Im Mai 1892 setzt sich Rosa Luxemburg, gerade mal 21 Jahre alt, an ihren Schreibtisch und verfasst einen Text über den 1. Mai 1892 und den daran anschließenden Streik der Arbeiter_innen in Łódź. Dieser sei im Thread in Auszügen wiedergegeben.
Der Text ist berührend und kämpferisch. Er schildert, wie Rassismus und Antisemitismus als Herrschaftsstrategie eingesetzt werden und wie dem die Einigkeit der Arbeiter_innenklasse entgegenwirkt.
Er beschreibt staatliche Herrschaft im Spannungsfeld von Konsens und Zwang und zeigt, wie der Kampf um demokratische und soziale Reformen mit dem Horizont einer befreiten Gesellschaft zu verbinden ist.
"Über London strahlt die erste Maisonne. Der düstere Fabrikriese schweigt.Alles, was Beine hat, zieht in den Park hinter der City. Im Park wimmelt es nur so von menschlichen Köpfen, die Tröpfchen im Meer gleichen. Durch die zahllosen Tore drängen immer neue Menschenströme herein.
An vierzehn Stellen erheben sich wie kleine Inseln vierzehn Tribünen, über denen im Wind das rote Banner flattert, die eine nach der anderen von Rednern erstiegen werden, die das Wort laut und vernehmlich ans Volk richten. Das Menschenmeer wogt hin und her. [...]
Jeder Redner endet mit dem Ruf: Es lebe der achtstündige Arbeitstag! Die Wellen im Menschenmeer fangen den Ruf auf und werfen ihn hinauf in den Himmel: Es lebe der 1. Mai!
Vor diesem Ruf erzittern die düsteren Londoner Fabriken und schweigen, erfüllt von einem unheilvollen Gefühl, voller Nachdenklichkeit.
Aus den Fenstern der umstehenden Häuser blinzeln die bangen Augen reicher Hamburger, die verwundert auf den Marsch blicken und aus den goldenen Lettern das näherkommende Ende der Ausbeutung herauslesen.
Die schöne Schweiz lacht in der Frühlingssonne. In Zürich geht es lust- wie geräuschvoll zu. Durch die Straßen schlendern feierlich angezogene Arbeiterfamilien.
In Bayern überall Menschenvolk. Musik, Trubel und Vergnügen. [...] Offen und prächtig begehen die Arbeiter in ganz Europa und weltweit ihren Arbeiterfeiertag. [...]
Die Arbeiter in Łódź haben den Tag des 1. Mai mit der ganzen Welt gefeiert. Wie ein roter Faden durchzog der 1. Mai das Stimmengewirr auf Straßen und Plätzen.
Um diesen Faden herum bewegten sich im Trubel die Gespräche, die Klagen über das schwere Leben, das beklagenswerte Elend, Flüche gegen die Ausbeuter.
Der Geräuschpegel stieg deutlich an, die Klagerufe erschollen immer höher, bis sie an den herausgeputzten Wohnhäusern der Reichen zurückprallten. Die Häuserwände erzitterten, der Glanz ermattete. Erzittert ruhig, [...] denn bald schon werdet ihr zu Boden stürzen.
Vor euch stehen Arbeiter. In den Brüsten der Arbeiter machen sich altes Unrecht, Wut und Empörung breit. Sie stehen zusammen, vereinigt im Elend und in der Empörung, vereinigt untereinander und mit den Arbeitern in der ganzen Welt. [...]
Die Sonne ging wieder unter am 1. Mai. Über Łódź breitete sich die Nacht aus, die Menschen legten sich schlafen. Die Fabrikanten schliefen in ihren weichen Betten nach prächtigem Abendessen und Wein.
Schliefen und ahnten nicht, welch ein Sturm sich über ihnen zusammenbraut, wie der Boden unter ihnen zu wanken beginnt. Es schliefen auch die Arbeiter auf ihrem harten Lager, doch die Lungenflügel atmeten Zuversicht, Hoffnung und Mut.
Am zweiten Tag schwiegen die größten Fabriken: die Arbeiter gingen nicht zur Arbeit. Am dritten und vierten Tag verstummten die restlichen Fabriken. Die Tüchtigsten und Mutigsten zogen die Schwächeren und Ängstlichen mit.
Łódź, sonst an einem Werktag aufgewühlt und arbeitsam, wurde still, ohne das Rattern der Maschinen und das Pfeifen der Fabriken.
Der glänzende Arbeiterstreik in Łódź dauerte bereits den fünften Tag. 100 000 Arbeiter standen einmütig und eingereiht. 100 000 Arbeiter forderten ihre Herren zum Kampf heraus: Sie forderten den kürzeren Arbeitstag und höheren Lohn, von der Regierung aber verlangten sie Freiheit!
Die Arbeiter hatten sich in der Einschätzung ihrer Kraft nicht geirrt. Die Fabrikanten erschraken vor der unglaublichen Menge, vor den Abertausenden, die sie gefährlich herausforderten.
Sie […] fühlten gleich einem welken Blatt die Schwäche hochkommen, fühlten, dass ihr Schicksal in den Händen der Feinde liegt. Die Angst ergriff von ihren Herzen Besitz.
Sie, die gestern noch voller Stolz dem Arbeiter das Recht diktierten, sie, die »Brotgeber«, verneigten ergeben die Häupter. Sie nahmen die Forderung der Arbeiter an, einigten sich auf Kürzung des Arbeitstages und Lohnerhöhung. [...]
Unsere Brüder hatten gesiegt! Würde und Einigkeit hatten gesiegt! Die Maifeier hatte gesiegt! Die Worte der Sozialisten waren gehört worden!
Doch nicht lange! Nicht lange triumphierte die Gerechtigkeit! Es gibt noch einen weiteren Feind der Arbeiter, einen stärkeren als die Fabrikanten. Die Zarenregierung! […]
Die Regierung gibt sich als Freund und Beschützer der Arbeiter aus. Denn schließlich hat sie ja guten Herzens ein elendiges Fabrikgesetz für die bestechlichen Inspektoren erlassen.
Doch wenn die Arbeiter sich nicht zufriedenstellen lassen durch die falsche Gnade, wenn sie Menschen sein und ernsthaft über ihre Bedürfnisse nachdenken wollen, wenn sie wirkliche Rechte durchsetzen wollen.
Dann wird aus dem guten Freund ein wildes Tier, das sich auf die Arbeiter wirft, sie erstickt und niedermetzelt, sie zum Stillhalten zwingt.
Sobald er vom Streik hörte, eilt der Gouverneur nach Łódź. Er untersagt den Fabrikanten, Zugeständnisse zu machen, untersagt ihnen, die Arbeiterdelegierten zu empfangen. Auf Łódź rücken Hundertschaften von Soldaten und Kosaken zu.
Mit Gewalt werden die Arbeiter zurück in die Fabriken getrieben. Sie werden gezwungen, zurückzukehren zum alten Elend, zur ewigen Arbeit, zu gewohnter Unterwürfigkeit und Nachgiebigkeit.
Sie wollen, dass sie die Augen abwenden von den eigenen Angelegenheiten, von den wirklichen Gründen für ihre Lage - von der Ausbeutung durch die Fabrikanten.
Im jüdischen Stadtviertel gehen Angst und Schrecken um, die schlechtesten Leute - Diebsgesindel, Landstreicher und Straßenjungen - werden aufgewiegelt, um zu rauben.
Doch die Arbeiter - Menschen ehrlicher Arbeit - lassen sich nicht in diesen Sumpf ziehen. Ihre Hände mischen nicht mit bei denen, die Hab und Gut der armen Judenschaft plündern. Die Arbeiter lassen sich nicht verwirren, bleiben fest bei ihren Forderungen.
Die Regierung bekommt jetzt mit, dass sie sich so mit ihnen nicht zu helfen weiß. Also beginnt der Überfall, so wie auf wilde Tiere. Die Peitschen knallen links und rechts.
Auf das wehrlose Volk wird geschossen. […] Die Soldaten umstellen die Fabriken und wachen mit dem Bajonett in der Hand darüber, dass die alte Ausbeutung unter der alten Ordnung weitergeht.
Wir haben euch Helden genannt, Brüder in Łódź. Das ward ihr auch, als ihr heldenhaft kämpftet für die Sache der polnischen Arbeiter. Euer Unrecht ist das gemeinsame des ganzen Arbeitervolks. […]
Ihr habt die Ehre der Arbeitersache verteidigt, weil ihr euch nicht anstecken ließet von der judenfeindlichen Hetze der Regierung.
Ihr habt der ganzen Welt gezeigt, dass es für euch keinen Juden oder Deutschen gibt, dass ihr euren Feind gut kennt - den Kapitalisten aller Glaubensbekenntnisse und in jeder Nationalität.
Dass ein Jude wie [Izrael] Poznański oder ein Deutscher wie [Karl] Scheibler eure Todfeinde sind, doch der arme jüdische Blechschmied und der deutsche Weber eure Genossen sind im Elend und in der Unterdrückung. Ehre euch, den Verteidigern der Arbeiterehre!
Ihr habt euch nicht abbringen lassen von euren Forderungen, denn weder der Regierung noch anderen Leuten habt ihr erlaubt, euch als billiges Werkzeug zu missbrauchen. Dass ihr gut um eure Interessen wisst und alleine für diese kämpft. […]
Wir werden nicht eher ruhen, bis die Regierung in die Hände der Regierten fällt. Doch möge die Erinnerung an die Opfer von Łódź tief in euer Herz dringen, polnische Arbeiter! Möge sie euch ein Leitstern sein im Leben.
Der wird euch aufrufen, sich zusammenzuschließen, sich gegenseitig zu bilden und sich solidarisch zu zeigen. Lasst nicht nach in eurem alltäglichen Kampf gegen Ausbeutung und Elend, entreißt euren Ausbeutern Tag für Tag selbst das kleinste Stück eurer Rechte. […]
Ehre euch, brüderliche Helden! Ihr habt für unsere Freiheit, für unsere Sache, für unsere Ehre gekämpft! Wir werden euch rächen und zusammen mit euch für die Freiheit aller kämpfen!
Und wenn über uns die Sonne der Freiheit aufgeht, wenn keine eiserne Kraft uns den Mund knebelt und die Hände bindet, dann werden wir unser rotes Banner hissen und den Ruf der Freiheit erklingen lassen zusammen mit den Brüdern der ganzen Welt.
Es lebe der Sozialismus! Es leben gemeinsames Eigentum, Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit!
Im Mai 1892
Die Ereignisse überschlagen sich in #Kolumbien. In der Nacht auf heute musste der Finanzminister nach massiven andauernden Protesten zurücktreten. Der nächste Erfolg der Bewegung, die am Tag zuvor schon die neoliberale Steuerreform zu Fall gebracht hatte. (Thread)
Kolumbien ist dabei ein möglicher Blick in die Zukunft anderer Länder: Denn das Land kann sich im Gegensatz zu Ländern im Zentrum weniger leicht bzw. günstig verschulden. Die Kosten der Pandemie und der mit ihr verbundenen Wirtschaftskrise schlugen daher unmittelbarer durch.
Die Antwort der Regierung: Eine Steuerreform, welche die Krisenlasten vor allem der breiten Masse in Form einer erhöhten Mehrwertsteuer aufgebürdet hätte, während große Vermögen und Unternehmen ungeschoren davon gekommen wären.
In welchem Verhältnis stehen eigentlich Sebastian Kurz und Siegfried Wolf - also jener Manager, Millionär und Schlossbesitzer dessen mit Lohnkürzung und Kündigungen durchzogenes Übernahmeangebot die Arbeiter_innen bei #MAN#Steyr vorgestern mutig abgelehnt haben? (Thread)
Wolf war einer jener Industriellen, die Kurz 2017 den Weg zur Kanzlerschaft ebneten. Bei den Millstätter-Gesprächen, einer Netzwerktagung zwischen ÖVP und Unternehmen, war er einer der ersten, die sich offen für Neuwahlen aussprachen (kleinezeitung.at/wirtschaft/521…).
Reinhold Mitterlehner hätte als Wirtschaftsminister keine Kompetenz, meinte Wolf dort. Jetzt müssen Jüngere ran, die wie Sebastian Kurz klug die Themen "Wirtschaft und Sicherheit" miteinander verbinden. Dass Kurz dies könne, hätte der (damalige) Außenminister bewiesen.
Freu mich sehr, dass mein Kommentar zur Entscheidung bei #MAN Widerhall gefunden hat und auch von Arbeiter_innen des Werkes geteilt/kommentiert wurde (bit.ly/39X5uXc). Hier ein Thread mit Beiträgen für den Kampf um einen sozial-ökologischen Leitbetrieb in Steyr:
1) Der Wissenschafter und @Arbeiterkammer-Referent Heinz Högelsberger hat sich mit der Geschichte des Werkes beschäftigt und zeigt damit auch Zukunftschancen auf:
Gemeinsam mit Puch stellte man in den 70ziger Jahren ein Elektromoped und für die Stadt Wien einen erdgasbetriebener Stadtbus her. Und auch jetzt produziert MAN (in Kleinserie) einen elektrisch betriebenen Lkw. Darauf ließe sich aufbauen. wienerzeitung.at/meinung/gastko…
Die Arbeiter_innen bei #mansteyr haben sich nicht erpressen lassen. Ihre Enscheidung ist nicht nur mutig und kämpferisch, sondern könnte auch zu einem Wendepunkt hin zu einer sozial-ökologischen Industriepolitik werden. Ein Thread was es jetzt dazu braucht
Um was ging es? Im letzten Jahr hatte MAN, eine Tochter des VW-Konzerns, die Schließung des Werkes in Steyr mit rund 2000 Beschäftigen und einer Wertschöpfung von rund einer 1 Mrd Euro in der Region trotz einer Beschäftigungsgarantie bis 2030 bekanntgegeben.
Daraufhin wurden ein Deal mit dem Ex-Magna-Manager Wolf verhandelt. Sein "großzügiges" Angebot: Kündigung von rund 800 Kolleg_innen und ein Gehaltsverzicht von 15%. Dann Weiterführung des Werkes durch Wolf - selbstverständlich ohne Beschäftigungsgarantie für die Verbleibenden.
Das Spiel mit Schuldzuweisungen von Sebastian Kurz rund um die Impfstoffbeschaffung ist gestern Nacht beim EU-Gipfel (#EUCO) hart auf Eis gelaufen. Auch nach bürgerlichen Kriterien hat Kurz völlig versagt (Thread).
Am greifbarsten wird das, wenn man dem bürgerlichen Premierminister Rutte hört, den Kurz oft als seine Verbündeten ausgibt: Ö sei in der Ausrollung der Impfungen "nicht schlecht unterwegs", so Rutte gestern, daher müsse es Priorität für Bulgarien, Kroatien und Lettland geben.
Denn während Kurz sich noch vor wenigen Tagen als Schutzherr dieser Länder aufgespielt hat, will er ihnen nun einen Teil der zusätzlichen 10 Millionen Dosen von Biontech abzwacken. Denn der Vorschlag der andern EUCO-Mitglieder war, die nachhinkenden Länder zu bevorzugen.
Die ÖVP ist die Partei der Ausbeuter und Menschenschinder. Wenn sie mich dafür klagen möchte: gerne! Den Wahrheitsbeweis vor Gericht gewinnt man allein schon mit zwei Beispielen, die heute und gestern bekannt geworden sind (Thread):
1) Das EU-Parlament will Mindeststandards für Landarbeiter_innen einführen, die bei jedem Wetter oft mehr als 12 Stunden lang Obst und Gemüse ernten. Geht es nach dem EU-Parlament sollen in Zukunft nur noch Unternehmen Agrarsubventionen erhalten, die diese Standards einhalten.
Wer ist dagegen? Elisabeth Köstinger, ÖVP. Ihres Zeichens Landwirtschaftsministerin und Vize-Präsidentin des Bauernbundes. Man müsse erst evaluieren, ob Mindeststandards überhaupt notwendig seien, meint sie. radiothek.orf.at/oe1/20210325/6…