, 23 tweets, 4 min read
Longread

Von dem Schrecken der frühen #Baseballschlaegerjahre habe ich damals kaum etwas mitbekommen. Ich besuchte die Grundschule in meiner Geburtsstadt, die damals noch Hauptstadt der Bundesrepublik war.
Meine Mutter verfolgte mit dem Bügeleisen in der Hand Fernsehberichte über „Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten“ und mein siebenjähriges Ich dachte, es geht darum, mit welcher Hand man schreibt.
Die ersten richtigen Glatzen sah ich als Teenager spätabends auf einem Bahngleis. In der Bahnhofshalle lief ein Punkkonzert mit 300 Besuchern. Bis dort die Meldung über Nazis am Gleis ankam.
Drei Klischeeglatzen rannten quer über die Schienen. Ein Typ mit blauem Iro pisste auf eine Bomberjacke, die bei der hektischen Flucht zurückgelassen wurde. Das war für die ersten zwei Jahrzehnte meines Lebens der einzige Kontakt mit Neonazis.
2006 reiste ich mit meiner Band für ein paar Konzerte nach Russland und in die Ukraine. Klingt glamourös, heißt aber kaum mehr, als dass eine Handvoll Deutsche und Russen, die alle irgendwas mit Subkultur und Musik machen, gemeinsam viel Zeit in russischen Zügen verbrachten.
Schon am Flughafen Vnukovo stellte sich uns Ivan vor, er sei für unsere Sicherheit unterwegs zuständig. Sein Spitzname: Bonecrusher. Klang in dem Moment aufregend und irgendwie witzig. Mit einer Band auf Tour sein fühlt sich immer ein bisschen an wie Klassenfahrt.
20h Zugfahrt später standen wir in einem kleinen Kellerclub in Kiew. Um uns herum rannten panisch Menschen. „Nazis vor der Tür!“, erklärte ein Begleiter. Die Security des Clubs verriegelte die Stahltür. Wer draußen war, musste draußen bleiben. Was auch immer dort grad passierte.
Kurz zuvor noch lagen sich 200 Menschen schweißtropfend in den Armen, sangen in Phantasieenglisch Songs mit, die sie noch nie zuvor gehört hatten und feierten mit frenetischer Hingabe. 20 Minuten nach unserem letzten Song kam die Panik.
Wir verstanden kaum ein Wort, saßen auf dem Boden und warteten, bis die Tür nach einer Stunde entriegelt wurde. Draußen standen Polizeiautos, unter der Aufsicht der Sicherheitsleute wurden wir zu einem Taxi eskortiert.
Im Autoradio lief „Wind of Change“, alle schwiegen die gesamte Fahrt über. Außer einem mulmigen Gefühl hatte keiner von uns eine Ahnung, was soeben passiert war. Es war ein Vorgeschmack.
Drei Tage später stimmte ich meine Gitarre auf der Bühne einer Moskauer Curlingbahn, ja es war eine absurde Kulisse, als sich alles veränderte. Die Unruhe im Raum war bis in den letzten Winkel zu spüren. Menschen schrieen, einige weinten. Wir standen fassungslos dazwischen.
Die Erklärung kam in Bruchstücken. Metro-Station … Nazis … Messer … Als die ersten Männer in Uniform den Konzertraum betraten, wurde es düstere Gewissheit: Keine 200 Meter entfernt starb wenige Minuten zuvor ein Mensch – weil er zu unserem Konzert wollte.
Sein Name war Sasha Rjuhin, er wurde 17 Jahre alt. Eine Gruppe russischer Neonazis griff ihn an, während er auf dem Weg zu einem „antifaschistischen Konzert“ war. Unserem Konzert. Sie töteten ihn mit mehreren Messerstichen ins Herz. Es war der 16. April 2006.
Um uns lagen sich Konzertbesucher und Musiker in den Armen. Einige waren tausende Kilometer durch Russland gereist, um eine „westliche“ Band zu sehen und inmitten dieses Dramas gelandet. Polizisten forderten uns auf, das Konzert wie geplant zu spielen. Sie befürchteten „Unruhen“
Mit Gitarre in der Hand und Tränen in den Augen spulten wir Songs ab, die jegliche Bedeutung verloren hatten. Es waren die vermutlich unwirklichsten 30 Minuten meines Lebens. In meiner Erinnerung sind keine Bilder, nur Scheißgefühl.
Es war das letzte Konzert der Tour. Am nächsten Tag stiegen wir in ein Flugzeug zurück in eine heile Welt ohne verriegelte Stahltüren, Messerangriffe oder jemanden, der für unsere Sicherheit zuständig ist.
„Now more than ever!“ sagten wir uns zurück im sicheren Zuhause. Schrieben rumpelige Songs darüber. Aber was heißt das für die Realität da draußen?
Die Nachricht von Bonecrushers Tod erreichte mich vor fast exakt zehn Jahren. Ivan, der uns in Russland vor Neonazis beschützen sollte, wurde 2009 im Treppenhaus seines Wohnkomplex in Moskau von hinten erschossen. Eine russisch-nationalistische Gruppe bekannte sich zu dem Mord.
Ivan konnte 2006 nicht einfach in Moskau in ein Flugzeug steigen. Wir verabschiedeten uns am Gate, flogen zurück, er blieb. Wir sahen uns noch einige Male in Deutschland und Russland. Geändert hat das nichts. Wir reisten irgendwann wieder nach Hause, er starb.
Rechte Gewalthegemonie ist unabhängig von Ort und Zeit eine reale Bedrohung. Und es ist ein absolutes Privileg, diese Bedrohung von einem auf den anderen Tag hinter sich lassen zu können. Lasst uns die Geschichten und Namen der Opfer nicht vergessen.
Ich habe diese Geschichte vermutlich viel zu lange nicht mehr erzählt. Deswegen ein großes Danke an @christianbangel für #baseballschlaegerjahre. Du kannst den Ort tauschen, die Zeit wechseln, die Bedrohung bleibt die gleiche.
1000 Dank für das große Feedback in den letzten Tagen. Ich merke, wie wichtig es ist, zu erzählen. Eine Sache muss ich korrigieren: Sasha war 19 (nicht 17), als er auf dem Weg zu unserem Konzert getötet wurde. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich das durcheinandergebracht habe.
Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh.

Enjoying this thread?

Keep Current with Aiko Kempen

Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

Twitter may remove this content at anytime, convert it as a PDF, save and print for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video

1) Follow Thread Reader App on Twitter so you can easily mention us!

2) Go to a Twitter thread (series of Tweets by the same owner) and mention us with a keyword "unroll" @threadreaderapp unroll

You can practice here first or read more on our help page!

Follow Us on Twitter!

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just three indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3.00/month or $30.00/year) and get exclusive features!

Become Premium

Too expensive? Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal Become our Patreon

Thank you for your support!