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23 May, 41 tweets, 8 min read
Was ist die Aufgabe des Geschichtsunterrichts?
Zur Aufgabe des #Geschichtsunterricht s gab es kürzlich einen guten Thread von @An_Koer . Ich lese gerade dt Curricula des GU, die ja einen guten Blick darauf geben, was es da so für Zielvorstellungen gibt. Hierzu mein Thread.
Vorweg einen kurzen Verweis auf einen Text von Andreas Körber, der mich überhaupt dazu gebracht hat mir die Curricula anzuschauen: pedocs.de/volltexte/2012…. Hier schaut er sich die Curricula von Hamburg und Niedersachsen an.
Bei meiner Betrachtung der Curricula ging es mir vor allem darum heraus zu filtern, (1) was die Texte über die Aufgabe des Geschichtsunterrichts sagen und (2) welche Rolle sie der Vermittlung historischer Narrationen einräumen.
Der 1. Punkt ist schnell geklärt - also auf dem Papier zumindest: von allen betrachteten Curricula/Richtlinien (Geschichtsunterricht in Sekundarstufe 1) wird nur in einem Land NICHT die Herausbildung von Geschichtsbewusstsein genannt (Saarland, die waren schon immer etwas anders)
Jetzt ist das mit dem Geschichtsbewusstsein ja so eine Sache. Die geläufige Definition von Geschichtsbewusstsein ist nach Jörn Rüsen „Sinnbildung über Zeiterfahrung“. Klingt griffig, aber immer noch sehr unbestimmt.
Nicht ganz zufällig wurde dem Geschichtsbewusstsein auch vorgeworfen eben doch keine "Fundamentalkategorie" (Jacobmeyer) zu sein, sondern eine "Leerformel" (Rohlfes) und ich würde behaupten, dass der Blick auf die aktuellen Curricula das irgendwo bestätigt.
Man muss natürlich fair sein: Curricula sind keine wiss Texte - sie haben die klare Funktion zu strukturieren & dürfen pragmatisch verkürzen, point taken. Wenn aber ein zentrales Konzept ein offener Signifikant ist, ist es problematisch, nicht detailliert darauf einzugehen.
(Fuck, es war Bremen, sorry Saarland)
Hinzu kommt, dass trotz der Kürze (und der damit verbundenen Vagheit) der Definitionen offensichtliche Unterschiede in der Auslegung bestehen.
So soll das Geschichtsbewusstsein im saarl. Lehrplan z. B.„die Teilhabe am kulturellen Gedächtnis“ sowie „zu einer wertgebundenen Toleranz" hinführen und „zur mündigen Mitwirkung in Staat und Gesellschaft" befähigen“.
Im thüringischen Lehrplan etwa sieht das anders aus (aufgrund der Länge des Quotes hier ein Screenshot)
Nicht, dass ich die Definition im thüringischen Fall jetzt besser finde (sie ist nämlich immer noch extrem vage), aber sie klingt viel näher an dem dran, was ich aus der akadem. Geschichtsdidaktik so lese.
Insbesondere die Verbindung von Geschichtsbewusstsein und bürgerliche Teilhabe findet sich in zahlreichen Curricula. Kann man machen, aber was hat das wirklich mit historischem Denken zu tun? Relativ wenig, würde ich behaupten.
Und dann gibt es da noch einen Aspekt, der (zuweilen en passant) in Verbindung mit dem Ziel Geschichtsbewusstsein zu befördern, genannt wird: die Vermittlung historischer Narrativen gerne auch als "Wissen" geframed (hier ein Beispiel aus Bayern)
Diese Vermittlung ist mE erklärungsbedürftig - sie wird aber sehr selten wirklich begründet, sondern eher als relevant konstatiert. Bremen ist hier ein gutes Beispiel, weil es hier direkt zur Aufgabe des Unterrichts erklärt wird:
Es ist insofern erklärungsbedürftig, als man zwar davon ausgehen kann, dass Kompetenzvermittlung und historische Narrative im GU eine Doppelstruktur bilden (von Borries), hiermit aber keine Aussage über die Art der historischen Narrative getroffen ist.
Kurz gesagt (mit dem Beispiel von @larsdeile hier: link.springer.com/content/pdf/10…): man kann Kompetenzentwicklung auch mit der Kulturgeschichte des Saxophons betreiben, man benötigt nicht die altbekannten Klassiker.
Genau die werden aber in allen Curricula aufgegriffen: als "Themen" oder "Inhalte" oder "Gegenstände". In soweit ich sehe allen Fällen auch immer schön chronologisch geordnet.
Was ich mich hier frage: wenn das Ziel des Unterrichts die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein/historischem Denken ist, wie können dann historische Narrative wie „Karl der Große – Vater Europas“ als "Inhalte" verstanden werden?
Nach meinem Verständnis müssten vielmehr die unterschiedlichen Zielkompetenzen, die historisches Denken qualifizieren die "Inhalte" oder "Gegenstände" des Unterrichts definieren. Das scheint allerdings ein verwegener Gedanken zu sein.
Immerhin: einige Lehrpläne scheinen sich der Problematik des Umstands, dass historische Narrative da die Unterrichtsprogression strukturieren erkannt zu haben, so z.B. in Hessen zur Verwendung der vorgeschlagenen "Basisnarrative":
Ein netter Gedanke, aber mir drängt sich der Verdacht auf, dass der Unterricht am Ende dann doch wieder chronologisch abläuft. Nicht nur ist es im Curriculum so gelistet - es wird einfach mal seit der Zeit, in der der GU noch "Gesinnungsfach" war (Bergmann) war, so praktiziert.
Nochmal zu den "Basisnarrativen". Das wird von einigen Curricula mal eben so bezeichnet ohne es näher zu definieren, aber da hängen krasse Implikationen dran, z. B. dass das überhaupt ein sinniges Konzept (in einem Unterricht, der historisches Denken befördern soll) ist.
Diese Basisnarrative dienen aber in erster Linie den Zweck, ein bestimmtes Verständnis der Vergangenheit zu gewinnen - keine kritische Disposition oder so, einfach nur Wissen (weswegen es ja auch teilweise synonym behandelt wird)
Es gibt da auch einige Geschichtsdidaktiker*innen, die der Auffassung sind, dass historisches Lernen immer mit Gesinnungsbildung einhergeht (non-mention) - ich persönlich denke, dass es eine der Gesinnungsbildung entgegengesetzte Tätigkeit ist.
In den Lehrplänen überschneiden sich aber unterschiedliche Ambitionen und die Formulierungen tragen eher dazu bei, dass diese in einem einzigen Wust von Geschichtsbewusstseinsbildung vermischt werden, anstatt sie klar auseinander zu halten.
Mal im Ernst: Geschichtsunterricht hat so unglaublich viele Potenziale. Die gesamte Debatte um Fake News schreit förmlich danach, dass kommende Generationen dazu befähigt werden, selbständig Quellenarbeit zu betreiben, kritische Fragen zu stellen, gute Geschichten zu schreiben.
Stattdessen haben wir qua Curricula nach wie vor einen Ballast an Kulturwissen, dass Schüler die "Teilhabe" an einer Gesellschaft ermöglichen soll aka damit sie Teil der bürgerlichen Gesellschaft werden können.
Ich stelle mal die provokante These auf, dass es (auch) in der Zukunft vollkommen egal sein wird, ob SuS ein "Basiswissen" über Diktator*innen, Revolutionen oder Vorfahr*innen haben, solange sie nur dazu in der Lage sind, gut zu recherchieren und kritische Fragen zu stellen.
Leider ist es so, dass sich eine Reihe von Akteur*innen auf der These einer friedlichen Koexistenz von historischen Narrativen ausruhen können den Status quo durch reines Aussitzen (und zuweilen durch Aufstehen und Lärmen) aufrechterhalten können.
Ein Beispiel für Letzteres ist die Lehrplanreform in Berlin und Brandenburg, zu der ich mal einen Text in der ZDG geschrieben habe, der leider nicht digital zugänglich ist
Ich habe bei Durchsicht meiner Materialien die ganzen Zitate (vermutlich wütender) Lehrer*innen aus dem Dunstkreis des VGD gelesen, die mir erklären, weswegen der GU dringend dieses Basiswissen benötigt, was böse Geschichtsdidaktiker*innen abschaffen wollen. Sehr erheiternd.
So, jetzt muss ich mal einen Strich unter dem Rant machen, ich hoffe es war irgendwem von Nutzen. Mich hat es sehr erfolgreich von der Fertigstellung meines dritten Kapitels abgehalten.
Vielleicht so abschließend mein Fazit zu den Curricula: ich habe den Eindruck, dass in den ganzen Floskeln der Lehrpläne die zentralen Fragen nicht geklärt werden und es drängt sich mir der Verdacht auf, dass das nicht ganz unbeabsichtigt ist
Denn wenn man näher hinschaut, ist die Strukturierung des Unterrichts anhand eines oder historischen Narrativs nicht wirklich schlüssig. Sie wäre es mE selbst dann nicht, wenn der Vorgang nicht chronologisch wäre (was aber, wie gesagt, eigentlich überall der Fall ist).
Strukturieren muss das, was für den Unterricht zentral ist. Wenn die Vermittlung von Geschichten im Mittelpunkt steht, there you go, dafür sind die bestehenden Curricula prima geeignet. Aber wenn historisches Denken im Zentrum steht, dann muss eben dies die Struktur vorgeben.
Was ich übrigens gerne gemacht hätte: eine Sammlung all der tollen grafischen Unterrichtsmodelle, davon gibt es nämlich einige, die das Herz eines Grafikmonks hochleben lassen. Hier nur kurz eines als Beispiel für einen abschließenden Exkurs:
Symptomatisch ist dieser Zeitstrahl "Vergangenheit > Gegenwart > Zukunft". Da wird im Grunde die zeitliche Progression von Narrationen auf eine konzeptionelle Ebene gehoben. Geradeso als ob die drei Begriffe kategorisch identisch sind (weil alle Zeitbezug haben).
Quelle ist der Lehrplan für den Sek I GU in Schleswig-Holstein
Aus analytischer Sicht sind Gegenwart einerseits und Vergangenheit|Zukunft andererseits aber grundverschieden. Das eine ist "handeln", das andere ist "Erzählung|Projektion". So einen theoretischen Kram kann man SuS nicht zumuten, nehme ich mal an.

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