Vielleicht sind wir deshalb so schlecht im Problemlösen, weil man bei uns von Kindheit an darauf dressiert wird, Dinge schönzureden? Alles muss in bestem Licht dargestellt werden. Wir sind eine Gesellschaft des Schaufensterdekorierens. (Thread)
Grundsätzlich ist Optimismus eine tolle Sache. Klar: Probleme löst man nicht, in dem man jammert, sondern indem man sie als Herausforderung begreift. Wer immer alles nur furchtbar findet, ist kein angenehmer Arbeitspartner.
Und so hat sich eine Kultur des dogmatischen Optimismus entwickelt: "Du bist der Beste!" sagen uns Motivationstrainer. "Traue dir selbst alles zu! Zeige der Welt, dass deine Leistungen herausragend sind!" Und zwar unabhängig davon, ob das tatsächlich stimmt.
Die Wahrheit dabei zu verbiegen, gehört zum Spiel dazu: Im Lebenslauf darf man schon mal etwas dick auftragen. Kleiner Sommernebenjob? "Branchenspezifische Arbeitserfahrung!" Mal ein bisschen italienisch für den Urlaub gelernt? Ach! "Italienisch: fließend in Wort und Schrift!"
Die Werbebranche lebt genau davon: Das beworbene Produkt wird zum allerbesten erklärt. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, danach zu fragen, ob das wahr ist, das wäre lächerlich. Die Werbebranche ist zum Schönreden da, Wahrheit ist hier gar keine Kategorie.
Dasselbe gilt für PR, auch in der Politik. Der Vorschlag des Ministers muss dargestellt werden als wäre er die glorreiche Lösung für alle Probleme. Die Frage ob das stimmt, ist genauso unsinnig wie die Frage nach der Farbe der Zahl 5. Darum geht es nicht.
Das führt zu mehreren Problemen. Erstens werden wir in so einer Gesellschaft automatisch selbst zum wohldekorierten Schaufenster. Man fragt uns, wie es uns geht. Die Antwort ist "dankegut". Völlig unabhängig von der Wahrheit.
Wir präsentieren unser Leben optimistisch nach außen, weil es gar keine andere gesellschaftlich akzeptierte Art der Präsentation gibt. Wir posten sonnige Urlaubsfotos und leckeres Essen, süße Babys und dynamische Workout-Posen. ALLES HAT GEFÄLLIGST GUT ZU SEIN, VERDAMMT NOCHMAL!
Und dieses gesellschaftlich verordnete optimistische Schaufensterdekorieren verhüllt echte Probleme, die wir anpacken müssten. Bei uns gibt es viel mehr COVID-Opfer als anderswo? Egal. WIR HABEN DIE PANDEMIE GLÄNZEND GEMEISTERT! Steht doch in der Presseaussendung.
Der Kollege war mit seiner Aufgabe hoffnungslos überfordert und möchte in Zukunft keine solchen Projekte mehr übertragen bekommen? Das ist keine Option! Es gibt kein Scheitern, nur Herausforderungen! Gegenüber dem Chef muss er seine Leistung schönreden. Das ist Teil des Jobs.
Bei Klimakonferenzen blickt man mit heroischem Optimismus in die Zukunft. Ja, gut so - aber sollte man nicht zuallererst mal sagen: "Wir sind in den letzten 3 Jahrzehnten kläglich gescheitert"? Wäre das nicht der faktisch richtige Ausgangspunkt?
Ich glaube, wir bräuchten mehr Mut, Dinge auch mal negativ zu sehen. Es ist ganz normal, dass Fehler passieren. Dafür soll auch niemand gedemütigt werden. Im Gegenteil: Es sollte allen hoch angerechnet werden, wenn sie Fehler zugeben und daraus lernen.
Das gelingt aber nur, wenn über Fehler geredet wird. Daher brauchen wir beides: Optimismus und Pessimismus. Pessimismus hilft uns, Probleme anzuerkennen und sie nicht schönzureden. Und Optimismus hilft uns, dabei nicht verrückt zu werden und Probleme tatsächlich zu lösen.

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