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Schulpflicht - Bildungspflicht, ein Thread (lang)

Die Pandemie hat eine aufgeregte Diskussion um das Thema „Distanzunterricht“ - maW um Fragen der Schul- oder Bildungspflicht ausgelöst. Schauen wir uns mal an, was es mit diesen Begriffen unabhängig von der Pandemie auf
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sich hat und versuchen wir, die Diskussion zu versachlichen.

Die Schulpflicht (im Sinne einer Präsenzpflicht in staatlichen Schulgebäuden) besteht in Deutschland seit 1919 als Errungenschaft demokratischer und milieuunabhängiger Bildungsmöglichkeiten aller Kinder.
Ihr voraus
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ging seit dem 18. Jh. eine Unterrichtspflicht, die Eltern verpflichtete, ihren Kindern Bildung zuteil werden zu lassen (auch um sie vor Ausbeutung als Arbeitskräfte unter Missachtung ihrer Bedürfnissen zu schützen). Es war nicht festgelegt, wie und wo die Bildung
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stattzufinden hatte. Oft wurde sie in einer Form des Hausunterrichtes umgesetzt, reiche Familien schickten ihre Kinder auf Privatschulen oder engagierten Hauslehrer. Für Eltern, die weder Neigung noch Ressourcen besaßen, ihre Kinder zu bilden oder bilden zu lassen, sprang zur
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Verwirklichung der Unterrichtspflicht der Staat ein.

Die Durchsetzung der Schulpflicht wurde aufgrund ihrer Historie als schwerer Eingriff in elterliche Rechte angesehen und wird – manchen mag es in den Ohren klingeln – bis heute kontrovers diskutiert. Ihre Begründung liegt
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aber im Recht aller Kinder, die zu ihrer Entwicklung und ihrem späteren gesellschaftlichen Bestehen notwendige Bildung zu erlangen. Weiterhin – man halte die Luft an – erst 2006 vom BVerfG ausgeführt, dient die Schulpflicht der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrages
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sowie dem alltäglichen toleranzfördernden Kontakt mit der demokratischen und pluralistischen Gesellschaft und ihren Diskursen.

Die hinter diesen Begründungen liegenden Bildungs- und Sozialisationsmöglichkeiten sind natürlich ausschließlich analoger Natur – Digitalisierung gab
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es noch nicht. Eine Familie, die die Schulpflicht nicht erfüllte, ihre Kinder isolierte (aus welchen Gründen auch immer), verletzte in der Tat im Beharren auf dem Recht der Eltern das Recht des Kindes und auch das Recht des Staates.

Jahrzehnte nach diesen bis heute gültigen
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Grundlagen sieht unsere Bildungslandschaft ganz anders aus: die Digitalisierung hat Einzug gefunden, seit Beginn der Pandemie auch (im Verhältnis zu vorpandemischen Schulausstattungen) in rasantem Tempo. Unterricht kann an fast jedem Punkt dieses Landes gewährt werden – ohne
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die Anwesenheit in einem bestimmten Raum dafür zu benötigen. Die Konsequenz – und die ist ein wesentlicher berechtigter Teil der mit Verve geführten Diskussion – ist, dass wir elterliche Erziehungs- und Bildungspflicht, Bildungsrecht, Schulpflicht, Präsenz- und Distanzlernen
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und staatliches Erziehungsrecht unter sich verändernden Gegebenheiten betrachten und zu modernen und angepassten Schlüssen kommen müssen – wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft auch.
Konnte Bildung in vordigitaler Zeit nur in Präsenz vermittelt werden, so könnte
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das heute ohne unüberwindliche Probleme auch in Distanz erfolgen.

Dieser Entwicklung wurde das BVerfG in seinem Urteil im November 2021 zur Verfassungsmäßigkeit der Bundesnotbremse und des damit verbundenen Verbotes von Präsenzunterricht gerecht – hier wurde erstmalig das
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Recht auf schulische Bildung von Kindern gegenüber dem Staat anerkannt, dabei aber offen gelassen, in welcher Form dieses Recht gewährt werden kann. Dabei wird explizit auf die Verpflichtung des Staates, das Bildungsrecht der SuS in der Zeit des Präsenzunterrichtsverbotes
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durch Distanzunterricht zu gewährleisten, hingewiesen. Damit nimmt das BVerfG einen wichtigen, den technischen Entwicklungen und modernen pädagogischen Erkenntnissen angemessenen zukunftsweisenden Standpunkt ein – den viele andere Länder dieser Welt mit der Abschaffung der
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Schulpflicht (im Sinne einer Präsenzpflicht) schon länger vertreten.

Deutschland ist eines der wenigen Länder in der Welt, die noch eine Schulpflicht haben, neben bspw. der Türkei, Schweden, Saudi-Arabien, Japan oder Südkorea und sie steht immer vehementer in der Kritik.
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Die Pandemie hat darauf ein Brennglas gelegt. Der größte Konfliktherd zwischen Schule und Pandemie ist die Schulpflicht, verschärft durch einige über Bildung und staatlichen Erziehungswillen hinausgehende politische Funktionszuschreibungen und gesellschaftliche Erwartungen,
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wie bspw. die Betreuung oder ersatzweise Versorgung der Kinder.

Viele andere Länder haben statt der Schulpflicht eine Bildungspflicht. Die Bildungsfreiheit ist tw. in der Verfassung garantiert und der Staat überlässt es der individuellen Situation der Familie, in welcher
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Form ihren Kindern schulische Bildung zuteil wird – als Hausunterricht (das eigentliche Homeschooling), in Form einer Onlinebeschule o.ä. Der Erfolg der verschiedenen wählbaren Bildungswege wird dabei durchaus staatlich beaufsichtigt, so dass die Abgabe der Bildungskontrolle
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in die Hände der Eltern nicht zum Nachteil der Kinder gereicht.
Dabei hat die Beschulung aus der Distanz in der Welt eine lange Tradition. Australien bspw. hat seit 70 Jahren Bedarf und gelassene Erfahrung darin, Kindern unabh. vom sozioökonomischen Status der Familie ihr
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Recht auf schulische Bildung nach Hause zu bringen und inzwischen gibt es im Fernschulweltmeister Australien über 25 Fernschulen. Weltweit werden Kinder beruflich Reisender, die nicht ortsgebunden zur Schule gehen können, im Hausunterricht oder in Fernschulen, wie sie
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bislang hießen (inzw. Onlineschulen) beschult. In den USA ist in allen 50 Bundesstaaten (der früheste seit fast 20 Jahren) keine Schulpflicht mehr gegeben, ca. 3,8% der SuS werden anders als in der Präsenzschule beschult.
Die Diskussion um die Frage, ob Schulen je nach Phase/
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Lage der Pandemie als Präsenz- oder Distanzunterricht organisiert sein sollte und die Vergleiche diesbezgl. zwischen den Ländern dieser Welt sollte immer auch berücksichtigen, ob in den zum Vergleich herangezogenen Ländern eine Schul- oder eine Bildungspflicht herrscht. Davon
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ist abhängig, wie Familien mit der sich darstellenden Situation umgehen können.
Die Digitalisierung bedeutet für die Home-/ oder Fernbeschulung eine unermessliche Erleichterung und verschafft der Welt – und auch Deutschland – neue Möglichkeiten, flexibel auf unterschiedliche
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Wünsche und Bedürfnisse moderner Familien reagieren zu können.

Die staatliche Schulbildungspflicht ist zunehmend unabhängig von der Präsenz-/Distanzfrage und Didaktik, Methodik und Kommunikation sind durchaus dafür entwickelbar.
Der staatliche Erziehungswille hinsichtlich
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Sozialisation in einer pluralistischen toleranten demokratischen Gesellschaft und der wichtige Kontakt der Kinder untereinander ist ebenfalls nicht zwangsläufig abhängig von der Frage nach Schulpräsenz, den Kontakt zu andersdenkenden, altersdifferenten oder auch
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gleichgesinnten Menschen finden Kinder ebenso oder sogar besser bedürfnisorientiert und gewinnbringend jenseits der Schule. Bestehende Onlineschulen in D bspw. bieten auch Klassen-/Gruppenmöglichkeiten und hybride Lernformen an – dem berechtigten Bedürfnis der Kinder kann
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somit auch anders als durch Schulpflicht entsprochen werden.
Den sozioökonomisch unabhängigen Zugang zu digitalen oder nicht-Regelschulangeboten könnten staatliche kostenlose Onlineschulen oder vergleichbare flexible Möglichkeiten sowie die Anerkennung der bestehenden
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Onlineschulen in D als Ersatzschulen analog zu anderen Ländern rund um den Globus gewähren. Bislang können in D nur unter streng limitierten Bedingungen langfristig und/oder schwer erkrankte oder in Regelschulen nicht beschulbare Kinder solche Möglichkeiten nutzen, die z.T.
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auch hohe Schuljahreskosten erheben.

Wissenschaftlich wird die Schulpflicht schon lange kritisch als mögliches Hemmnis eines selbstbestimmten und kreativen Lernens und als Ausdruck des Misstrauens ggü. der Lernwilligkeit von Kindern und der Erziehungsfähigkeit von Eltern
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diskutiert.

Summa summarum: die Schulpflicht in D ist eine historisch berechtigte und in vielen Facetten gut begründete „Pflicht“, die über Bildungspflicht und Erziehungsrecht des Staates hinaus gesellschaftliche Funktionen bspw. für die Erwerbstätigkeit von Eltern erfüllt.
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Ihr Bestand ist mit der Digitalisierung, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über Lernen und Sozialisation und zukünftige Erfordernisse der Gesellschaft sowie mit einem Fokus auf das originäre Recht der Kinder auf bedürfnisorientierte Bildung ohne Zuschreibung erwachsener
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More from @IsabelRuland

28 Nov 21
Letzte Woche fand im Schulausschuss des Landtages NRW eine Anhörung zu einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf Einrichtung einer staatlichen kostenlosen Online-Schule für SuS, die zeitweise keine Regelschule besuchen können, statt. Dazu wurden verschiedene Sachverständige
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befragt, was aus ihrer jeweiligen Sicht dazu anzumerken sei. Ich hatte die Ehre, als Sachverständige fünf Initiativen vertreten zu dürfen, die sich - auch - für Risikofamilien in der Pandemie einsetzen. Nicht umsonst heißen diese Familien #Schattenfamilien, da sie in der
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Pandemie im Schatten jeglicher Diskussion stehen. Bei allen Maßnahmen (und -zurücknahmen) finden sie mit ihrer besonders belastenden Situation keine Beachtung und müssen ihre Kinder tw. seit über 1,5 Jahren isolieren - Teilhabe Fehlanzeige.

Die beantragte Online-Schule beruht
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31 Oct 21
In der aktuellen Diskussion zur (Lockerung der) Maskenpflicht an Schulen werden immer wieder eine Reihe von Argumenten gegen das Tragen von Masken angeführt.
Schauen wir uns einige davon an.
Ein Thread ⬇️

Medizinische Aspekte (Sauerstoffmangel, Todesfälle, Verunreinigung mit
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Aber was ist mit den "soften" Argumenten?

1. Probleme beim (Fremd-)Sprachenerwerb: zum (Fremd-)sprachenerwerb gehört
2/
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22 Jul 21
"(...) Tugenden verfügt, die jede und jeder mit Ambitionen aufs Kanzleramt mitbringen sollte."

Schauen wir uns einmal an, wie es um diese "Tugenden" bei @ArminLaschet bestellt ist, dem Bewerber aus Merkels Partei. Für ihn sind die Fußstapfen dadurch sogar noch größer.
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"Erstens: Mit wissenschaftlichem Verstand ausreichend ausgerüstet (...)"

@ArminLaschet in der ersten Phase der Pandemie eines neuartigen potenziell gefährlichen Virus' über Wissenschaft und Wissenschaftler, deren Spezialgebiet dieses Virus ist:

deutschlandfunk.de/lockerung-der-…
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@ArminLaschet über die Dynamik einer neuen Pandemie mit immer noch vielen Unbekannten und die anspruchsvolle Wissenschaft der Modellierer:


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Read 17 tweets
11 Jul 21
@DJanecek reißt heute einen Vergleich zwischen LongCovid und Lockdown auf. Ich habe darauf reagiert. Servicetweet für Dieter:

LongCovid-Folgen - also die gesundheitlichen Folgen einer Virusinfektion mit einem neuen Virus, dessen Langzeitfolgen wir nicht kennen - gegen
1/n
Auswirkungen infektionseindämmender Maßnahmen - pauschalisiert "Lockdown" genannt - aufzuwiegen, ist sachlich absurd.

2019 brach eine weltweite Pandemie aus: eine "unnormale" Situation und jede Reaktion - Wut, Angst, Trauer, Abwehr, Verunsicherung... ist eine normale 2/n
Reaktionen auf diese unnormale Situation.
Das Virus hat in allen Ländern zu nie dagewesenen Situationen geführt. Bis auf wenige Länder riss das Virus verheerende Kranken- und Totenzahlen in die Bevölkerung.
Kindern und Jugendlichen begegnete die Pandemie zunächst als
3/n
Read 26 tweets
29 Jun 21
@cturzer @JMWiarda
Ich erlaube mir, auf einige Aspekte zu antworten. Das kann so nicht stehen bleiben.

1. Die Vermutung, Sicherungsmaßnahmen suggerierten Beteiligten eine ungerechtfertigte Gefahr, verkehrt grundlegend psychologische Faktoren der Risikoanalyse/Prävention
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und nährt das politische Narrativ "Schule ist sicher", das eine gefährliche Scheinsicherheit suggeriert und Eltern/SuS/LuL vorgaukelt, sich um eine Infektion keine Sorgen machen zu müssen. Spätestens mit der ersten Quarantäneanweisung bricht für Familien dieses
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Kartenhaus zusammen. Wer es weiterhin glaubt, ist entrüstet: wo keine Gefahr, da doch auch keine Quarantäne nötig...
Wer sich der Erkenntnis stellt, erkennt auch die Scheinsicherheit, in der er sich bewegte. In der Präventionsforschung ein ganz zentraler Aspekt. Mit gleicher
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8 Jun 21
@ABaerbock Eine Bemerkung wie "15 Monate Bildungsausfall" ist ein Schlag ins Gesicht von Kindern/Jgdl., die sich im Distanzunterricht jeden Morgen ab 8 Uhr an den Rechner oder die Aufgaben gesetzt haben und JEDES von den KM verursachte Schul- und Infektionschaos ertragen und DENNOCH
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@ABaerbock gelernt haben und jetzt den Hagel an Klassenarbeiten/Klausuren AUCH noch ertragen.
Es ist ein Schlag ins Gesicht der Eltern, die 15 Monate Distanzlernen für ihre Kinder organisiert haben.
Es ist ein Schlag ins Gesicht der Lehrer:innen, die sich 5 Beine ausgerissen haben, um
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@ABaerbock den Unterricht an die immer wieder veränderten Bedingungen anzupassen, sich um Kinder und Familien mühten.
Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen haben JEDES Chaos ausgehalten, dass die KM produzierten, anstatt Distanzunterricht erfolgreich und Schulen sicher zu machen.
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Read 15 tweets

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