Wir haben dank Impfung, Vorsichtsmaßnahmen und Saisonalität eine niedrige Inzidenz in Deutschland erreicht. Das sollten wir jetzt nicht leichtfertig verspielen.
Jetzt hat die Delta-Variante in Deutschland klar die Oberhand und macht die Eindämmung etwas schwieriger. Aber wir haben so viele recht einfache Möglichkeiten und Vorsichtsmaßnahmen, die uns wenig einschränken. - Hier kann jeder einen kleinen Beitrag leisten, denn:
Niedrige Inzidenzen sind der beste Schutz für Schulen und für vulnerable Personen.
Bei hoher Inzidenz kann man versuchen, "die Schulen" und "die vulnerablen Personen" zu schützen. Der beste Schutz ist aber eine niedrige Inzidenz, denn jedes Sicherheitskonzept hat Lücken.
Es konnten noch bisher nicht alle Menschen ein Impfangebot wahrnehmen. Ob, und wann Kinder geimpft werden sollte, ist weiterhin unklar.
Und es ist unklar, ob (oder wann) sich eine neue Variante (VOC) mit partiellem Immunescape entwickelt.
Je niedriger die Inzidenzen, desto weniger "Wirte" hat das Virus. Das verzögert die Entwicklung einer neuen VOC.
Und sollte sie sich anderswo entwickeln, dann können wir sie bei niedrigen Inzidenzen besser eindämmen.
Bei der Ausbreitung von VOCs spielen Reisen und im Zweifel auch geimpfte Personen, eine Rolle:
Wenn sich eine VOC irgendwo auf der Welt entwickelt, und sie sich auch gut durch geimpfte Personen übertragen lässt, dann kann diese VOC mit Reisenden nach Deutschland kommen.
Eine solche Einschleppung wird sich nicht ganz verhindern lassen, aber sie kann sich deutlich verzögern lassen.
Deswegen mein Appell: Für alle, besonders für Reisende, und nach großen Treffen:
- Schnelltests nutzen, um in den Tagen nach Reisen/Feiern/großem Treffen einige Male zu testen (Inkubationszeit ist recht variabel), Kontakte für einige Tage reduzieren und genau auf Symptome achten.
Und falls ein Test mal positiv sein sollte oder es einen Verdachtsgrund gibt, kann es helfen, selbständig die Kontaktpersonen zu warnen. Das sind ja meist Familie, Freunde, KollegInnen, die das Virus vielleicht nicht weitertragen wollen. -
(Diese Maßnahmen und alle anderen sind ja eigentlich bekannt. Sorry für die Wiederholung.)
Aber warum, und vor allem wie lange, sollte man weiter vorsichtig sein?
Wie lange: Zumindest bis alle Menschen, die wollen und können, einen Impfschutz haben (ca. Oktober). Dann kann man die Situation neu bewerten. Sollte es bis dahin keine neue VOC geben, dann sieht es gut aus.
Warum die Inzidenz niedrig halten?
- Bei einer 800er Inzidenz müssten so viele Menschen in Quarantäne (einige Prozent!), dass man die allein schon auf der Arbeit fehlen würden.
Auch bei der Krankenversorgung würden diese Menschen fehlen: Oder will man potentiell infizierte und deren enge Kontakte dort arbeiten lassen? - Diese Ausfälle müssen von KollegInnen übernommen werden kommen zu der sowieso schon hohen Belastung hinzu.
Bei dem aktuellen Stand der Impfungen würde eine so hohe Inzidenz auch die Intensivstationen wieder zügig füllen, eventuell auch überfüllen.
Wegen der schlechteren Kontaktnachverfolgung wird die Dunkelziffer höher. - Es gibt mehr Menschen, die nicht wissen, dass sie das Virus tragen, und diese geben es dann unwissentlich weiter. - Diese Personen tragen maßgeblich zur Ausbreitung bei.
Sicherheitskonzepte haben Lücken. Wenn die Inzidenz hoch ist, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass es auf einer Veranstaltung zu einem Superspreading Event kommt, oder dass vulnerable Personen infiziert werden.
Und ja - Mortalität und Morbidität wie bekannt, sowie long-COVID (bisher noch weniger gut quantifiziert).
Ist das jetzt ein Horrorszenarium?
Jein: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir dahin geraten, wenn man vorsichtig genug ist.
Die Niederlande haben aber auch gezeigt, dass die Inzidenzen innerhalb kürzester Zeit um mehr als einen Faktor 10 steigen können. --
Und die eine Unbekannte, nach der ich meine KollegInnen aus Virologie und Immunologie immer wieder frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich eine Variante entwickelt, die für geimpfte den Schutz von derzeit rund 95 % auf 80 % oder weniger senkt? ---
Das wissen wir derzeit nicht.
Aber wir wissen, dass niedrige Inzidenzen die Entwicklung einer solchen VOC verzögern und es einfacher machen, die Ausbreitung zu Verlangsamen.
Für alle, die einen Ausblick auf die kommenden Monate und Jahre lesen wollen, hier unsere aktuelle Einschätzung mit über 20 ExpertInnen aus Europa:
arxiv.org/pdf/2107.01670

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More from @ViolaPriesemann

9 Jun
Inzidenzen können auch im Sommer steigen.
Das zeigt England trotz seines recht hohen Impflevels.

(Interaktive Graphik: ourworldindata.org/explorers/coro…)
Es bleibt also ein Balanceakt:
Öffnen so viel wie möglich - aber nicht zu viel: Es gibt noch zu viele Menschen, die das Impfangebot noch nicht wahrnehmen konnten und nicht gegen einen schweren Verlauf geschützt sind.
Wo ist die Grenze der Öffnungen? Das werden wir in den kommenden Wochen austarieren müssen. Es hängt vom Impffortschritt ab, von VOCs wie #DeltaVariant und vom Engagement der einzelnen.
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19 May
Ist es möglich, dass manche Journalisten den negativen Szenarien mehr Aufmerksamkeit schenken als den positiven?
Sehr geehrter Herr @OlafGersemann,
es freut mich, dass Sie sich für meine Forschung interessieren.
Der Satz (13.März) den Sie nennen, bezieht sich auf unsere Studie arxiv.org/pdf/2103.06228…. Und in der Studie zeigen wir zwei extreme Szenarien:
(1) Es wird schneller gelockert, als der Impffortschritt es erlaubt. Dann könnten(!) die Intensivstationen noch über Wochen gefüllt sein.
(2) Es wird langsamer gelockert, als der Impffortschritt es erlauben würde. Dann sinken die Inzidenzen.
Read 7 tweets
19 May
@OlafGersemann Sehr geehrter Herr @OlafGersemann,
es freut mich, dass Sie sich für meine Forschung interessieren.
Der erste Satz (13.März) den Sie nennen, kommt aus unserer Studie arxiv.org/pdf/2103.06228… und in der Studie zeigen wir zwei extreme Szenarien:
@OlafGersemann (1) Es wird schneller gelockert, als der Impffortschritt es erlaubt. Dann könnten(!) die Intensivstationen noch über Wochen gefüllt sein.
(2) Es wird langsamer gelockert, als der Impffortschritt es erlauben würde. Dann sinken die Inzidenzen.
@OlafGersemann In beiden Szenarien sind die Lockerungsschritte recht ähnlich. Im ersten Fall wird anfangs etwas schneller gelockert, im zweiten wird etwas langsamer gelockert. Mittelfristig macht das einen grossen Unterschried für die Inzidenz. Das ist die Kernaussage unserer Studie.
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9 May
Der Rückgang kann aber auch schneller sein:
Mit zunehmender Impfung und Saisonalität könnte man womöglich schon in 2-3 Wochen unter 50 sein --- wenn sich das Verhalten der Menschen nicht ändert.
Der Rückgang kann aber auch langsamer sein.

Wie sehr die Abschätzungen von den Annahmen über Kontakte und Ansteckung abhängen, zeigt das folgende Beispiel:
Wenn es nur 1 Infektion mehr gibt je 20 Infektionen, dann macht das den Unterschied zwischen R=0.9 (was wir etwa derzeit etwa haben) und R=0.95.

Um unter 50 zu kommen, braucht man ab jetzt:
mit R=0.9 rund 5 Wochen,
mit R=0.95 rund 10 Wochen.
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9 May
Die Aufhebung von Corona-Auflagen für Geimpfte und Genesene belastet nach Einschätzung des Deutschen Ethikrats vor allem die jüngere Generation und wird in der Gesellschaft zu Konflikten führen. Ethikratsvorsitzende Alena Buyx sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe:
»Kinder, Jugendliche, Auszubildende und Studentinnen sind nicht geschützt und dürfen weniger. Geimpfte dagegen haben den doppelten Vorteil: Sie sind geschützt und dürfen mehr.« Damit gebe es ein echtes Solidaritäts- und Gerechtigkeitsproblem mit sozialer Spannung. Quelle:
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8 May
Ich möchte zwei Punkte ergänzen:
(1) In der Physik ist es für uns selbstverständlich, dass wir unsere Arbeit auf öffentlichen Plattformen wie github machen --- Schritt für Schritt bis sie fertig ist.
Das ist toll, denn so kann man sich mit KollegInnen über die Arbeit austauschen, auch bevor sie fertig ist.
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