.@c_drosten hat heute im Podcast gesagt: "Wir müssen an einigen Stellen die Tür für das Virus ein bisschen weiter öffnen und können und dürfen das auch." (bei 1:24:00)
Ich sehe das anders. Wir dürfen dem Virus keinen Fußspalt die Tür öffnen. 🧵 1/
Ich schätze Drosten sehr, aber ich halte es aus ethischen Gründen für geboten, vorerst einen restriktiveren Kurs zu fahren. Ein wichtiger Grund ist das Precautionary Principle: Wir müssen sorgsam die Risiken bedenken, bevor wir ein Wagnis eingehen. 2/
Hier ist das Wagnis die Endemie bzw. unser Umgang damit: Dürfen wir im endemischen Zustand Infektionen zulassen, da eine Grundimmunität vorliegt, oder müssen wir auch dann eine Niedriginzidenzstrategie verfolgen? 3/
Drosten und viele Experten (vielleicht die Mehrheit?) halten das für möglich, während andere der Auffassung sind, dass auch in der Endemie erhebliche Maßnahmen erforderlich seien, weil Sars-CoV-2 nicht zu einem harmlosen Erkältungsvirus werden würde. 4/
Eine risikoethische Vorgehensweise besteht darin, den erwartbaren Nutzen und Schaden einer Handlung zu betrachten (auch im Hinblick auf deren Wahrscheinlichkeit) und sie mit alternativen Handlungsoptionen zu vergleichen. 5/
Die Risiken einer Endemie ohne Niedriginzidenz wären immens: Eine dauerhaft hohe Krankheitslast - auch durch Long Covid und andere Langzeitschäden - sowie viele Todesfälle und daraus resultierende Effekte für Wirtschaft und Gesellschaft. 6/
Der Nutzen hingegen wäre ein Verzicht auf regelmäßige Impfungen und Maßnahmen. Bei einer Niedriginzidenzstrategie wären Nutzen und Risiken entsprechend umgekehrt. 7/
Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Nutzen und Risiken können andere besser beurteilen, hier möchte ich annehmen, dass sie gleichwahrscheinlich seien. 8/
Man sieht leicht, dass selbst bei utilitaristischer Bewertung das aggregierte Risiko einer ungebremsten Endemie viel größer als der aggregierte Nutzen wäre. 9/
Doch gerade in der Pandemie wird deutlich, wie wenig vertretbar eine utilitaristische Ethik ist: Sie würde prinzipiell erlauben, auf Maßnahmen zu verzichten, solange der aggregierte Nutzen durch Clubnächte etc. den Schaden durch Krankheit und Tod überwiegt. 10/
Man wird also weitere Überlegungen berücksichtigen müssen, z.B. eine faire Verteilung der Risiken. Es ist eben nicht statthaft, dass viele Party machen, wenn als Folge davon Immunsupprimmierte im Wortsinn um ihr Leben fürchten müssen. 11/
Kurz, solange es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die pessimistischen Szenarien nicht eintreten, sollten wir eine Niedriginzidenzstrategie verfolgen und nicht auch noch den Übergang in den endemischen Zustand durch eine Nachdurchseuchungswelle beschleunigen wollen. 12/
Ein Kurswechsel ist später immer noch möglich. Dann könnte hoffentlich auch von verbesserten/angepassten Impfstoffen oder neuen Medikamenten Gebrauch gemacht werden. 13/
Drosten mag zu einer anderen Einschätzung kommen. Vielleicht denkt er, dass wir aus diesen oder jenen Gründen eine bestimmte Krankheitslast hinzunehmen hätten. Im Detail mag man darüber diskutieren können, aber ich halte die Risiken insgesamt einfach für zu groß. 14/
Leider neigt Drosten dazu, nicht klar zu sagen, was er aus wissenschaftlicher, ethischer und politischer Sicht für richtig hält, sondern bezieht sich häufig auf das politisch Realistische und gesellschaftliche Erwartungen. 15/
Beispiel: Bei einer geringeren Krankheitslast würden weniger Maßnahmen erwartet. Oder es sei der politische Wille, die Schulen offen zu halten. Mir ist nicht immer klar, ob Drosten das selber für richtig hält. 16/
Doch so schaffen Wissenschaftler erst die Legitimationsgrundlage für politische Entscheidungen und gesellschaftliche Entwicklungen, die sie - womöglich zu Unrecht - für unabwendbar halten. Wissenschaftler sollten für sich selbst sprechen, ohne Kompromisse zu antizipieren. 17/
Ich bin mir also unsicher, ob Drosten wirklich denkt, wir sollten den Übergang in die Endemie beschleunigen, indem wir dem Virus die Tür ein wenig öffnen. 18/
Es ist ja ohnehin die Frage, ob sich eine noch größere Überlastung des Gesundheitssystems nur dann verhindern lässt, wenn wir mit aller Kraft #OmikronStoppen. Sehr riskant, Omikron den kleinen Finger zu geben. 19/
So, und nun hoffe ich, dass mein Thread nicht dazu verwendet wird, um Drosten böse Absichten zu unterstellen. Wie so viele schätze ich seine Integrität und sein wissenschaftliches Ethos. Nicht auszudenken, er würde den Podcast nicht machen, dann fehlte wertvolle Orientierung. 20/
Meine Befürchtung ist jedoch, dass wir in einen unerträglichen endemischen Zustand hineingeraten, der uns völlig unvorbereitet träfe. Würden wir all das vermeidbare Leiden einfach hinnehmen, weil ja Endemie ist? Wann würden wir einsehen, dass zusätzliche Maßnahmen nötig sind? 21/
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Wenn man weiß, dass Omikron eine Bedrohung für die kritische Infrastruktur ist, wieso setzt man nicht alles daran, Omikron einzudämmen oder wenigstens die Kurve abzuflachen? Stattdessen will man die Quarantäneregeln aufweichen. Diese Pandemie-Politik ist verabscheuungswürdig. 1/
Diesmal gibt es wirklich keine Ausrede: Die Restaurants und die Schulen bleiben offen, obwohl mit einem hohen Personalausfall gerechnet wird. Nein, die Leute können nicht nur deswegen nicht arbeiten, weil sie in Quarantäne sind, sondern weil sie krank werden! 2/
Es ist wichtig zu begreifen, was für eine Bedrohung Long Covid für die Arbeitsfähigkeit bedeutet: Viele Infizierte können monatelang nicht arbeiten. Manche scheiden vielleicht ganz aus dem Erwerbsleben aus. Das Problem wird mit der Lockerung von Quarantäne-Regeln nicht gelöst. 3/
Die #Stiko hat heute ein Statement veröffentlicht, in welchem sie sich gegen den Vorwurf verwahrt, sie gebe ihre Impfempfehlungen zu langsam heraus. Lobenswert: Sie macht ihre Maximen weitgehend transparent - endlich. Nur sind das keine guten Praktiken. 1/ rki.de/DE/Content/Kom…
Der unten zitierte Satz ist insofern richtig, als die Stiko rasch gehandelt hat, wenn sie es für erforderlich gehalten hat. 2/
Doch bei Kindern wartet die Stiko deswegen ab, weil sie das Risiko für Kinder für sehr gering hält - eine Auffassung, die klarerweise falsch ist. Entsprechend raten die Impfkommissionen in z.B. den USA oder Österreich dringend zur Impfung. 3/
Zeit für eine Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede. Wir haben es mit dem Wildtyp aufgenommen, mit Alpha, mit Delta - und dann sollten wir vor dem schrecklichsten Feind einfach die Waffen strecken? Ist es so weit mit uns gekommen? 1/
Wovor sollten wir mehr Angst haben - vor dem Verlust von Kontakten oder dem Verlust von Freunden? Vor monatelangen Schulschließungen oder monatelangem Long Covid? Vor einem einsamen Weihnachten oder einsamen Beerdigungen? 2/
Wir verplempern unsere Zeit damit, darüber zu diskutieren, ob die Infektionszahlen gerade zurückgehen (sehr zweifelhaft). Dabei steht die Katastrophe vor der Tür. In anderen Ländern verdoppelt sich Omikron alle zwei (!) Tage. 3/
Ich will auf die Frage, ob die #Kinderdurchseuchung von der Politik gewollt wird, noch mal ausführlicher eingehen. 🧵
Sicher ist es nicht so, dass die Durchseuchung der Kinder von irgendjemandem als intrinsisch wertvoll angesehen wird (ein paar Sadisten mag es dennoch geben). 1/
Es macht jedoch einen Unterschied, ob etwas erstrebt wird, weil dadurch ein bestimmter Zweck erreicht werden soll, oder ob bloß die Verhinderung von etwas nicht erstrebt wird. Das heißt: Durchseucht man die Kinder, um die Pandemie abzukürzen, oder lässt man es einfach laufen? 2/
Die These, dass die Kinderdurchseuchung aktiv befördert wird, um schneller in den endemischen Zustand zu gelangen und dadurch Maßnahmen zu verhindern, erfreut sich bei einigen großer Beliebtheit. Das ist zudem der Inhalt der GBD, die Anhänger in Wissenschaft und Politik hat. 3/
Der neue Tageshöchststand von gestern ist heute noch mal übertroffen worden. Wir brauchen jetzt dringend eine #Notbremse, um wenigstens das Allerschlimmste zu verhindern. Die alten Maßnahmen müssen zurückkommen, auch für Geimpfte. 1/
Wir werden nicht mehr verhindern können, dass wohl schon nächste Woche einige Intensivstationen überlastet sein werden. Doch wir könnten dafür sorgen, dass sich das Geschehen bis Weihnachten wieder beruhigt. Es geht nur noch um Schadensbegrenzung. 2/
Da es sich um eine Notbremse handelt, können Geimpfte, die ja bekanntlich das Virus weiterverbreiten können, nicht von den Maßnahmen ausgenommen werden. Auch um Schulschließungen kommen wir nicht herum. Ich weiß, das wollten wir vermeiden. Die Politik hat anders gehandelt. 3/
Das neueste Paper der Berliner Corona-Schulstudie (BECOSS) kommt laut Tagesspiegel zu dem Schluss, dass Schulen "keine Infektionsherde" seien, dass aber die Lebensqualität der Schüler während der Schulschließungen litt. Nun ratet, was das Problem ist. 1/ plus.tagesspiegel.de/wissen/covid-1…
Genau - die Schulen waren zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht im Präsenzunterricht. Die Autoren der Charité führten zwei Testreihen mit PCR-Tests durch: Im Februar dieses Jahres, als die Schulen geschlossen waren, und im März, als Wechselunterricht stattfand. 2/
Wenn die Inzidenz bei den Schülern dann niedrig ist, zeigt das allenfalls, dass Schulschließungen und Wechselunterricht geeignete Maßnahmen sind, um Infektionen zu reduzieren. Da brauchen wir gar nicht mal über andere methodische Probleme dieser Studie zu reden. 3/