Guten Morgen und willkommen zurück in der wunderbaren Welt der Sprache
Heute möchte ich mit euch über ein weniger schönes Thema sprechen: bedrohte Sprachen und Sprachtod 💀
commons.wikimedia.org/wiki/File:Papy…
💀 Das Konzept von ausgestorbenen Sprachen ist uns ja allen bekannt. Ihr kennt ägyptische Hieroglyphen, hattet vielleicht Latein oder Altgriechisch in der Schule und das Bild oben zeigt eine Sprachen, mit der ich mich für meine Masterarbeit beschäftigt habe: Reichsaramäisch
💀Die meisten Linguist*innen stimmen darin überein, dass eine Sprache als ausgestorben gilt, wenn sie keine Sprecher*innen mehr hat, bei manchen müssen es genauer Muttersprachler*innen sein
💀 Es gibt so Sonderfälle wie Latein, das zwar schon seit hunderten von Jahren keine Muttersprachler*innen mehr hat, aber noch in bestimmte Kontexten (Liturgie, Vatikan) verwendet wird – aber meistens bedeutet ausgestorben auch "nicht mehr in Verwendung".
💀 Dass Sprachen sterben ist nicht ungewöhnlich – die Geschwindigkeit mit der es aktuell passiert bereitet aber vielen Linguist*innen Sorgen. Einerseits bedeutet es einen Verlust für die Sprechergemeinschaft, andererseits verschwindet auch unsere Forschungsobjekte.
💀 Einige Linguist*innen schätzen, dass im Jahr 2100 50-90% der aktuell gesprochenen Sprachen bedroht oder ausgestorben sein könnten (Austin & Sallabank 2011: 2)
Bildbeschreibung: bräunliches Papyrus, stark kaputt, mit schwarzer Tinte beschrieben
💀Am Montag hab ich euch erzählt, dass 4% der Menschheit ca. 7000 Sprachen sprechen – viele dieser Sprachen haben weniger als 1000 Sprecher*innen.
💀 Eine geringe Sprecherzahl bedeutet nicht automatisch, dass eine Sprache vom Aussterben bedroht ist, aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit dazu.
💀 Die UNESCO hat eine Klassifikation für den Bedrohungsgrad von Sprachen entwickelt (die folgenden Beispiele entsprechen der UNESCO Klassifizierung):
unesco.org/new/en/culture…
💀 1. sicher (safe) – Alle Generationen sprechen die Sprache, sie wird ungehindert an kommende Generationen weitergegeben. (Beispiel: Deutsch, Englisch, Französisch…)
💀 2. potenziell gefährdet (vulnerable) – die meisten sprechen die Sprachen, aber nur in bestimmten Situationen, z.B. zuhause (Beispiele: viele Deutsche Dialekte, Baskisch, Walisisch)
Solche Sprachen können durch (staatlich geförderte) Erhaltungsprogramme oft bewahrt werden
💀 3. sicher gefährdet (definitely endangered) – Kinder erwerben die Sprache nicht mehr zuhause als Muttersprache (Beispiele: Sorbisch, Irisch)
auch diese Sprachen können durch Programm (z.B. Unterreicht an Schulen) noch „gerettet“ werden
💀 4. ernsthaft gefährdet (severely endangered) – die Großelterngeneration spricht die Sprache noch, die Eltern verstehen sie, sprechen sie aber nicht mit ihren Kindern (Beispiele: Nord- & Saterfriesisch, Bretonisch)
💀 5. kritisch gefährdet (critically endangered), oft auch moribung (totgeweiht) – die jüngsten Sprecher*innen gehören der Großelterngeneration an und auch sie sprechen die Sprache nur noch selten oder eingeschränkt (Beispiele: Saami, viele australische Sprachen)
💀 6. ausgestorben (extinct) – keine Sprecher*innen mehr

Ich hab als Beispiele bekanntere Sprachen gewählt, klickt euch gerne selbst durch den Atlas:
unesco.org/languages-atla…
💀 Anhand der Definition für die Bedrohungsgrade sehen wir, dass Sprachen dann vom Aussterben bedroht sind, wenn sie nicht an nachkommende Generationen weitergegeben werden, also Eltern die Sprache nicht mit ihren Kinder sprechen.
💀 Warum sie das nicht tun, dafür gibt es viele verschiedene Faktoren. Einige schauen wir uns gleich am Beispiel der Nordhalmahera-Sprachen an.
💀 Falls ihr noch mehr zum Thema wissen wollt, dann lest euch gerne dieses Interview mit Professor Himmelmann aus Köln durch: faz.net/aktuell/feuill…
💀 Es gibt auch ein Buch zum Thema auf Deutsch vom sehr einflussreichen Linguisten Nick Evans „Wenn Sprachen sterben“
Mir wurde allerdings schon von nicht-Linguist*innen gesagt, dass es eher kompliziert zu lesen ist.
Wir sehen uns gleich auf Halmahera wieder 🌊 – stellt mir in der Zwischenzeit gerne eure Fragen!
Referenz: Austin, Peter K & Julia Sallabank. 2011. "Introduction". In Austin, Peter K & Sallabank, Julia (eds.). The Cambridge Handbook of Endangered Languages. Cambridge University: CUP.

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22 Oct
Ihr alle kennt das Konzept von verwandten Sprachen und wisst, dass z.B. Deutsch und Niederländisch verwandt sind. Ihr kennt auch Stammbäume, z.B. für eure eigene Familie. Woher wissen wir, welche Sprachen verwandt sind und in einen Stammbaum gehören? 🌳
(Bild: Anthony 2007: 12) Sprachstammbaum Oben zentra...
🌳 Der extrem komplexe Stammbaum im vorherigen Tweet (der eigentlich mehr aussieht wie ein umgedrehter Stammbusch) ist ein möglicher Stammbaum für die indoeuropäische (oder indogermanische, kurz IE) Sprachfamilie. Wie werden uns den gleich im Detail anschauen.
🌳 (Hinweis: Ich schmeiße gleich viel mit Sprachnamen um mich, falls ihr eine davon nicht kennt, dann fragt bitte (oder googlet))
Read 26 tweets
21 Oct
Den Satz „Sprachwandel ist ganz natürlich!“ liest man so oder so ähnlich ziemlich oft auf Twitter, vor allem wenn es um Dinge wie Gendern oder Jugendsprache geht. Aber was bedeutet das genau? 🌀
🌀 Sprachwandel ist, oh Wunder, Veränderungen in einer Sprache. „Natürlich“ bezieht sich darauf, dass Sprachwandel in allen lebenden Sprachen vorkommt, er ist unmöglich aufzuhalten und quasi ein natürliches Beiprodukt menschlicher Kommunikation.
🌀 Dass Sprachwandel existiert können wir leicht erkennen, indem wir uns einen beliebigen Text nehmen, der älter ist als, sagen wir mal, 50 Jahre. Schon nach so einer relativ kurzen Zeit sollten Veränderungen in der Sprache auffallen.
Read 20 tweets
20 Oct
So, da bin ich wieder. Ich wollte euch ja noch was zum Thema Sprachdokumentation 📒 erzählen.
📒 Bei der Sprachdokumentation werden Sprachen aufgezeichnet und meisten auch ihre grammatischen Merkmale untersucht.
Nach einer Schätzung meiner Linguistikprofessorin in Köln sind nur ca. 500(!) der ca. 7000 Sprachen beschrieben, also nur knapp 7%.
📒 Sprachen sind auch unterschiedlich gut beschrieben. Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es weitaus mehr Material zu Englisch und anderen großen europäischen Sprachen als zu anderen Sprachen.
Read 15 tweets
20 Oct
Bei der Frage, was ist so schlimm daran, wenn eine Sprache ausstirbt, ist vielleicht ein Gedankenexperiment sinnvoll.
Stellt euch vor, ihr wandert nach China aus und sprecht mit euren Kindern nur Chinesisch, kein Deutsch. Was sind die Konsequenzen? ☠️
☠️Ihr möchtet euren Kindern euer Lieblingsbuch aus Kindertagen vorlesen, aber es gibt keine chinesische Übersetzung. Die könnt ihr jetzt selbst machen oder es seinlassen.
Auch deutsche Märchen funktionieren auf Chinesisch nicht so wie auf Deutsch.
☠️Eure Kinder finden es sehr witzig, wenn ihr deutsche Sprichwörter versucht auf Chinesisch auszudrücken. Aber die chinesischen aufzunehmen fällt euch auch schwer, schließlich habt ihr die Sprache erst als Erwachsene*r gelernt.
Read 15 tweets
20 Oct
🌊 So, nachdem wir uns eben Sprachbedrohung im Abstrakten angeschaut haben, betrachten wir jetzt im Konkrete die Nordhalmahera-Sprachen.
Dabei werden uns viele Faktoren begegnen, die auch in anderen Teilen der Welt relevant sind
🌊Von den 10 Sprachen, die ich euch am Montag vorgestellt habe, habe ich zu 5 Daten zur Sprachsituation: Ternate, Tidore, Sahu, Tobelo & Pagu.
🌊 Die Informationen sind teilweise über 20 Jahre alt, also könnte sich in der Zwischenzeit viel verändert haben.
Read 24 tweets
19 Oct
Guten Abend, wie versprochen schauen wir uns jetzt ein konkretes Beispiel für die problematische Unterscheidung von Dialekten und Sprachen an, nämlich die Nordhalmahera-Varietäten Ternate und Tidore 🏝️.
Hier könnt ihr etwas Hintergrund wissen nachlesen:
🏝️ Ternate und Tidore waren beide mächtige Sultanate und die beiden Lekte (Sprachvarietäten) werden oft als eigenständige Sprachen geführt und beschrieben.
Linguist*innen wie Voorhoeve (z.B. 1988) sagen aber, es würde sich um zwei Dialekte einer Sprache handeln.
🏝️ Wir hatten heute Morgen gesehen, dass Sprachen und Dialekte meist auf soziolinguistischer Basis unterschieden werden und Linguist*innen auch oft versuchen, das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit anzuführen.
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