Die Ereignisse überschlagen sich in #Kolumbien. In der Nacht auf heute musste der Finanzminister nach massiven andauernden Protesten zurücktreten. Der nächste Erfolg der Bewegung, die am Tag zuvor schon die neoliberale Steuerreform zu Fall gebracht hatte. (Thread)
Kolumbien ist dabei ein möglicher Blick in die Zukunft anderer Länder: Denn das Land kann sich im Gegensatz zu Ländern im Zentrum weniger leicht bzw. günstig verschulden. Die Kosten der Pandemie und der mit ihr verbundenen Wirtschaftskrise schlugen daher unmittelbarer durch.
Die Antwort der Regierung: Eine Steuerreform, welche die Krisenlasten vor allem der breiten Masse in Form einer erhöhten Mehrwertsteuer aufgebürdet hätte, während große Vermögen und Unternehmen ungeschoren davon gekommen wären.
Doch dagegen setzten am Mittwoch vergangener Woche im ganzen Land Proteste ein. Dem Aufruf zum Generalstreik kamen so viele Menschen nach, dass selbst die Organisator_innen überrascht waren.
Den Gewerkschaften schlossen sich indigene Verbände an - nicht zuletzt aus der Region Cauca in der es eine jahrzehntelange Tradition indigener Selbstorganisation gibt.
Schnell richtete sich der Protest nicht mehr nur gegen die Steuerreform der rechts-konservativen Regierung, sondern auch gegen Korruption, die "Gesundheitsreform" und das Fortwirken kolonialer Gewalt.
In Cali, Neiva, Manizales und Pasto holte Demonstrierende die Denkmäler von Konquistadoren und kolonialen Unterdrückern von ihrem Sockel.
Das ist mittelbar auch eine Referenz auf die "neuen" Institutionen der kolonialen Herren - schließlich hatten internationale Ratingagenturen neoliberale "Reformen" eingemahnt und andernfalls mit einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit des Landes gedroht.
Wie groß der Erfolg der Bewegung ist, lässt sich nicht nur daran ermessen, dass zum ersten Mal seit langem auch eine “Reform” zurückgenommen werden musste, sondern auch daran, dass Ivan Duque, gestern auch ankündigen musste, dass nun Reiche & Konzerne besteuert werden sollen.
Doch um seinen Rücktritt abzuwehren, hat Duque neben Zugeständnissen auch die Repression erhöht. Er orderte das Militär in die Straßen der Städte, was ihm eine Abmahnung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte einhandelte.
Ähnlich wie letztes Jahr in Peru und in den Jahren zuvor in Chile und Ecuador war in den letzten Tagen in Kolumbien ein wahlloser Einsatz von Waffen zur Aufstandsbekämpfung zu beobachten, selbst mit scharfer Munition und Langwaffen schoss die Polizei auf Demonstrierende.
Die Bilanz ist erschreckend. Die Volkanwaltschaft bestätigt mittlerweile 19 Tote und hunderte Verletzte. Viele verloren ihr Augenlicht, weil Tränengaskartuschen auf die Köpfe gezielt wird. Auch hier ist sexuelle Gewalt Teil der Repression:Die NGO Temblores berichtet von 9 Fällen.
Gerade aufgrund der Ereignisse in den letzten Nacht, insbesondere in der Stadt Cali, in der die Polizei & Militär wie in einer Diktatur um sich schoss, rufen vielen Menschenrechtsaktivist_innen dazu auf, über die Situation in Kolumbien internationale Aufmerksamkeit zu schaffen.
Auch wenn die Bilder und Ereignisse einem dem Atem nehmen, dürfen sie nicht über den Erfolg der Bewegung hinwegtäuschen: Die Steuerreform musste zurückgenommen werden, jetzt stehen erstmal seit Jahrzehnten eine Besteuerung der oberen 5% im Raum.
Und die Bewegungen lassen sich bisher von der Gewalt nicht einschüchtern und wollen weiterkämpfen bis auch die Gesundheitsreform zurückgenommen wird und Duque geht.
Kolumbien reiht sich daher in eine Bewegung gegen den neoliberalen Kapitalismus ein, die über das Land hinausgeht und deren Muster trotz aller Unterschiede sich mit den Ereignissen in Ecuador (2018), Chile (seit 2019) und Peru (2020) vergleichen lassen.
Auch wenn sich der soziale Aufbruch noch nicht institutionell verfestigen konnte, werden neoliberale und antidemokratische Politik zunehmend in Frage gestellt.
Lasst uns mit Kolumbien und den Kämpfen in Lateinamerika solidarisch sein und lernen. Colombia despertó! Kolumbien ist aufgewacht!
...
Foto: Sergio Angel

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