Die Menschen in #Chile haben diese Nacht Geschichte geschrieben und an den Abstimmungsurnen der Verfassung von Diktator Pinochet ein Ende bereitet. Ein Thread und einige Hintergründe dazu.
Dass es überhaupt so weit kam, ist einer 1jährigen Bewegung zu verdanken. Die trotz Repression nicht zurück wich & die Eliten so zwang jenes Regelwerk zur Abstimmung zu bringen, welches eigentlich sicherstellen sollte, dass der Neoliberalismus nicht in Frage gestellt werden kann.
Mehr als 78,3% haben sich in einem Volksentscheid für einen verfassungsgebenden Prozess ausgesprochen, während nur 21,7% für die Beibehaltung der autoritär-neoliberalen Verfassung aus 1980 waren.
Noch mehr stimmten in der zweiten Frage für die Wahl einer eigenen verfassungsgebenden Versammlung, die den Raum dafür öffnet, dass darin u.a. Bewegungsaktivist_innen, Gewerkschafter_innen, indigene Mapuche und Sprecher_innen der Viertel vertreten sein werden.
Die Wucht der feministischen Bewegung konnte schon im Vorfeld durchsetzen, dass die Versammlung zur Hälfte aus Frauen* bestehen wird.
Was oder wen die bisherige Verfassung schützte und wie sehr die Bewegung durch die Arbeiter_innenklasse in ihrer Vielfalt bestimmt wird, lässt sich an den Bezirksergebnissen in Santiago de Chile ablesen:
Die Bezirke der Reichen (Las Condes, Vitacura,...) sind die einzigen, in denen das "Rechazo" (also die Ablehnung einer neuen Verfassung) gewann. In den Arbeiter_innenbezirken (La Pintana, Cerro Navia,...) lag hingegen die Zustimmung für den verfassungsgebenden Prozess bei 90%.
Umfassender Schutz des Eigentums, hohe Mehrheiten f. Reichensteuern, Mehrheitswahlrecht, Privilegierung der Exekutive gg. dem Parlament, Privatisierung öffentlicher Güter (zB Wasser) - das sind nur einige der Bestimmungen der alten Verfassung, die nun in Frage stehen.
Dabei ging die Verfassung direkt auf Hayeks Konzept einer beschränkten Demokratie zurück. Dieses war nichts weniger als die Antwort auf die Erfahrung der Weimarer (und österreichischen) Republik und später auf den Versuch Allendes des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft:
Nie wieder sollte es einer sozialistischen Bewegung, den Gewerkschaften und linken Parteien möglich sein, die Demokratie zu nutzen, um den Kapitalismus durch ein alternatives Gesellschaftsmodell im Interesse aller herauszufordern.
Um diese Verfassung gegen die Vielen ins Werk zu setzen, flog Hayek mehrfach nach Chile & beriet Pinochet nicht nur ökonomisch, sondern auch rechtlich (als Rechtswissenschafter, der er ursprünglich war). Der neoliberale Jaime Guzman wurde so zum Vater der chilenischen Verfassung.
Darin liegt auch die Antwort auf die Frage, welche Relevanz die gestrige Nacht für uns hat? Denn dieses neoliberale Verfassungsdenken konnte sich in mehreren Etappen auch in die Europäischen Verträge einschreiben (siehe dazu Beitrag am Ende des Thread).
"Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und er wird in Chile sterben" - hieß es daher treffend immer wieder auf den Schildern der Proteste. Wie der Anfang seines Endes aussehen kann, lässt sich seit nunmehr einem Jahr in Chile beobachten.
Das war gestern auch in vielen kleinen-großen Momenten greifbar: Die Frau aus dem Arbeiter_innenbezirk Pintana, die auf die Frage, für was sie stimmt, in Tränen ausbricht: Und meint, dafür, dass "niemand mehr erniedrigt werden kann, wie ich es als Mapuche immer erleben musste."
Der Reporter, der vor einem Wahllokal eine Frau in einer langen Warteschlange fragt: “Wie lange haben sie warten müssen, um wählen zu können?” Die darauf antwortet: “30 Jahre!” (Seit Ende der Diktatur 1990 gab es nie die Möglichkeit einer Abstimmung über die Pinochet-Verfassung).
Gustavo Gatica, der junge Mann, der wie viele in einer Demonstration aufgrund des rechtswidrigen Waffeneinsatzes der Polizei sein Augenlicht verlor, der mit Blindenstock und unter Applaus seine Stimme abgibt.
Und der nach der Verkündung des Ergebnisses alles auf den Punkt bringt: Es sei den Kämpfen zu verdanken, dass man so weit gekommen sei, nun gehe es darum, die Räte in den Nachbarschaften (cabildos) zu stärken, die Selbstorganisierung voranbringen und nicht nachzulassen.
Chile ist aufgewacht, wir sollten folgen: Hasta que la dignidad se haga costumbre! Bis die Würde zur Gewohnheit wird!
---
#ChileDesperto #Plebiscito
Für den AuW-Blog durfte ich detaillierter zur Frage schreiben, wie sich das neoliberale Verfassungsdenken auch in die europäischen Verträge eingeschrieben hat: awblog.at/in-schlechter-…
Und hier meine Reportag aus Chile zu den gesellschaftlichen Hintergründen für das Tagebuch: tagebuch.at/politik/vom-du…

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19 Oct
Gute Nachrichten aus #Bolivien : Das Movimiento al Socialismo (MAS), die Partei von Evo Morales, hat an den Urnen den rechten Putsch vom Oktober 2019 beendet und die Wahlen gewonnen. (Thread)
Möglich wurde dies durch die Bevölkerung, die durch Streiks, Demonstrationen deutlich gemacht hat, dass Bolivien nur demokratisch regiert werden kann.
Die MAS stellt nun mit Luis Arce (ehemaliger Finanzminister) & dem indigenen Gewerkschaftsführer David Choquehuanca nicht nur den Präsidenten & Vizepräsidenten (beide in der Mitte des Fotos), sondern hat auch in beiden Kammern eine Mehrheit bei den Wahlen gewonnen.
Read 9 tweets
21 Jul
Im Zuge des #EUGipfel (#EUCO) sind vor allem von Sebastian Kurz so viele Nebelgranaten geworfen worden, dass es einen Faktencheck und eine Analyse des Kompromisses braucht (Thread):
1) Es war von Anfang an klar, dass im Merkel-Macron-Plan (500 Mrd als nicht rückzuzahlende Zuschüsse) und dann im Vorschlag der Kommission (750 Mrd insgesamt; davon 500 Mrd als Zuschüsse und 250 Mrd als Kredite) das Brüsseler Verhandlungsspiel eingepreist war.
Der nun beschlossene Kompromiss von 390 Mrd Zuschüssen & 360 Mrd Krediten (insg. 750 Mrd), ist daher kaum als Erfolg der geizigen 4 zu bezeichnen. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Kredite sehr günstig und lang gestreckt werden (bis 2058).
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20 Jul
Welches Spiel spielt Kurz gerade in Europa? Macron: "Sehen Sie, ihm (Kurz) ist das alles egal! Er hört anderen nicht zu, hat eine schlechte Haltung. Er kümmert sich um die Presse – und basta." Zutreffend. Genauer noch: Kurz ist ein rechts-populistischer Trittbrettfahrer(Thread):
Denn die Gegenposition zu den geizigen Vier (Rutte, Kurz, Löfven, Frederiksen) ist keinesfalls eine, die grundsätzlich mit der neoliberalen Geschäftsgrundlage brechen möchte.
Vielmehr hat Deutschland als exportorientiertes Land den Ernst der Lage, der durch COVID-19 ausgelösten Wirtschaftskrise erkannt: Eine Pleitewelle & Kernschmelze der Finanzmärkte konnte v o r e r s t nur nur durch massive Interventionen der EZB abgewendet werden.
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8 Jun
Demonstrant_innen, viele von ihnen selbst von Rassismus betroffen, haben gestern in Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston von ihrem Sockel gestürzt und anschließend im Hafenbecken versenkt. Ein Thread zu den Hintergründen. (1/10)
Allein unter der Führung von Colston verschleppte die Royal African Company 84.000 Menschen aus Westafrika, um sie zu versklaven und ihre Arbeitskraft unbezahlt anzueignen. Aufgrund der englischen "Buchführung" wissen wir auch, wie viele schon auf der Reise starben: 19.000 (2/10)
Die Geschichte von Colston verweist daher auf die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus. Oder mit Marx gesprochen: Das Kapital kommt " aus allen Poren blut- und schmutztriefend" zur Welt. (3/10)
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13 Mar
Wenn wir in den nächsten Tagen Menschen sehen, die nur auf sich achten und ihre Ellenbogen ausfahren, dann sollten wir uns daran erinnern, was der entscheidende Grund dafür ist:
Es kommt hier kein wahrer Kern der Menschen hervor, sondern sie leben das, was man ihnen seit nunmehr rund fünfzig Jahren im neoliberalen Kapitalismus eingetrichtert hat:
Jeder ist im Wettbewerb mit den anderen, muss auf seinen Vorteil bedacht sein und sich gegen andere durchsetzen. Wir erinnern uns an Magret Thatcher: "Sie wissen, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gibt. Es gibt individuelle Männer und Frauen und dann gibt es Familien."
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12 Mar
5 Zusammenhänge, die bisher in der Corona-Debatte fehlen (Thread)

1. #Corona ist eine ernste Gefahr für Millionen Menschen. Zwar ist die Sterberate, die je nach Region zwischen 1 & 4% liegt, wesentlich niedriger als etwa bei etwas Ebola doch viel höher als bei der Grippe (0,1%)
Berichte, die Corona mit der Grippe verglichen haben, waren daher, nach dem Virologen Bob Wallace abwiegelnd. Das auch daran, dass die Herdenimmunität bei Corona viel geringer ist (da die klassische Grippe schon lange grassiert, sind viel mehr Menschen immun dagegen).
2. Das China die Lage so schnell in den Griff bekommen hat, lag laut WHO-Bericht, vor allem daran, dass es in kürzester Zeit in der Lage war, seine Krankenhausplätze massiv auszudehnen und Millionen von Tests-Kits zu produzieren.
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