Vorweg: Jaja, ich habe mal versprochen, nichts zur Mbembe-Debatte zu schreiben und werde hiermit wortbrüchig. Zugleich löse ich mit dem Text aber auch ein Versprechen ein und liefere endlich den dritten Teil meines alten Textes über Antisemitismuskritik und Rassismuskritik ab.
Außerdem ist der Text so meta, dass er kaum als Äußerung zu Mbembe zählt: Ich nutze den Fall als Anlass, um allgemein zu diskutieren, warum Antisemitismuskritik und Rassismuskritik so oft in Konflikt geraten und warum das gerade beim Thema Israel passiert.
Fast alle können sich darauf einigen, dass Rassismus und Antisemitismus schlecht sind und bekämpft werden müssen. Warum also geraten diejenigen, die sich als Rassismuskritiker_innen verstehen, dann in Konflikt mit denjenigen, die sich als Antisemitismuskritiker_innen verstehen?
Meine Antwort: Es treffen dabei zwei Traditionen des Denkens aufeinander, die sich zwar beide als herrschaftskritisch verstehen, damit aber etwas Unterschiedliches meinen und auf vielen Gebieten gegensätzliche Positionen vertreten.
Bei dieser Gegenüberstellung konstruiere ich die Unterscheidung binärer als sie in Wirklichkeit (es gibt ja viele Formen von Antisemitismuskritik und Rassismuskritik). Aber ich hoffe, dass die binarisierende Konstruktion der im Konflikt relevanten Varianten der Erkenntnis dient.
Zudem verhalte ich mich (von einigen Ausrutschern zum Ende abgesehen) bewusst relativistisch. Das heißt, ich beschränke mich darauf, die beiden Seiten als Perspektiven darzustellen und ernstzunehmen, ohne allzu sehr zu schiedsrichtern.
Nun zur Gegenüberstellung auf den Feldern Theorie, Geschichte, Fokus der Kritik, Solidarität, je eigener Gegenstand, je anderer Gegenstand, Israel und Mbembe:
Theorie: Antisemitismuskritik sieht sich in der Tradition kritischer Theorie als Selbstkritik der Aufklärung. Diese trage zwar den „Keim zum Rückschritt“ in sich, ihr emanzipatives Potenzial müsse aber gegen regressive Ideologien und totalisierende Kritik verteidigt werden.
Rassismuskritik sieht sich in der Tradition poststrukturalistischer und postkolonialer Kritik. Sie betont die (insb. koloniale) Gewalt, die mit „aufklärerischem Denken gerechtfertigt wurde – entsprechend ist ihr jeglicher Bekenntniszwang zur Aufklärung verdächtig.
Geschichte: Im Fokus des antisemitismuskritischen Blicks auf Geschichte steht die Shoah als Katastrophe, in der sich alle destruktiven Potenziale der Moderne realisierten und die sich nie wiederholen dürfe.
Im Fokus des rassismuskritischen Blicks auf Geschichte steht der Kolonialismus als Herrschaft und Gewalt, die sich postkoloniale fortsetze und der ein Ende bereitet werden müsse.
Fokus der Kritik: Antisemitismuskritik wendet sich vor allem gegen Ideologien und Bewegungen, die sie als regressiv-antiaufklärerisch versteht – oft bestehe eine Verbindung zu antisemitischem Denken. Dazu zählten unter anderem (Neo-)Faschismus und Islamismus.
Rassismuskritik wendet sich vor allem gegen Herrschafts- und Marginalisierungsverhältnisse sowie die Ideologien/Diskurse, mit denen diese Verhältnisse gerechtfertigt werden – die rassistische Rechtfertigung weißer/europäischer/westlicher Herrschaft sei hier paradigmatisch.
Politik: Antisemitismuskritik erklärt sich solidarisch mit politischen Akteur_innen, die (aus Sicht der Antisemitismuskritik) „die Werte von Aufklärung und Moderne“ gegen Regression verteidigen (auch wenn sie das mit den überlegenen militärischen Mitteln einer Weltmacht tun).
Rassismuskritik erklärt sich solidarisch mit marginalisierten und exkludierten Gruppen, die gegen ihre Marginalisierung und Exklusion kämpfen – auch dann, wenn sich dabei nicht zu „den Werten von Aufklärung und Moderne“ bekennen.
Der eigene Gegenstand: Antisemitismuskritik versteht unter Antisemitismus sozialpsychologisch eine *bestimmte Art des Denkens*, die moderne Verhältnisse verarbeitet und hinter allen Probleme moderner Gesellschaft jüdische Machenschaften vermutet.
Rassismuskritik versteht unter Rassismus dagegen macht- und diskursanalytisch ein *soziales Dominanzverhältnis*, das die Lebenschancen einer privilegierten (weißen) Gruppe verbessere und die marginalisierter (nichtweißer) Gruppen vermindere.
Damit gelingt es beiden Traditionen, ihren Gegenstand in produktiver Weise zu fassen. Jedoch erweisen sie sich als einigermaßen blind, wenn sie mit ihren Linsen auf den je anderen Gegenstand schauen.
Wenn Antisemitismuskritik im Rassismus *nur* eine bestimmte Form des Denkens sieht, ist sie außerstande, die Machtverhältnisse und diskursiven Dynamiken zu erfassen, die rassistische Herrschaft ausmachen.
Wenn Rassismuskritik im Antisemitismus ein soziales Dominanzverhältnis sehen will, kommt sie regelmäßig zu dem Schluss, er sei heute in westlichen Gesellschaften kein großes Problem mehr – und übersieht damit die Kontinuität antisemitischen Denkens und antisemitischer Gewalt.
Blick auf den Nahen Osten: Wenn Antisemitismuskritik auf den Nahen Osten blickt, sieht sie das Land der Holocaustüberlebenden, das gegen antisemitische Feinde um seine Existenz kämpft (und dabei zum Glück über bessere Waffen verfügt als diese Feinde).
Wenn Rassismuskritik auf den Nahen Osten blickt, sieht sie einen innerhalb kolonialer Strukturen von Europäer_innen in Asien gegründetes Staat, der um Selbstbestimmung kämpfende indigene Bevölkerungen unterdrückt und sich verhält wie eine Siedlerkolonie.
Hier der vll. kontroverseste Punkt des Artikels: Handelte es sich um neutrale Sachurteile, wäre keine der beiden Einordnungen absurd falsch. Absurd falsch wird es nur, wenn man glaubt, allein auf dieser Basis ein moralisches Urteil über den Konflikt fällen zu können.
Blick auf BDS: Wenn Antisemitismuskritik auf BDS blickt, sieht sie eine antisemitische Boykottkampagne und fühlt sich an das nationalsozialistische „Kauft nicht beim Juden!“ erinnert.
Wenn Rassismuskritik auf BDS blickt, sieht sie eine antikoloniale Boykottkampagne und fühlt sich an die gegen Südafrika erinnert.
Blick auf den „Fall Mbembe“: Antisemitismuskritik sieht jemanden, der eine antisemitische Boykottkampagne unterstützt, antisemitisches Denken verbreitet und dabei von „BDS-Verstehern“ gedeckt wird.
Rassismuskritik sieht einen Denker aus einer ehemaligen Kolonie, der antikoloniale Positionen vertritt und dafür von der (überwiegend weißen) Öffentlichkeit der ehemaligen ehemaligen Kolonialmacht gemaßregelt wird.
Nochmals: Alles in Wirklichkeit nicht so binär, es gibt weder DIE Antisemitismuskritik noch DIE Rassismuskritik. Aber die Vereinfachung dient m.E. dem Verständnis des Konflikts.
Und was machen wir jetzt mit alldem? Zumindest könnten wir anfangen, besser zu streiten:
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Ich habe jetzt schon mehrfach gelesen, man werde die Effekte der gestrigen Demos in zwei Wochen an den Infektionszahlen ablesen können. Das kann schon passieren, ist aber (meiner wie immer laienhaften Einschätzung nach) nicht sehr wahrscheinlich.
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Überschlagen wir mal ganz großzügig für Berlin. Dort gibt es offiziell knapp über 300 aktive Fälle. Nehmen wir mal an, es sind in Wirklichkeit etwa acht Mal so viele, also 2500. Das ist dann auf die Berliner Bevölkerung gerechnet eine von 1.500 Personen.
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Gehen wir auch davon aus, dass das alles grob gleich verteilt ist (oder sich die Ungleichheiten rausmitteln), dann wären auf dem Alexanderplatz vielleicht zehn infizierte Personen gewesen.
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Bevor ich im Spätsommer 2018 in Tübingen angefangen habe, kannte ich Boris Palmer nur von seinen bundesweiten Skandalen. Entsprechend dachte ich, er sei erstens in hohem Maße narzisstisch, zweitens für einen Grünen ziemlich rassistisch und drittens ein wenig verrückt.
Thread
Das halte ich auch nach anderthalb Jahren etwas eingehenderer Beschäftigung mit seinem Wirken für eine passende erste Annhäherung. Aber mittlerweile würde ich zwischen „narzisstisch“ und „rassistisch“ noch die folgenden drei Punkte einordnen:
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a) Palmer ist eine dieser stets unangenehmen Personen, die sich als „Verantwortungsethiker“ in einem Meer von „Gesinnungsethikern“ verstehen – was für ein Unheil Weber mit dieser haltlosen Unterscheidung angerichtet hat!
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Ich habe kein Karies. Das zeigt, dass ich mit der jahrelangen Zähneputzerei auf die Panik-Propaganda der Zahnputzindustrie hereingefallen bin.
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Köln wurde seit Jahren bei keinem Rheinhochwasser mehr überschwemmt. Das zeigt, dass die ganzen Hochwasserschutzmaßnahmen teurer Unsinn sind. Davon hätte man dem DLRG hunderte Rettungsboote kaufen können.
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Nachdem ich bei meinem Fahrradunfall neulich auf den Helm gefallen bin, hatte ich gar keinen Schädelbasisbruch. Das zeigt, dass ich den unbequemen Helm ganz umsonst getragen habe.
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Eigentlich wollte ich diese Woche einen Test schreiben:
„Das Schlimmste, was ‚der Wirtschaft‘™ passieren kann, ist eine schnelle Lockerung der Maßnahmen."
Aber nun wurde ähnliches schon aus berufenerem Munde geäußert, daher hier nur einige Punkte in Kurzform.
1. Es stimmt: Wer denkt, es stünde aktuell einfach „die Rettung von Menschenleben“ gegen „wirtschaftliche Interessen“, macht es sich viel zu leicht. Nicht nur eine unkontrollierte Pandemie, auch eine ausgedehnte Rezession oder Depresssion würde sehr viele Menschenleben fordern.
2. Diejenigen, die Punkt 1 betonen, machen es sich meistens viel zu leicht. Die Vorstellung, dass die Wirtschaft eines Landes auch nur halbwegs normal operiert, während in den Krankenhäusern Zustände wie zuletzt in Norditalien, Ostfrankreich oder New York herrschen, ist absurd.
1) Wie wurde denn nun sichergestellt, dass nicht die Hälfte der positiven Antikörpertests auf Immunität gegen herkömmliche Erkältungscoronaviren beruht? Das wäre wichtig und Streecks Antwort auf die entsprechende Frage befriedigt nur bedingt.
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2) Wie haben sie festgestellt, dass eine höhere Viruslast bei der Infektion einen schwereren Verlauf begünstigt? Und in welchem Maße ist das der Fall?
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Thread:
In meinem neuen Blogbeitrag nenne ich acht Punkte gegen die Idee einer "Schutzisolation für Risikogruppen" bei "kontrollierter Durchinfektion", mit der gerade so viele liebäugeln.
1. Wer die Risikogruppen wirklich schützen will, muss das Infektionsgeschehen eindämmen, statt sich der Anmaßung hinzugeben, es kontrollieren zu können.
2. Die relevanten Vorerkrankungen sind "Volkskrankheiten". Daher würden die zu isolierenden "Risikogruppen" den gängigen Definitionen zufolge allein in Deutschland mindestens 10, eher 20 bis 30 Millionen Menschen umfassen. Mithin wäre es die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung.