Führt die Öffnung von Unterricht in die komplette Beliebigkeit?
Bedeutet zB digitales, asynchrones, individualisiertes, projektartiges, #zeitgemäßesLernen anstatt Frontalbelehrung einen Verlust von Struktur?
Ein #Thread ahd. meines aktuellen Unterrichts ⬇️ #TWLZ 1/23
I BEISPIEL
Bei meinem Q2 Deutsch-LK steht gerade Rhetorik/Redeanalyse auf dem Programm.
Zurzeit kein zentrales Thema fürs NRW-Abi, aber Reden kommen oft in der schriftlichen Prüfung dran.
Aufbau, Redekonstellation, -situation und -strategien sollte man analysieren können. 2/23
II KANON
Ich habe Sek2-Deutschbücher aus drei Jahrzehnten da. Die Rhetorik-Reihe ist grob immer dieselbe:
▫️eine antike Rede (zB Cicero)
▫️eine Nazi-Rede (zB die Sportpalastrede oder Hitler an die HJ)
▫️eine aktuelle Rede (zB von Weizsäcker oder Merkel) 3/23
Nachdem man die alle analysiert hat, soll man immer noch eine eigene Rede schreiben (fast immer: „Verfassen Sie Ihre Abitur-Rede“).
Es gibt also scheinbar einen sehr klaren Kanon - die Verlage bieten seit 30 Jahren dasselbe Konzept in verschiedenen Geschmacksrichtungen an. 4/23
ZWISCHENFAZIT
Man ist sich offenbar einig, wie „man das unterrichtet“ (Kanon, Tradition, sChOn ImMeR sO gEmAcHt).
Ich finde schon diesen Kanon sehr beliebig. Warum Antike und Nazis? Warum nicht „Aufruf zum ersten Kreuzzug“ und was aus dem 19.Jh?
Später mehr dazu... 5/23
III ÖFFNUNG
Mit meinem LK habe ich zum Auftakt methodische Basics (Redestrategien etc., siehe oben) besprochen und an einer aktuellen Rede () ausprobieren lassen.
So weit, so klassisch.
Die restliche Reihe gestalten die S*uS nun frei:
6/23
Das Ziel ist, den Umgang mit Reden zu üben und dafür zielführende Mini-Projekte selbst festzulegen. Dafür haben sie vier Stunden à 60 Minuten zur freien Verfügung.
Ob dann jede*r einzelne eine Rede schreibt oder sich mit Nazis beschäftigt hat, ist mir dabei herzlich egal. 7/23
Zur Orientierung haben die S*uS den kompletten Kanon als Material-Pool bekommen. Viele haben daraus Reden ausgewählt, die sie tatsächlich interessieren. Genauso viele haben sich selbst Reden gesucht (oder beides).
Es wird nun analysiert, verglichen, präsentiert... 8/23
Schon den Überblick über berühmte Reden (hier und da hineinzulesen, eine Auswahl zu treffen...) finde ich für die S*uS gewinnbringender als ihnen nach meinem Gusto drei Exemplare (Beliebigkeit) aufzudrücken.
Beim Stellen der eigenen Aufgabe schauten viele in die Operatoren. 9/23
IV PROJEKTE
Die S*uS arbeiten nun (allein oder zu zweit) an ganz verschiedenen Projekten, z.B.:
▫️Vergleich historischer Reden untereinander
▫️Vergleich historischer und aktueller Reden zu ähnlichen Themen
▫️Analyse potenziell extremistischer Reden (Pegida) 10/23
▫️Verfassen von Reden zu Themen, die den S*uS am Herzen liegen (Feminismus, Moria, Schulsystem...)
▫️Analyse von Reden, die so im Kurs entstanden sind (Professionell? Wirkungsvoll?)
▫️...
Die Arbeitsphasen sind fast unheimlich ruhig und konzentriert. 🤷🏼♂️ 11/23
V KOMPETENZERWERB
Die S*uS arbeiten (auch ohne viele Vorgaben) an dem, was der Lehrplan fordert und für die Abi-Klausur nützlich ist.
Es fehlt nichts („Rhetorik“ steht im Plan, nicht „Cicero“). Die Individualität sorgt dafür, dass jede*r das übt, was ihr/ihm schwerfällt. 12/23
VI BELIEBIGKEIT?
Ist die offene Reihe nun beliebig?
Die Kompetenzen (analytisches Vorgehen, Fachbegriffe anwenden...) sind es nicht.
Die Reden sind ziemlich beliebig - die S*uS konnten sie ja nach Belieben wählen 🤷🏼♂️ Aber sie haben sich etwas dabei gedacht! 13/23
Und da liegt der Unterschied zu den klassischen Deutschbuch-Reihen:
Buch A nimmt Cicero-Goebbels-von Weizsäcker. Buch B nimmt Cicero-Hitler-Merkel. Buch C...
Das ist genauso beliebig - minus die Eigenleistung der S*uS.
Zum Üben der Kompetenz eignet sich jede gute Rede 🤷🏼♂️ 14/23
Ist die Reihe unstrukturiert?
Ja, ich gebe keine (in meinen Augen) sinnvolle Progression vor und sorge nicht frontal für gedanklichen Gleichschritt.
Aber Gleichschritt und Denken haben sich noch nie gut vertragen...
Die Analyse-Tools und Produkte haben Struktur. 15/23
Die Struktur der Arbeitsphase müssen die S*uS selbst planen, organisieren, ggf. Fehlplanungen ausbaden.
Damit fordere ich mehr, als sich dumpf im FrAgEnD eNtWiCkElNdEn UnTeRrIcHtSgEsPrÄcH (= „Vollziehen Sie Herrn Q.s Denkweise nach“-Quiz) berieseln zu lassen. 16/23
Und die AlLgEmEiNbIlDuNg?!!!11
Wer es allgemein mag:
Die S*uS kennen aus dem Material-Pool mehr berühmte Reden namentlich als die, die 3 Texte aus Buch X vorgesetzt bekommen.
Ob Namen aufzuzählen Bildung ist, dürft ihr selbst entscheiden.
Einige stehen da ja drauf 🤷🏼♂️ 17/23
Da alle Produkte teilbar sein müssen (Reden werden gehalten, Analysen vorgestellt oder im Moodle geteilt), erhalten S*uS in vieles Einblick, in ihr eigenes Thema im Detail.
Das halte ich für legitim. Was bei von Weizsäcker genau in Absatz 3 stand, vergisst man eh wieder. 18/23
FAZIT
Gerade in Deutsch halte ich die Inhalte oft für austauschbar.
Rede A, B oder C?
Mir egal. Die S*uS sollen in der Lage sein, egal welche Rede zu analysieren.
Dasselbe gilt übrigens für Drama A, B und C und Roman A-Z. 19/23
Vollständigkeit kann doch ohnehin nie das Ziel sein.
(„So Kinder, bis Freitag lest ihr bitte ALLE Reden, die Hitler je gehalten hat! Dienstag kümmern wir uns dann um ALLE Romane Thomas Manns!“)
Sinnvoll ist solide, mündige, selbstgesteuerte Textkompetenz. 20/23
Noch wichtiger finde ich es, Zeit für eigene Aktivität, Raum für individuelle Interessen und Anlass zur (und Verantwortung für) eigene(n) Strukturierung und Planung zu geben.
Aktive, interessierte, verantwortliche, strukturiert arbeitende Menschen braucht die Welt 😬 21/23
Menschen, die nur gebannt lauschen können, wie der Lehrer den Unterricht fragend zum Selbstgespräch entwickelt, braucht übrigens keine Uni und kein Arbeitsmarkt der Welt.
Eigenes Denken hilft im Abi und im Leben mehr als dem Herrn Q. nach-zudenken. 22/23
Schlussakkord:
Öffnung - Raum für individuelle Interessen, Vorgehensweisen, Projekte, Themen, Arbeitsformen usw. - ist mir so viel lieber als selbst im Mittelpunkt zu stehen.
Ja, das muss auch manchmal sein, aber doch bitte nur falls nicht vermeidbar 🤷🏼♂️ 23/23
Disclaimer, weil Twitter:
Nein, da steht nichts von „Allheilmittel“.
Nein, ich verteufle guten Frontalunterricht nicht und nutze ihn selbst oft - ich versuche ihn bloß stark zu reduzieren.
Nein, ich mache keine Abstriche bei den Leistungen der S*uS 😬
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Unter »@/dein_einstieg« verbreitet ein selbsterklärter »Rechter« und »#AfD-Sympathisant“ absolut tendenziöse, »non-woke« Geschichtsmaterialien! 🤢🤢🤢
Meine kurze Recherche hier ⬇️🧵 1/9
Der Account verbreitet Materialien von Wolfgang Currlin – Ex-Geschichtslehrer aus Friedrichshafen, der »rechts« als »Adelsprädikat« bezeichnet und die »Altparteien« als seine »Feinde«.
Die Themen seine »ausgewogenen« (🤡🤡🤡) Unterrichtsmaterialien folgen einem klaren Konzept:
»#Multikulti«, Scharia, SPD, Russland, Kommunisten…! – x Lieblingsfeindbilder der #Patridioten, als gruseliges Stundenthema für den »Geschichtsunterricht« inszeniert 🤢 3/9
Nichts schießt weiter am eigentlichen Problem vorbei als aktuelle Angebote zur „Lehrergesundheit“. 😐 #TWLZ
Ui, du bist fertig von deiner durchgetakteten 50-Stunden-Woche mit drölfzig Extra-Terminen? 🫢
Wie könnte man das wohl lösen…? 🤔
Hier! Ein Workshop für Extreme-Highspeed-Mini-Meditationen, die du in deine 3-Minuten-Klopause integrieren kannst! 🤗🤗🤗
Du hast für nichts mehr Zeit?
Hier unser 8-tägiges 15-Stunden-Wochenend-Seminar zur effizienten Zeitplanung in Bad Bummsdorf im von Verkehrsmitteln und -wegen bisher unberührten Hinterland 🤗
Das Transparent, das die #Nazi|s gestern bei ihrem „Gedenkmarsch“ an die Bombardierung #Dresden|s vor sich hertrugen, ist eine bodenlose Geschmacklosigkeit.
Unfreiwillig lieferten sie damit aber erstklassiges Anschauungsmaterial für den Deutschunterricht! #TWLZ#Thread ⬇️ 1/11
(Mit meinem Q1-Leistungskurs stecke ich gerade im Themenkomplex „Sprache – Denken – Wirklichkeit“.
Dafür – wie hier v.a. durch Sprache eine neue Wirklichkeit konstruiert werden soll – war das Foto ein wunderbarer Gesprächsanlass.
Schüler:innen entlarven Nazis spielend.) 2/11
1. „Bombenholocaust“
Die gewaltigste Widerlichkeit zuerst:
Durch das zusammengesetzte Schlagwort setzt die Bombardierung einer kriegswichtigen Stadt mit der millionenfachen Entrechtung, Folter und Ermordung der Juden 1:1 gleich.
Bei der Recherche für unseren #Laberfach-#Podcast🎧 (open.spotify.com/show/0G3o7TI59…) bin ich oft fasziniert, dass man für sehr (!) komplexe, (zB historisch) voraussetzungsreiche Literatur S:uS-Materialien für Klasse 7/8 findet.
Mit „fasziniert“ meine ich „arg misstrauisch“ 🤨 2/15
Natürlich schaue ich dann immer in die Lehrer-Heftchen.
Was mache ich falsch, dass offenbar nur meine 8er keine feuilletonfähigen Essays über zynische Regieanweisungen in Jelinek‘schen Dramen abfassen…? 🤔