Nach dem zunehmenden Widerstand gegen #Nocovid wollte ich einfach nur den Ball ins Lager der Neinsager spielen und hören, was denn deren Vorstellungen sind, wie es jetzt weitergehen soll. Hatte nicht erwartet, wie emotional die Debatte werden würde.
Die vernünftigen Antworten liefen alle auf mehr und gezieltes Testen und mehr Masken hinaus, was auf jeden Fall helfen kann - ich fürchte, nur nicht genug.
Ein ungewöhnlich hoher Teil der Antworten enthielt persönliche Angriffe oder irgendwelche Herabsetzungen, oft verbunden mit dem Hinweis, dass es von allein weggeht, wenn der Sommer kommt. Und die Alten sind ja fast durchgeimpft, da können wir der Infektion freien Lauf lassen.
Würde mich echt freuen, wenn es so wäre, aber die Saisonalitätseffekte sind unzureichend und die über 60-Jährigen werden nicht vor August durchgeimpft sein, und bis dahin können sich zig Millionen infizieren, wenn wir es darauf anlegen.
Ein Covid-Behandlung im Krankenhaus kostet die Kasse im Schnitt 10.000 Euro, intensiv 40.000-80.000 Euro. Da jeder 10. ins Krankenhaus muss, sind das im Schnitt 1000 Euro pro Covid-Fall. Die zweite Welle hat also allein die Kassen 2 Mrd. € gekostet, 35€ je Beitragszahler.
Mindestes weitere 2 Mrd. dürften die PCR-Tests die Kassen gekostet haben, insgesamt gehen Kassenverbände von 7,5 Mrd. Mehrbelastung pro Jahr aus. Lassen wir die Infektion komplett laufen, können sich die Zahlen verzehnfachen und mehr.
Das Geld ist aber nicht das größte Problem; unser Gesundheitswesen würde zwar nicht komplett zusammenbrechen, aber vereinzelt schon. Die Krankenhäuser wären zu über 50% mit Covid-Patienten belegt und könnten Patienten mit anderen Krankheiten nur eingeschränkt versorgen.
Das hier sind die bisherigen Infektions- und Sterblichkeitszahlen für Deutschland in verschieden Altersgruppen. Die zweite Welle waren rund 2 Mio. Fälle, also die Zahlen unten mal 2 nehmen, und man hat die knapp 60.000 Toten samt Altersverteilung.
Nehmen wir die 80+ wegen Durchimpfung ganz raus, bleiben statt 30.000 Tote pro Mio. positiver Tests „nur“ 10.000 übrig. Aktuell ist in Berlin ca. die Hälfte in aller 80+-Jährigen geimpft, die 60-Jährigen werden wohl vor August nicht durch sein.
In den nächsten Wellen werden also voraussichtlich weniger von den Positiv getesteten sterben, aber in der 3. Welle müssen wir statt 30.000 mit 10.000-20.000 Toten pro Mio. Infizierter rechnen, und erst im September werden wir auf 1000-2000 Tote pro Mio. Infizierte runter sein.
Während die Überlegung nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass wir deutlich mehr Infektionen zulassen könnten, wenn die Alten (60+) geimpft sind, unterschätzen die meisten Leute komplett, wie lange das bei uns noch dauern wird - nämlich noch 5-6 Monate nach derzeitigem Plan.
Und sie unterschätzen die Folgen hoher Infektionszahlen, gesundheitlich und wirtschaftlich, und die höhere Gefahr von Mutationen, die Impfanstrengungen zunichte und Reinfektion von früher Erkrankten wahrscheinlicher machen.
Bleibt die Frage der Saisonalität. Wissenschlicher Konsens ist, dass es einen Einfluss des Wetters und der Jahreszeit gibt und Covid-19 im Winter ansteckender ist als im Sommer. Wie stark der Einfluß aber ist, da gehen die Studien nicht nur weit auseinander, sondern finden...
... große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern, wo gar kein oder sogar umgekehrter Zusammenhang zur Temperatur gefunden wurde, also mehr Infektionen, wenn es wärmer wird, was auf kulturelle Faktoren zurückgeführt wird, etwa mehr Kontakte, wenn es wärmer wird.
Insgesamt sind die Studien voller Merkwürdigkeiten. In einer Studie gab es nur Korrelationen mit der Tagestiefstemperatur, aber nicht mit der Höchstemperatur. Manche Studien finden breitengradabhängigkeit, aber nicht in allen Ländern, und andere schließen es ganz aus.
Dementsprechend schwierig ist es, an klare Zahlen zu kommen. Das Paper mit der höchsten Saisonalität, also Unterschied von R zwischen Sommer und Winter, kommt auf 17%, und ich kenne kein Expertenstatement, dass von mehr als 25% ausgeht, und die Werte gelten nicht für jedes Land.
Die Fachwelt ist sich aber einig darin, dass der Saisonalitätseffekt allein nicht ausreicht, um die Ausbreitung im Sommer zu verhindern. Der Saisonalitätseinfluss liegt in der Größenordnung einer der stärkeren Maßnahmen wie Schulschließungen.
Mit anderen Worten: Im Sommer könnte man entweder Schulen und Kitas aufmachen oder Großveranstaltungen erlauben oder Kneipen und Restaurants und Läden öffnen, aber nicht alles zusammen, um auf denselben R-Wert wie im Winter zu kommen.
Hätten wir die Mutanten nicht, würden wir im Frühjahr sogar Schulen oder Geschäfte öffnen können, ohne R über 1 zu heben, aber der Zug ist abgefahren. Wir haben faktisch gerade eine neue Pandemie, die sich ausbreitet und frecherweise einige Spielregeln geändert hat.
Auch, wenn das RKI seine Empfehlungen zum Kontaktpersonenmanagement erst vor 14 Tagen überarbeitet har, sind trotz der Mutanten die Zeit- und Abstandswerte für die Risikoklassifikation unverändert geblieben. Die Ämter spielen also noch nach alten Regeln, das Virus nach neuen.
Genauso zeigen sich jetzt Krankenhäuser, Firmen, Schulen, Kitas, die bisher durchgekommen sind, immer öfter überrascht, wie die Mutanten häufig den halben Laden durchinfiziert haben, bevor irgend etwas aufgefallen ist.
Unter dem Strich aber bleibt die unschöne Wahrheit, dass #B117 im Sommer ansteckender ist als Corona-Classic im Winter. Das bedeutet, dass wir uns dieses Frühjahr und Sommer viel mehr zurücknehmen müssten als im letzten Jahr, wenn wir das Virus unter Kontrolle halten wollen.
Ja, es wird etwas leichter, wenn es wärmer wird, aber ich sehe nicht, dass die Zahlen allein dadurch runter gehen. Bestenfalls würde sich unter Beibehaltung aktueller Maßnahmen das Wachstum deutlich verlangsamen.
Wir werden sehen, ich habe mich weit aus dem Fenster gelehnt mit meinen Prognosen, die vielfach als apokalyptischer Alarmismus aufgenommen wurden, und Anfang April werde ich von hämischen Tweets überschüttet werden, falls wir weit unter 7-Tage-Inzidenz 200 liegen werden.
Mein zweite Prognose war, dass wir ohne neue Maßnahmen Anfang Mai die 500 erreichen, aber ich eigentlich davon ausgehe, dass das durch mehr Lockdown verhindert werden wird. Wir werden sehen. Ich würde mich aber sehr freuen, wenn ich Unrecht behalte.

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1 Mar
Eine Frage an #ZeroCovid Gegner: In 4 Wochen wird die Inzidenz deutschlandweit über 200 liegen, in 8 Wochen über 500/100.000, also mehr als 60.000 Neuinfektionen pro Tag. Was genau ist euer Vorschlag?
Ich kann verstehen, wenn jemand sagt, so what, das wird ja passieren, ob wir lockern oder nicht. Der Lockdown funktioniert nicht. Warum können wir nicht wenigstens etwas mehr Normalität haben, Einkaufen und Essen gehen etwa. In anderen Ländern geht das schließlich auch.
Und in der Tat finden sich alle möglichen Länder, etwa Schweden und weite Teile der USA, wo trotz hoher Inzidenzen Läden und Restaurants geöffnet sind. Das bleibt allerdings nicht ohne Folgen, auch wenn es in Schweden gelungen ist, die Zahlen mit weniger Maßnahmen zu senken.
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27 Feb
Berlins Regierender Müller kapituliert vor der Pandemie und spricht sich gegen "No Covid" aus. Er spricht von einem "zweiten Weg" und möchte den Berlinern nicht zu viel zumuten, um die nächste Sterbewelle zu verhindern. bz-berlin.de/berlin/mueller…
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26 Feb
Kleines Corona-Zahlen-Update 26.2.2021: 7-Tage-Schnitt bei neuen Fällen (blaue Treppe) +27% ggü. der Vorwoche, Inzidenz wieder bei 80/100.000. Die neue Welle startet furioser als erwartet.
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7-Tage-Schnitt bei Corona-Toten (schwarze Treppe) sinkt weiter und wird das in den nächsten 2-3 Wochen wohl noch weiter tun. Danach aber werden wir sehr wahrscheinlich einen Anstieg sehen, begleitet von einem zunehmenden Anteil jüngerer Todesopfer.
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24 Feb
Nach dieser schottischen Studie bewahrte Impfung mit dem AstraZenaca-Impfstoff 94% vor Hospitalisierung, BioNTech/Pfizer "nur" 85%. Die Studie basiert auf 1,14 Mio. Patienten, die zwischen 8. Dez. 2020 bis 15 Feb. 2021 geimpft wurden. papers.ssrn.com/sol3/papers.cf…
Sie macht insgesamt einen vertrauenerweckenden Eindruck. Sie sagt nichts über Tote, Intensivfälle, Verhinderung von Ansteckung oder ambulante Behandlungen aus, sondern betrachtet nur die stationären Aufnahmen Geimpfter im Vergleich zu Ungeimpften.
Dabei zeigt sich, dass AstraZeneca nach der ersten Dosis schneller und mehr Hospitalisierungen verhindert als PfizerBioNTech.
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23 Feb
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Die naheliegende Variante wäre, sich an seinen Arzt zu wenden und mit einem Attest irgendwo vorstellig zu werden. Problem ist, es gibt keine solche Stelle. Die Impfhotline in Berlin hilft nur weiter, wenn man bereits eine Einladung zur Impfung hat, ...
....verweist ansonsten an den Gesundheitssenat. Der verweist wiederum auf die Impfhotline. Die Krankenkassen wiederum verweisen auf die Ämter, und Ärzte auf die Impfhotline. Die Impfzentren reden nur mit Leuten mit Einladung. Niemand kann oder will helfen.
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23 Feb
Das ist ja schön, dass der Senat keine "weiteren" Lockerungen sieht. Mit Verschärfungen möchte man aber offensichtlich warten, bis die Zahlen wieder ordentlich steigen und wieder mehr Leute sterben. Das ist halt 3. Welle mit Ansage.
bz-berlin.de/berlin/senat-s…
Aber wer weiß, vielleicht gehen ja die Zahlen wieder runter, einfach so, ist ja letzten Sommer passiert, Mitte Juni, dass die Inzidenz in 2 Wochen von 6 auf 15 stieg und in 10 Tagen wieder auf 6 fiel, ohne, dass man etwas tun musste. Nicht, dass das wahrscheinlich wäre, aber ...
... man kann es auch nicht hundertprozentig ausschließen, und Gott bewahre, dass wir bei Inzidenz 62 und nur 5% Zunahme in der letzten Woche unnötige Maßnahmen treffen, die die Zahlen unnötig weiter nach unten bringen. Und wir haben ja wieder Platz auf den Intensivstationen.
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