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Oct 2, 2021 22 tweets 15 min read Read on X
Die #Inflation von 4,1 % im September löst viel Empörung aus. Der Schuldige ist für manche in 🇩🇪 klar: es ist die #EZB, die die Inflation in die Höhe treibt und die #Sparer „enteignet“.

Der Alarmismus ist falsch, manipulativ und schädlich.

Ein Thread mit Zahlen und Fakten: Image
„Mega-Inflation von 4,1 Prozent frisst unser Geld auf“ (#Bild Zeitung)

Ist eine #Inflation von 4,1 % im September 2021 ein Problem?

Oder ist es nicht viel mir eine gezielte Panikmache um von Fehlern der Politik abzulenken?
Fakt #1: Preise sind im September 2021 NICHT auf ein Rekordhoch gestiegen, sondern sie sind im Vergleich zu August und Juli 2021 GLEICH geblieben (monatliche Inflation von 0,0%).
4,1 % Inflation bedeutet hier, dass die Preise im Sept. 2021 um 4,1 % höher lagen als im Sept. 2020. Der „Anstieg“ ist ausschließlich darauf zurückzuführen, dass Preise im Sommer 2020 GEFALLEN sind!
Gründe: temporäre Mehrwertsteuersenkung, niedrigere Energiepreise 2020 u.a.
Fakt #2: Die gefühlte Inflation der Menschen ist deutlich höher als die wirkliche Inflation, sie lag bei 5,4% im September 2020. Es gibt viele gute Gründe für die Diskrepanz zwischen gefühlter und realer Inflation, aber die Politik sollte dies nicht politisch mißbrauchen. Image
Fakt #3: Die Kerninflation (ohne volatile Komponenten wie Nahrungsmittel und Energie) ist ein deutliches besseres Maß um den Inflationsdruck einzuschätzen, und diese lag im September 2021 lediglich bei 1,9 % gegenüber dem Vorjahr. Image
Fakt #4: Die höhere #Inflation im Jahr 2021 ist eine willkommene Normalisierung einer zu schwachen Preisentwicklung im #Corona-Jahr 2020. Über beide Jahre gerechnet liegt die Inflation in Deutschland und in Europa durchschnittlich bei unter 2 %. Image
Fakt #5: Ein Problem für viele kleine #Sparer:innen sind die negativen realen #Zinsen, d.h. bei Nullzinsen auf dem Sparkonto und einer #Inflation von 3 % schrumpft die Kaufkraft.
Aber: dies war so häufig/zu mehr als einem Drittel auch in D-Mark Zeiten seit den 1960er Jahren. Image
Fakt #6: Die #Inflation wird 2022 wohl wieder unter 2 % (Definition von Preisstabilität) sinken, und auch 2023 wohl fallen.
Prognosen sind immer mit Unsicherheit behaftet, aber: eine zu schwache Inflation ist deutlich wahrscheinlicher als eine zu hohe Inflation. Image
Fakt #7: Eine anhaltend zu hohe #Inflation wäre eher ein Luxusproblem. Denn sie entsteht meist dann, wenn die Wirtschaft boomt und Investitionen und der private Konsum deutlich stärker sind als was Unternehmen produzieren können.
Wir sind in 🇩🇪 und 🇪🇺 meilenweit davon entfernt.
Fakt #8: Die Wahrscheinlichkeit einer #Lohn-Preis-Spirale ist unwahrscheinlich, zumal es keine Lohnindexierungen mehr gibt.
Und: höhere Löhne wären wirtschaftlich gut, weil sie der Erholung und einer Normalisierung der #Inflation helfen würden.
Fakt #9: Das wirkliche Problem der #Inflation liegt bei den Verteilungseffekten, v.a. den steigenden Wohnkosten und Energiepreise für einkommensschwache Menschen. Ein Drittel oder mehr zahlen ein Drittel des monatlichen Nettoeinkommens fürs Wohnen, Tendenz steigend.
#Ungleichheit Image
Stark steigende #Mieten in den Städten sind in Deutschland jedoch schon seit 10 Jahren ein großes Problem für Menschen mit geringen Einkommen — also auch zu Zeiten, als die Inflation sehr gering war. Zur Zeit tragen steigende Mieten nur geringfügig zu der erhöhten Inflation bei.
Fakt #10: Höhere #Energiepreise sind willkommen und notwendig, und auch das Resultat der Einführung eines CO2 Preises. Weiter steigende Energiepreise für fossile Quellen sind daher wahrscheinlich, und auch ein wichtiges und richtiges Instrument des Klimaschutzes.
Wir können nicht #Klimaschutz wollen und gleichzeitig höhere Preise für schädliche Energiequellen ablehnen. #Greenflation
Die gute Nachricht: erneuerbare Energien sind effizienter und günstiger, und somit gut für Preisstabilität langfristig.

ft.com/content/4d278b…
Fakt #11: Inflation in Deutschland:

3,1 % 1958-1998 (D-Mark, Bundesbank)
4,9 % 1970-1979
1,4 % 1999-2021 (Euro, EZB)

Ergo: Nie waren die #Inflation in Deutschland geringer und die Preise stabiler als unter #Euro und #EZB. Image
Fakt #12: Der größte Schaden für Deutschland in der Geschichte ist nicht durch #Inflation (auch nicht die „Hyper-Inflation“ von 1920-23), sondern durch #Deflation entstanden — die große Depression und #Weltwirtschaftskrise 1929-33, die zum Aufstieg der Nazis beigetragen hat. Image
Thread zum #Inflation Alarmismus:

Fazit #1: Steigende #Mieten und #Energiepreise liegen nicht in der Verantwortung der #EZB, sondern ausschließlich bei der Politik, die viel zu lange durch ihre Politik diese Situation gefördert hat. #Klimaschutz
Fazit #2: Die zur Zeit erhöhte #Inflation in 🇩🇪 ist wahrscheinlich temporär und ist willkommen, da sie eine notwendige Normalisierung widerspiegelt.

Anstelle der EZB die „Schuld“ zu geben, sollte die Politik sie selbst Verantwortung übernehmen.
Der Alarmismus zu #Inflation ist ein sehr deutsches Phänomen, das Menschen verunsichert und die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken schädigt.
Viele Kolleg:innen haben wichtige Beiträge zur Debatte zur #Inflation geleistet. Einige der Grafiken hier stammen von HT @Isabel_Schnabel, @PeterBofinger, @bundesbank. Andere sind: @f_fichtner, @michael_huether, @SDullien, @econ_stardust, @FlorianMKern @PhilippaSigl uvm. Danke!
„Die Gefahr, wichtige Weichenstellungen für die Zukunft durch mehr öffentliche #Investitionen zu verpassen, sei größer als das Risiko neuer #Schulden bei negativen #Realzinsen.“
— Ex-US Finanzminister Larry Summers.

Sehr zutreffend und wahr.

handelsblatt.com/politik/intern…

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zeit.de/wirtschaft/202…
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Feb 23
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zeit.de/wirtschaft/202…
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rp-online.de/politik/deutsc…
Die anhaltende Schwäche der #Wirtschaft Deutschlands ist nicht überraschend und kein Grund zur Panik. Sie ist vor allem das Resultat des #Ukraine-Kriegs, denn die hohen Kosten für #Energie und Lebensmittel bremsen den privaten Konsum und auch Exporte und #Investitionen.
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Meine kurze Einordnung im 🧵:

focus.de/finanzen/news/…
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Read 5 tweets
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 zeit.de/wirtschaft/202…
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