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Homosexualität als Straftat
in Deutschland

-ein Thread-
Kaiser Karl V. ist 1532 vermutlich der erste Herrscher auf deutschem Boden, der Homosexualität strafbar macht.
Im ersten deutschen Strafgesetzbuch, der Constitutio Criminalis Carolina heißt es ab 1532 unter §116: "Wenn Man mit Man, 
Weib mit Weib, Unkeusch treiben, 
die haben das Leben verwuerkt und sollen der gemeinen Gewohnheit nach mit dem Feuer  vom Leben zum Tode gerichtet werden."
1794 legt Preußen im Allgemeinen Landrecht statt der Todesstrafe für homosexuelle Handlungen "nur" eine Gefängnisstrafe von mindetsens 2 Jahren mit körperlicher Züchtigung und anschließender Verbannung fest.
Mit Napoleon wird die Verfolgung von Schwulen in vielen linksrheinischen Gebieten gestoppt, auch Bayern lässt den Paragraphen wie alle Paragraphen zu opferlosen Verbrechen fallen.
1870 setzt Otto von Bismarck sich im neuen Deutschen Kaiserreich dafür ein, Homosexualität aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung wieder zu verbieten.

Dies legt den Grundstein für mehr als 120 Jahre Verfolgung, Mord & Diskriminierung von Homosexuellen in Deutschland.
Nach der Verurteilung des schwulen Schriftstellers Oscar Wilde in England im Jahre 1897 gründete sich auch in Deutschland mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) erstmals eine Schwulenbewegung. Man forderte die Abschaffung des Paragraphen 175.
Die Bemühungen zur Abschaffung von §175 stützen sich vor allem auf die erstmals aufkommende These, dass Homosexualität angeboren sei.
Der Arzt und Vorsitzende der WhK Magnus Hirschfeld startet 1897 eine Petition zur Abschaffung von §175, die 6,000 Unterschriften erhält und vom Sozialdemokrat August Bebel 1898 in den Reichstag eingebracht wird, sie bleibt ohne Erfolg.
Im Kaiserreich werden nur zwischen 1902 und 1918 schließlich aufgrund von vermeintlich homosexuellen Handlungen insgesamt 6,460 Männer angeklagt, also durchschnittlich ungefähr 17 Jahre lang einer pro Tag.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es seitens der Regierung aufgrund der Häufigkeit von Vorfällen Bemühungen, §175 wieder auf Frauen auszuweiten (Entwurf siehe unten), dazu kommt es aufgrund des WW1 & des Untergangs des Kaiserreiches jedoch nicht.
„Die Gefahr für das Familienleben und die Jugend ist die gleiche. Daß solche Fälle in der Neuzeit sich mehren, ist glaubwürdig bezeugt. Es liegt daher im Interesse der Sittlichkeit wie der allgemeinen Wohlfahrt, daß die Strafbestimmungen auch auf Frauen ausgedehnt werden.“
Bestrebungen linker Parteien §175 abzuschaffen scheitern auch in der Weimarer Republik an fehlenden Mehrheiten.

Stattdessen versucht man, den Paragraphen von Anal- & Oralsex auch auf andere Handlungen auszuweiten:
„[...] daß die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten & das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes & zum Verfall seiner Kraft.“
In der Weimarer Republik werden zwischen 1919 und 1933 insgesamt 9,605 Männer aufgrund von vermeintlich homosexuellen Handlungen angeklagt.
Unter den Nazis wird 1935 der §175 erheblich verschärft und umfasst jetzt alle Handlungen zwischen Männern, die als "wollüstig" interpretiert werden können. Bereits Worte, Blicke und harmlose Berührungen reichen aus um den Tatbestand zu erfüllen.
Die Nazis begründen ihre Schwulenverfolgung mit „der sittlichen Gesunderhaltung des Volkes“, denn „erfahrungsgemäß“ habe Homosexualität die „Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung“ und übe „einen verderblichen Einfluß“ auf die „betroffenen Kreise“ aus.
Die Nazis fürchten auch die Unterwanderung des Staates durch Schwule, diese seien in der Politik ohnehin nicht zu dulden, da sie wie Frauen von "Motive[n] beherrscht werden, die nicht vorausgesehen werden können". Schwule seien sozusagen Frauen im männlichen Gewand [sic!].
Die Nazis nutzten §175 allerdings auch um willkürlich Staatsfeinde, beispielsweise Kirchenvertreter, denen man sonst nichts nachweisen konnte zu verurteilen, da man sich gegen diese Anschuldigung kaum wehren konnte.
Im Dritten Reich haben einige Angeklagte die Möglichkeit zu ihrer Verteidigung in einem Bordell mit einer weiblichen Prostituierten zu beweisen, dass sie zu heterosexuellem Sex fähig waren, die arische Rasse also fortführen können und werden daraufhin freigesprochen.
Viele Schwule heiraten unter dem NS-Regime Frauen und gründen als Tarnung Familien, meist mit Erfolg. Wird eine solche Fake-Ehe aufgedeckt, werden häufig auch die Frauen als Mittäterinnen verurteilt.
Insgesamt werden im Dritten Reich zwischen 1933 und 1945 rund 100,000 Männer als schwul erfasst, knapp 50,000 werden wegen Homosexualität abgeurteilt. Die Strafe beträgt offiziell zwischen 6 Monaten und 10 Jahren, realistisch sind meist allerdings mindestens 5 Jahre.
Etwa 10,000 bis 15,000 "Mehrfachtäter" kommen aufgrund des §175 in Konzentrationslager, wo sie durch einen rosa Winkel gekennzeichnet werden. Nur 40% dieser überleben.
Nach der Befreiung durch die Alliierten wird ein Großteil der schwulen KZ-Häftlinge direkt in Gefängnisse gebracht, da der §175 weiterhin besteht und sie ihre Haftstrafe noch nicht vollkommen abgesessen haben.
Auch in den Jahren nach 1945 gibt es zunächst keine Rehabilitation der unter §175 verurteilten, wer seine Entschädigung einklagt wird wegen seines Outings direkt wieder nach §175 angeklagt.
In der DDR bleibt Homosexualität mangels schädigender Folgen für die sozialistische Gesellschaft ab 1957 straffrei.
Das Schutzalter für homosexuellen Sex bei Männern und Frauen liegt allerdings ab 1968 bei 18 Jahren, während es für Heterosexuelle keines gibt.
1987 urteilt ein DDR-Gericht, dass „Homosexualität wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“
Das Schutzalter für homo- und heterosexuellen Sex wird in der DDR 1988 schließlich einheitlich auf 16 Jahre festgelegt.
In der BRD hingegen kommt es zwischen 1950 und 1969 zu mehr als 100.000 Ermittlungsverfahren und etwa 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen aufgrund des fortbestehenden §175.
Einige Richter in der BRD empfinden den §175 als falsch und sprechen nur sehr milde Urteile (z.B. 1951 in Hamburg: Geldstrafe von 3 DM).
Eine Anklage nach §175 hat jedoch weiterhin immense Folgen für die Männer: Gesellschaftliche Ächtung, Verlust von Arbeit, Wohnung, Familie, Freundeskreis. Viele fliehen oder nehmen sich das Leben.
In den 1950er Jahren gibt es Verfassungsbeschwerden gegen §175, diese bleiben jedoch erfolglos.
Die unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Homosexualität erklärt ein Gericht in der BRD mit biologischen Gegebenheiten und dem „hemmungslose Sexualbedürfnis“ des homosexuellen Mannes...
1969 wird §175 in der BRD erstmals entschärft: strafbar sind jetzt nur noch homosexuelle Handlungen mit Männern unter 21 Jahren, wenn der andere älter als 21 oder beide zwischen 18 und 21 sind. Sind beide jünger als 18 oder älter als 21 Jahre bleibt es straffrei.
Ab dem 23. November 1973 gilt in der BRD für homosexuelle Handlungen nur noch ein Schutzalter von 18 Jahren, heterosexuelle Handlungen bleiben ohne Schutzalter.
Die FDP forderte zur Bundestagswahl 1980 die rechtliche Gleichstellung der Homosexualität und die Aufhebung von §175, können dies in ihrer Koalition mit der Union jedoch nicht durchsetzen.
Als 40 einzelne Abgeordnete und die Grünen 1989 einen Entwurf zur ersatzlosen Streichung von §175 in den Bundestag einbringen, stimmen CDU, FDP und SPD dagegen.
Erst als am 31. Mai 1994 nach der Wiedervereinigung die Strafgesetze von DDR und BRD angeglichen werden, wird der §175 endlich ersatzlos gestrichen und ein einheitliches Schutzalter von 14 Jahren festgelegt.
Erst am 17. Mai 2002 (symbolisch: 17.5. = §175) beschließt der Bundestag gegen die Stimmen von CDU und FDP eine Ergänzung zum Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile die auch Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen zwischen 1933 und 1945 aufhebt.
Weiter Anträge von Grünen und Linken auch alle späteren Verurteilungen aufgrund des Nazi-Gesetzes aufzuheben wurden von SPD, CDU und FDP zunächst blockiert.
Erst am 22. März 2017 beschloss der Bundestag das Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG).
Die circa 5,000 zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Geschädigten erhalten für jedes aufgehobene Urteil 3,000€ Entschädigung und weitere 1,500€ pro angefangenen Haftjahres. (Zum Vergleich: zu Unrecht Verurteilte erhalten seit 2009 in DE normalerweise 9,100€ pro Haftjahr)
Hi, hat das überhaupt alles jemand gelesen? :33 :(
Quellen (unvollständig) /
Weitere Infos:

- "Der Paragraf 175", Deutschlandfunk Nova
-deutschlandfunk.de/oscar-wilde-ei…
- de.m.wikipedia.org/wiki/%C2%A7_175
- schwulencity.de/carolina116.ht…
- sueddeutsche.de/leben/homosexu…
- sueddeutsche.de/politik/paragr…
- Film: "Der Staat Gegen Fritz Bauer"
- Film: "Paragraph 175"
Vor allem diesen sehr persönlichen Artikel kann ich jedem nur ans Herz legen. Sehr bewegend.
sueddeutsche.de/leben/homosexu…
Meine Uroma, die im dritten Reich groß geworden ist, erzählt mir, dass "175er" im Volksmund lange eine gewöhnliche Bezeichnung für Schwule war. Und so ab den 60ern habe es auch immer wieder Schwule gegeben, die provokant & als Protest ein Nummernschild mit "175" wählten.
Offenbar gab es auch die "175" als Erkennungszeichen untereinander auf Nummernschildern, Kleidung, Armbändern usw.
Allein, dass darüber in der Schule nicht geredet wird & es auch sonst nicht im gesellschaftlichen Diskurs stattfindet, zeigt, dass Deutschland nicht der Meinung ist, dass wir dazu gehören oder dass unsere Geschichte in irgendeiner Form bedeutsam sein könnte.
Es geht übrigens auch anders, sogar direkt im Nachbarland.
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