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Auf Empfehlung von @konkret und @Jungle_World hin habe ich mir den Film "Midsommar" von Ari Aster angesehen. (Hier die Rezension der Jungle World: jungle.world/artikel/2019/3…). Ich weiß noch nicht genau, was ich vom Film halten soll, außer dass ich ihn wahrscheinlich nicht noch ein
zweites Mal sehen werde. Vielleicht ist es ein Film nur für Horror-Fans, und die haben großen Spaß dran. Jedenfalls erst einmal ein paar Gedanken zu den Rezensionen in Jungle World und konkret, dann ein paar eigene Gedanken zum Film, und dann zu dem, was ich am verstörendsten
finde: die Rezensionen von normalen Menschen auf Youtube. Googelt einfach "the ending of Midsommar explained", da werdet ihr allerhand Schräges finden. - Also erst einmal zu den Rezensionen in Jungle World und konkret, durch die der Film für mich erst interessant wurde: Dort wird
betont, dass die Reise ins Herz der Finsternis nicht nach Zentralafrika führt, sondern nach Schweden (manche spotten: in einen IKEA-Werbespot, aber ich sehe nicht genug fern, um dies beurteilen zu können), in die einen Ort, wo die man noch nach Bräuchen und Gesetzen der
vorchristlichen Zeit lebt, zu den blutrünstigen Bräuchen der europäischen Frühzeit, den Ursprüngen weißer Kultur, die dann als pathologisch enttarnt werden (so weit die Rezension in der konkret.) In der Rezension der Jungle World ist ebenfalls von heidnischen Legenden und
vorchristlicher Vergangenheit. Der Regisseur habe sich im im "Goldenen Zweig" von James George Frazer und bei Rudolf Steiner informiert. Mich wundert, dass da niemand stutzig geworden ist. Rudolf Steiner, der Erfinder der Anthroposophie, war kein Anthropologe; er hat sich alles
nur zusammengesponnen beziehungsweise in der Ashara-Chronik durchschaut. Über den "Goldenen Zweig" kann man etwas auf Wikipedia nachlesen, der Autor hatte kannte sich mit Bräuchen tatsächlich aus, aber seine Theorien gelten mittlerweile als überholt. Wenn der Autor von einer
Projektion auf weiße Vorgeschichte spricht, kommt er der Wahrheit wahrscheinlich näher, als wenn er behauptet, das Ättastuppa-Ritual hätte es tatsächlich gegeben. Die Gemeinschaft der Hårga ist auch irgendwie genauso "arisch" wie die SS - mit einem Volk der Frühgeschichte, falls
es je ein solches gab, haben sie nichts zu tun. - Anthropologen, Frühgermanisten und ähnliche Leute sind damit besschäftigt, auszusortieren, auf welchen Ergebnissen der Forschungsarbeit ihrer Vorgänger aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sie mit einer gewissen Vorsicht
aufbauen können und was sie am besten sofort ins Reich der Phantasie verbannen, wo es hingehört. Zum Beispiel sieht man schnell, dass die Hårga mit den historischen Wikingern nichts zu tun hatten. Diese schlossen sich nämlich nicht von der Außenwelt ab, zum Leidwesen der
Außenwelt, und was immer sie bewog, zum Christentum zu konvertieren, es lag nicht daran, dass sie erobert worden wären. --- Die Hårga sind also keine Gemeinschaft, die uralten heidnischen Bräuchen folgt, das wäre allerhöchstens ihr Selbstbild, und dieses Selbstbild zu akzeptieren
heißt auf sie hereinzufallen. Die Hårga leben eine faschistische Vision dessen, was es heißt, Germanen oder Wikinger zu sein, sie sind aber durch und durch modern. (Das gilt natürlich insbesondere für ihre eugenischen Programme.) - Nun zu meiner eigenen Sicht auf den Film. Durch
die Rezensionen in konkret und Jungle World hatte ich mich, wie gesagt, vorab informiert, dazu kamen die "shortcuts" von der ARD. Ich wusste also schon ungefähr, worum es ging, und wurde von der scheinbaren Idylle nicht getäuscht. (Wird überhaupt jemand getäuscht?) Durch den
Sorting algorithm of mortality, den ich auf TVTropes gefunden hatte ( org/pmwiki/pmwiki.php/Main/SortingAlgorithmOfMortality ) war auch klar, dass Dani die höchste Lebenserwartung hat. Ich konzentrierte mich auf die Kleinigkeiten: ihre dysfunktionale Beziehung zu Christian, die
eigentlich beide beenden sollten, weil weder sie noch eher vom jeweils anderen bekommt, was er oder sie will. Aber beide hängen einander, und obwohl Christian sie nicht mehr liebt, emfindet er Mitleid oder hat ein schlechtes Gewissen und macht nicht Schluss, sondern lädt sie ein,
mit nach Schweden zu kommen. Vielleicht die stärkste Szene, die zeigt, wie die Beziehung funktioniert oder nicht funktioniert, war die, wo Dani kurz nach der Ankunft bei den Hårga sagt, dass sie erst einmal keinen Pilze wolle. Sie könnten nun entweder beide keine Pilze nehmen,
oder sie könnten sich einigen, dass Christian mit seinen Freunden die Pilze nimmt, während sie nüchtern bleibt; stattdessen nimmt sie am Ende doch Pilze in Form von Tee, nachdem sie dreimal gesagt hat "nein, es ist okay, wenn du die Pilze nimmst" und er dreimal gesagt hat "nein,
es ist okay, wenn ich auf dich warte." - Dann wurde mir der Alptraum klar, in welchem Dani praktisch seit ihrer Ankunft steckte: Irgendwo im dünnbesiedelten Schweden ohne ein Möglichkeit, auf eigene Faust abzureisen. (Mir ist das einmal passiert: Mein damaliger Freund hatte mich
zu seinen Freunden in die norddeutsche Pampa mitgenommen, alle spielten irische Folkmusik, aber ich konnte nicht mitspielen, weil ich mein Instrument nicht dabei hatte und weil nicht nach Noten gespielt wurde - die Stücke sind so leicht, dass ich sie ohne weiteres vom Blatt hätte
spielen können, dabei bin ich nicht einmal besonders musikalisch. Das heißt, ich war von der zentralen Gruppenaktivität ausgeschlossen, landete in der Küche, half beim Kochen und trank nebenher ungefähr einen Liter Wein. Hinterher nahm ich mir vor, nie wieder irgendwohin zu
fahren, wo ich nicht auf eigene Faust weg käme, aber einmal machte ich noch diesen Fehler, mit dem gleichen Freund. Mit einem Freund, der größere Rücksicht auf meine Bedürfnisse genommen hätte und nicht nur erwartet hätte, dass ich auf seine Bedürfnisse Rücksicht nehme, wäre das
allerdings nicht passiert. - Einige Zeit später dachte ich: Was hat sie da getan? Sie hat sich in eine Situation gebracht, in der sie das Anhängsel ist. Mark, Josh, Pelle und Christian sind Anthropologen, die sich aus wissenschaftlichen Gründen für diese Gemeinschaft
interessieren, und sie ist die Freundin, die mitgefahren ist. Dabei hat sie doch auch ein eigenes Leben, oder sollte ihr Urlaubssemester nutzen, um sich nach dem Tod ihrer Familie ein neues eigenes Leben aufzubauen. - Es folgen die ersten Szenen, wo jemand stirbt, zunächst die
beiden Alten, die sich opfern, weil sie nach den Regeln der Gemeinschaft nun zu alt zum Weiterleben sind. (Freiwilligkeit ist eine problematische Angelegenheit, wenn die Erwartungen von außen sehr hoch sind.) Mittlerweile kann ich mir solche Szenen kaum anschauen, weil ich zu
sehr damit beschäftigt bin, mir vorzustellen, was in den Beteiligten vorgeht, welche Angst vor Tod und Schmerz und welchen Schmerz sie am Ende fühlen. Auch dass hinterher die Hårga nicht einmal, sondern mehrere Male auf den Schädel des alten Mannes einschlagen, konnte ich kaum
ansehen. - Das britische Paar, das nicht von Pelle, sondern von seinem Bruder Ingmar zum Fest eingeladen wurde, reagiert am eindeutigsten: "Das ist krank". Anschließend wird erst er, dann sie umgebracht: man erzählt ihr, er sei zum Bahnhof gebracht worden, und sie sei
anschließend dran. - Eigentlich müsste der Rest der Gruppe jetzt misstrauisch werden, in Panik geraten und darüber nachdenken, wie sie wegkommen, aber Christian und Josh denken an ihre geplanten Diplomarbeiten über die Hårga statt daran, ob sie in Gefahr sein könnten, und ob Mark
überhaupt etwas denkt, ist unklar. Dani misstraut der Angelegenheit, aber sie hat auch nicht wirklich Angst, sie denkt über den Beziehungsaspekt nach, dass Simon angeblich zum Bahnhof gefahren worden sei, ohne Conni Bescheid zu sagen, sie denkt darüber nach, dass Christian dazu
auch fähig wäre, aber nicht darüber, dass Conni vielleicht Recht haben könnte, wenn sie sagt: "Das würde Simon nie tun!" - Vielleicht war der Film für mich auch deswegen so seltsam, weil es keinen Augenblick gibt, ab welchem die Gäste der Hårga wirklich Angst haben und ihre
Gedanken nur noch auf die Frage richten, wie sie entkommen können. Josh schleicht sich bespielsweise in den Raum ein, in welchem das heilige Buch aufbewahrt wird, um es zu photographieren, obgleich ihm dies ausdrücklich verboten wurde, ohne zu überlegen, dass er entdeckt werden
könnte, mit den entsprechenden Konsequenzen. Als Josh und Mark und auch das heilige Buch verschwunden sind, versucht Christian, sich herauszureden: Er habe damit nichts zu tun. Weder er noch Dani haben noch irgendwelche Widerstandskraft gegen die Hårga, sie tun jetzt, was ihnen
aufgetragen wird. Dani wird in die Gemeinschaft integriert, sie trägt nun das typische weiße bestickte Kleid der dortigen Frauen. Zuvor schon hat sie einmal beim Kochen geholfen. Jetzt nimmt sie am Maitanz teil. In gegenläufiger Richtung hüpfen mehrere Kreise von jungen Frauen um
den Baum herum, komplizierte Schrittfolgen sind nicht zu erkennen, und wer erschöpft zusammenbricht, scheidet aus. Wer am längsten durchhält, wird Maikönigin (dabei ist bereits Juni), und Dani hält am längsten durch und wird gekrönt und Mitglied der Gemeinschaft. Christian muss
sich in der Zwischenzeit mit einer der jungen Frauen der Hårga paaren, ein anderes Wort ist leider nicht angemessen für das, was sie tun. Sie hat ihn gewählt, die anderen Dorfbewohner halten es für wünschenswert, dass eine Linie von außen in die durch Inzucht bedrohte
Gemeinschaft eingekreuzt wird. Die Männer lassen ihn Dämpfe einatmen, um seine Potenz zu steigern, und mehrere Frauen sind während des Akts anwesend, allesamt nackt, und legen sogar Hand an. Als er fertig ist, verlässt Christian panikartig den Raum, rennt splitternackt durch die
Gegend auf der Suche nach einem Ort, wo er erst einmal allein sein kann und gerät ausgerechnet in den verbotenen Tempel, wo er die ermordeten Freunde findet: Connie, Simon, Josh und Mark. Er wird von den Männern der Gemeinschaft der Hårga überwältigt und gefesselt zu Dani
gebracht, die als gekrönte Maikönigin erfährt, dass bei diesem Sonnwendfest neun Menschen geopfert werden, die beiden Alten, die bereits tot sind, die vier Freunde, die ebenfalls bereits tot sind, zwei weitere Hårga, die sich freiwillig gemeldet haben, und sie muss nun
entscheiden, ob entweder Christian oder noch ein Hårga, der durch das Los bestimmt wird, geopfert wird. Auch dies war eine Szene, bei der ich nicht hinschauen konnte. Ich dachte: Was wird sie tun? Sie war mir von allen, die aus den Vereinigten Staaten zu den Hårga gereist waren,
die sympathischste, und ich konnte mich sogar für sie freuen, dass sei von den Frauen der Gemeinschaft integriert wurde und am Maitanz teilnehmen durfte - solche Tänze können schließlich Spaß machen. Ich wünschte, Christian würde die Avancen der jungen Hårga akzeptieren, aber
nicht in einem bizarren Sex-Ritual, Dani würde die Trennung von Christian akzeptieren und neues Glück unter den Hårga suchen - aber es war auch klar, dass dies alles nur funktionieren kann, wenn man ausblendet, dass die Hårga Mörder sind. Wer möchte Mitglied einer Community von
Mördern werden? - Wie wird sie sich entscheiden? Die einzige moralische Entscheidung wäre, sich zu weigern, zu sagen: "ich werde nicht wählen", und hinterher versuchen, gemeinsam mit Christian oder, wenn das nicht möglich ist, alleine zu entkommen, und zu akzeptieren, was
hinterher passiert. Dani entscheidet, dass Christian geopfert werden soll, er wird durch Drogen betäubt in das Fell eines Bären eingenäht und anschließend mit den Toten und den beiden noch lebenden Freiwilligen der Hårga lebendig verbrannt. Dani und anderen Hårga sehen zu, erst
selbst in Schmerz erstarrt, aber dann lächelt Dani. Dies ist der schrecklichste Moment des Films. - Nun zu den Amateur-Rezensionen, die ich gefunden habe. Menschen haben Spaß daran, die Zusammenhänge der vielen Bilder, die die Innenwände der Häuser der Hårga schmücken, mit der
Handlung des Filmes in Beziehung zu setzen oder die Bedeutung der grauenhaften Todesarten zu erklären, etwa dass Mark das Gesicht abgeschnitten oder Simon der Rücken aufgeschnitten wurde, und sie suchen heraus, dass es sich um den "Blutaar", eine grausame Hinrichtungsart der
Wikinger handelt. Aus den Horrorszenen wird ein intellektuelles Spiel. Zweitens wird der Film konsequent aus der Perspektive Danis gedeutet. Dazu gibt es auch einige Aussagen des Regisseurs: Für die Männer Josh, Mark und Christian sei die Reise nach Schweden ein Alptraum, für
Dani aber eine Wunscherfüllungsphantasie. Er selbst habe gerade eine sehr komplizierte Trennung durchgemacht und sich von dieser erholt, während er an "Midsommar" arbeitete. Okay. Identifiziert er sich mit Dani, die unter ihrem empathielosen Freund litt, oder litt er unter dem
der Freundin, die ihn am liebsten umgebracht hätte, als er sich von ihr trennte? - Einige der Amateurrezensenten, die auf Youtube oder in ihren Blogs Kritiken veröffentlichen, meinen, es sei Christian Recht geschehen, dass Dani sich entschieden hätte, ihn zu opfern. Hätte er sich
doch mal ein wenig einfühlsamer verhalten. Stattdessen sei es emotionaler Missbrauch, was er betreibe: Er bringe Dani ständig dazu, sich für Dinge zu entschuldigen, für dies sie sich nicht zu entschuldigen brauche. Umgekehrt behauptet einer der Freunde, es sei Missbrauch, was
sie mit ihm mache: Statt mit ihm Sex zu haben, jammere sie ihm ständig vor, wie stark ihre bipolare Schwester sie belastet. Als die Schwester sich tatsächlich umbringt und die beiden Eltern noch dazu, ist er kaum noch imstande, sie zu trösten. Eine Freundin von Dani redet Dani
zu, sich von ihm zu trennen, ein Mann, der ihr ständig das Gefühl gibt, zu anstrengend zu sein, ist nicht der Richtige für sie. - Vielleicht wäre es am besten, wenn ohne großes moralisches Urteil anerkannt würde, dass Christian mit ihr überfordert und eine Trennugn am besten ist,
aber das gelingt den beiden nicht. Jedenfalls bin ich etwas befremdet, wenn behauptet wird, dass Christians Tod die Strafe für seine fehlende Empathie und sein toxisches Verhalten sein soll. Ich bin auch befremdet, wenn behauptet wird, dass Dani am Ende endlich eine Familie
gefunden habe, die mit ihr mitfühlt: die Hårga scheinen die Gefühle der anderen Gruppenmitglieder nachzuempfinden, indem sie deren Gefühlsäußerungen, zum Beispiel Danis Schreie, nachdem sie Christians Treuebruch entdeckt hat, "spiegeln", aber ich zweifle, ob dies tröstlich ist
die jeweiligen Emotionen nur verstärkt, statt sie zu beruhigen. Und wenn man mit den Menschen, die man selbst verbrennt, mitempfindet, hat das mit Empathie oder Teilnahme nichts zu tun - die sollte man empfinden, bevor man die Menschen verbrennt, und sie dann eben nicht
verbrennen. Und die Vorstellung, dass Dani bei den Hårga eine Katharsis erlebt und eine neue Familie findet, ist etwas befremdlich.
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