1. In #Karlsruhe sind morgen um 9.30 Uhr zwei Entscheidungen zu erwarten. In beiden Entscheidungen wir es um die „Bundesnotbremse“ gehen, um § 28b IfSG, der auf Initiative der Bundeskanzlerin im April 2021 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. #Corona
2. § 28b IfSG, der nur bis Ende Juni 2021 in Kraft war, ordnete – je nach „Inzidenzwerten“ – bundesweit Beschränkungen und Schließungen automatisch an, ohne dass es noch einer Landesverordnung oder einer sonstigen Umsetzung bedurfte.
3. Ab einem „Inzidenzwert“ von 100 galt eine automatische nächtliche Ausgangssperre, und man durfte zuhause nur jeweils einen Besucher empfangen; ab einem „Inzidenzwert“ von 165 mussten alle Schulen schließen.
4. Gleichfalls in §28b IfSG geregelt waren Vorschriften zur Schließung von Theatern und Kinos, Gaststätten, Einzelhandelsgeschäften, Fitnessstudios, Friseurläden und zahlreiche weiteren Einrichtungen.
5. Es gibt auch gegen diese Vorschriften Verfassungsbeschwerden, über die allerdings morgen nicht entschieden wird.
6. Morgen wird es nur – in einer Entscheidung - um die Ausgangssperre und um Besuchsverbote in den eigenen vier Wänden gehen sowie – in der anderen Entscheidung – um die Schulen.
7. Als Kanzlei sind wir für Landtagsabgeordnete der Freien Wähler an einem Verfahren zur Ausgangssperre beteiligt, an den Verfahren zu den Schulen sind wir nicht beteiligt.
8. In den Verfahren zu den Schulen hat das BVerfG im Juni 2021 zahlreiche Experten um Stellungnahmen gebeten, und zwar nicht nur Mediziner, sondern auch Bildungsforscher und Kinderpsychologen. Die Experten erhielten lange Fragenkataloge, und die Fragen waren z Teil sehr kritisch.
9. Daher wage ich die Prognose, dass Karlsruhe die „Bundesnotbremse“ hinsichtlich der Schulen für verfassungswidrig erklären wird. Eine automatische Schulschließung ab einem bestimmten „Inzidenzwert“ wird es dann in Zukunft von Verfassungs wegen nicht mehr geben dürfen.
10. Gegen die Ausgangssperre haben wir vorgebracht, dass es sich um eine Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG) handelt, die nach dem Grundgesetz nur im Einzelfall, aber nicht flächendeckend per Gesetz angeordnet werden darf.
11. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist die Freiheit der Person zudem „unverletzlich“.
12. Darüber hinaus haben wir eingewandt, dass e flächendeckende Ausgangssperre unverhältnismäßig ist, da ihre Geeignetheit z Vermeidung einer Überlastung d Krankenhäuser u Intensivkapazitäten u zur Vermeidung v Ansteckungen ohne Rücksicht auf örtl Besonderheiten nicht belegt ist.
13. . Zudem seien die „Inzidenzwerte“ nicht hinreichend aussagekräftig, um an diese Werte gravierende Grundrechtseingriffe anzuknüpfen.
14. Im Juni 2021 übersandte das BVerfG einen vergleichsweise kurzen Fragenkatalog an einige Experten, ausschließlich aus dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereich.
15. In seinen Fragen interessierte sich Karlsruhe für die Aussagekraft der „7-Tage-Inzidenz“, für Erkenntnisse über Ansteckungswege und –orte sowie über die Wirksamkeit von Kontaktbeschränkungen.
16. Die „7-Tage-Inzidenz“ wurde bereits im Sommer 2021 als Anknüpfungspunkt für Corona-Maßnahmen aus dem Infektionsschutzgesetz gestrichen und durch Bezugnahmen auf eine „Hospitalisierungsrate“ ersetzt.
17. Prognosen zum Ausgang der Ausgangssperren-Entscheidung darf man von mir nicht erwarten. Morgen früh wissen wir mehr. Allerdings sind verschiedene Entscheidungsvarianten denkbar:
18. Variante 1: Das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde statt, weil es der Auffassung ist, dass der „Inzidenzwert“ kein tauglicher Anknüpfungspunkt für die Anordnung von Ausgangssperren ist.
19. Dies wäre eine vergleichsweise „unpolitische“ Entscheidung, da der „Inzidenzwert“ im Infektionsschutzgesetz bereits durch die „Hospitalisierungsrate“ ersetzt wurde.
20. Variante 2: Das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde statt, weil es Ausgangssperren generell für unverhältnismäßig oder aus anderen Gründen für verfassungswidrig erachtet. Dies wäre ein voller Erfolg.
21. Variante 3: Das BVerfG weist die Verfassungsbeschwerde ab mit der Begründung, dass im April 2021 die Erkenntnislage über Ansteckungswege unsicher war und der Gesetzgeber daher einen großen Entscheidungsspielraum hatte.
22. Dieser Entscheidungsspielraum werde jedoch im Verlauf der Pandemie kleiner, der Gesetzgeber sei verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sich die Daten-/Erkenntnislage durch systematische Forschung und Datenerhebung verbessert.
23. Eine solche Entscheidung würde den Regierungen und Parlamenten „Hausaufgaben“ geben. Der von der Ampel angekündigte #Krisenstab wäre eine gute erste Antwort.
24. Variante 4: Das Gericht winkt alles durch und weist die Verfassungsbeschwerde uneingeschränkt ab.
25. Jede der vier Varianten wirkt sich auf die Entscheidungsspielräume aus, die die Regierenden in der derzeitigen Phase der Corona-Politik haben. Daher ist es völlig logisch, dass man die Entscheidung abwartet und morgen Nachmittag über die Konsequenzen berät.
26. Last but not least: Das BVerfG hat es seit April 2020 konsequent vermieden, rote Linien der Corona-Politik zu markieren. Morgen sind solche roten Linien zu erwarten, die sich auch im „Kleingedruckten“ finden können.
27. Denn es ist guter Brauch in Karlsruhe, dass man sich bei Grundsatzentscheidungen auch zu Fragen äußert, auf die es im konkreten Fall gar nicht ankommt, die den Bürgern und den Regierenden jedoch Orientierung geben.
28. Und zu allerletzt: Zu dem Ablehnungsbeschluss für unsere Befangenheitsanträge haben wir vor mehr als einem Monat eine „Gegenvorstellung“ eingereicht und das Gericht gebeten, den eigenen Beschluss noch einmal kritisch zu prüfen. Wir haben seitdem aus Karlsruhe nichts gehört.
29. Daher zum Schluss noch eine weitere Prognose: Unsere „Gegenvorstellung“ wird morgen mit allenfalls kurzer Begründung zurückgewiesen werden. /

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