nicht klar zu erkennen, dass sich die Kurve *stärker als erwartet* abflacht. Epidemiologen beobachten das gerade sehr genau - denn ein stärkeres Abflachen könnte auf eine zunehmende Verbreitung von #B117 hindeuten.
Read 12 tweets
1 Feb
Eine häufige Frage dieser Tage: Wo passieren die ganzen Ansteckungen, trotz aller Maßnahmen? Einerseits ist das eine berechtigte Frage. Und ein echtes Ärgernis, dass wir die Antwort nicht kennen. Andererseits scheint mir die Erwartung dahinter überzogen und etwas naiv. Thread.
Fakt ist: Das @rki_de kann bei der Mehrzahl der Ansteckungen nicht sagen, wo sie passiert sind. "Unbekannt" ist bei weitem der häufigste Infektionsort (die graue Fläche im kleinen Diagramm). Image
Nun werden RKI und Gesundheitsämter viel kritisiert, dass sie diesbezüglich nicht mehr wissen. Einerseits zu Recht: Mit weniger Gefaxe, mehr Digitalisierung und mehr Datenaustausch ließe sich sicher noch die eine oder andere Erkenntnis rausholen.
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29 Jan
Vorläufige Zahlen von @destatis erlauben eine erste Bilanz der Sterblichkeit im Jahr 2020. Bundesweit sehen wir im Gesamtjahr eine leichte, zum Jahresende eine drastische Übersterblichkeit.
Analyse mit @munichrocker und @s_muellerhansen für @SZ
sueddeutsche.de/wissen/coronav…
Im Dezember sind 28% mehr Menschen gestorben als im Mittel der Vorjahre. Im Corona-Brennpunkt Sachsen waren es mehr als doppelt so viele. Die Übersterblichkeit übersteigt dort die vom @rki_de erfassten Covid-Todesfälle deutlich.
Im Gesamtjahr haben wir etwa 5% Übersterblichkeit, wobei 1-2% davon erwartbar waren wegen Schaltjahr, demografischem Wandel und steigender Lebenserwartung. Warum diese Jahresbilanz weniger über die Schwere der Pandemie aussagt, analysiert @destatis-Experte Felix zur Nieden:
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