Der wichtige Player Wirtschaftsbund schlägt die Pflöcke für eine Reform des Arbeitslosengeldes ein, berichtet @DiePresse_Eco heute. Seine extremen Vorschläge kommen zur Unzeit mitten in die größte Arbeitsmarktkrise Österreichs seit dem zweiten Weltkrieg. Ein Thread 1/13
Zum Setting: Aktuell zahlt das AMS arbeitslosen Menschen zunächst 55%-60% des vorherigen Einkommens. Das ist im internationalen Vergleich mit west- und nordeuropäischen Sozialstaaten einer der geringsten Werte überhaupt. Das soll nun „reformiert“ werden. 2/13
Im Verlauf der rund 12 Monate könnte zunächst leicht mehr gezahlt werden, z.B. 70% für 2-3 Monate, die aber mit der Zeit absinken auf 40% des vorherigen Nettoeinkommens. Das ist noch viel weniger als die 55%, die jetzt als Grundbetrag gezahlt werden. 3/13
Der Wirtschaftsbund ist mit 40% übrigens noch radikaler als die @AgendaAustria (AA), die Arbeitslosen nur mehr 45% des Letztgehalts zugestehen will. Beide Vorschläge sind übrigens noch härter als das berüchtigte Hartz IV in Deutschland, das nur rund 47% ersetzt. 4/13
Die Reform solle „aufkommensneutral“ sein, die Ausgaben für Arbeitslosengelder also gleich hoch sein wie bisher. Die Aussage, dass alle Menschen in Arbeitslosigkeit daher gleich viel bekämen (nur anders verteilt), stimmt trotzdem nicht. 5/13
Nach rund einem Jahr Arbeitslosengeld muss eine arbeitslose Person Notstandshilfe beantragen. Sie beträgt 52% des vorherigen Gehalts. Beginnt diese in Zukunft mit 40% statt 52% des Letztgehalts, bedeutet das eine massive Kürzung der Leistung ab Tag 1 der Notstandshilfe. 6/13
Wer aktuell von einer noch vergleichsweise „hohen“ Notstandshilfe leben muss (1000 Euro im Monat, nur 12x im Jahr), fällt künftig um 230 Euro um und erhielte im neuen System nur mehr 770 Euro. Davon kommen noch ein paar Euro weg für die Pensionsversicherung. 7/13
Der große Vorteil der Notstandshilfe gegenüber der Sozialhilfe ist, dass man weiter für die Pension einzahlt. Und dass das (meist kaum vorhandene) letzte Vermögen nicht eingezogen wird. In Sozialhilfe nimmt die Behörde alles über ca. 4500 Euro weg (Auto, Wohnung, Sparbuch). 8/13
Gekürzt wird mit dieser Reform bei den 220.000 länger Arbeitslosen in der Notstandshilfe. Doch sogar diese geringe Hilfe will der Wirtschaftsbund offenbar zeitlich begrenzen, womit zehntausende Menschen künftig in die Sozialhilfe gezwungen würden. 9/13
Berüchtigt ist die Erfahrung aus Deutschland: Dort hat die Hartz 4 Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zusammengelegt. Menschen, die 30 Jahre eingezahlt haben, mussten aus ihren „zu großen“ Wohnungen ausziehen und plötzlich mit einer sehr niedrigen Sozialhilfe auskommen. 10/13
Garantiert ist mit so einer Reform, dass die Armut unter Langzeitarbeitslosen zunehmen würde. Derweil sind Arbeitslose ohnehin mit ihrer Lebenssituation schon enorm psychisch, finanziell und gesundheitlich belastet. 11/13
Unter 40% Lohnersatz? Österreich fiele so bei den Leistungen für Arbeitslose hinter alle vergleichbar ausgebauten Sozialstaaten auf den letzten Platz zurück. Könnte sich die Republik dann überhaupt noch rühmen, ein entwickelter Sozialstaat zu sein? 12/13
Fazit: Anstatt für ordentliche Löhne und eine ausreichende Zahl gut bezahlter Jobs nach der Pandemie zu sorgen, soll stattdessen der Druck auf 190.000 Langzeitarbeitslose massiv erhöht werden. Ein doch etwas verqueres Bild der Gesellschaft und der Arbeitsmarktpolitik.. 13/13

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30 Apr
Ist #Sprungbrett das gleiche wie die #Aktion20000? Bringt sie den Langzeitarbeitslosen gleich viel? Nein. Es gibt einen entscheidenen Unterschied. Ein Thread 1/11
Die Aktion 20.000 setzte auf öffentliche Jobs, Sprungbrett setzt auf private Jobs bei Betrieben. Klingt beides gut, ist aber ein anderes Konzept mit ganz anderen Wirkungen. 2/11
In Sprungbrett bezahlt der Staat den Unternehmen Lohnzuschüsse an Betriebe, damit sie Arbeitslose anstellen. Problem dabei: Welcher Betrieb wird wirklich einen zusätzlichen dauerhaften Arbeitsplatz schaffen, nur weil er für 12 Monate eine 50%-Förderung des Gehalts bekommt. 3/11
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6 Nov 20
Man kann es nicht weniger drastisch formulieren, das würde dem Anlass nicht gerecht: Im November 2020 räumen die Unternehmervertreter den Staat aus. Solch eine Regelung ist dem Steuerzahler gegenüber absolut unverantwortlich. #Umsatzersatz 1/13
Zunächst: Der Ersatz des Umsatzes bezieht sich nicht auf November 2020, sondern auf November 2019. Außerdem werden andere Förderungen nicht abgezogen, die es schon gibt: Kurzarbeit, und eventuell (?) der Fixkostenzuschuss. Warum ist das hochproblematisch? 2/13
Wer andere Förderungen für Kosten der Unternehmer nicht auf den #Umsatzersatz anrechnet, der bezahlt die Unternehmer doppelt. Sie bekommen ihre Personalkosten zwei Mal! Einmal durch die #Kurzarbeit, einmal durch den Umsatzersatz. Das ist eine massive Überförderung! 3/13
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30 Oct 20
Pandemie hin oder her. Es gibt kein Jahr ohne Debatte über das #Pensionssystem. Unverändert: die Argumente der Privatpensionsverkäufer:
- Pensionskosten steigen!
- Demografische Falle!
- Hoher Zuschuss aus Budget!
- Private Pensionen stärken!
Zeit für ein paar Fakten. Thread 1/18
Gleich vorweg: Das gesetzliche österreichische Pensionssystem ist sicher! Das sogenannte #Umlageverfahren bietet die beste aller Welten aus zwei Faktoren: Eine angemessene #Pensionshöhe, um #Altersarmut zu vermeiden. Und die Finanzierbarkeit/Nachhaltigkeit des Systems. 2/18
Staatlich funktioniert besser. In Ö erhalten Durchschnittsverdiener fast 80% (vor Steuern) und über 90% (nach Steuern) als gesetzliche #Pension im Vergleich zum Gehalt davor. OECD-Länder mit freiwilliger privater Säule zahlen trotz privatem Anteil wesentlich weniger Pension. 3/18
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25 Sep 20
Lange vom #Arbeitsministerium versteckt, jetzt endlich zur Veröffentlichung freigegeben: Die fiskalische Analyse der #Aktion20000 von @IHS_Vienna. Was steht drinnen? Nach dem ersten Drüberlesen eine Analyse als Thread: 1/15
Zuerst: Warum ist das wichtig? Weil sich das Arbeitsmarktproblem durch den Privatsektor alleine während Corona nicht lösen wird. Ohne staatliche Programme für #Langzeitarbeitslose wird die Zahl der Langzeitarbeitslosen bald neue Rekordhöhen erreichen. 2/15
Zunächst einmal ein schockierendes Bild. In rot, das passiert mit #langzeitarbeitslosen Menschen, die man sich selbst überlässt. Unternehmen stellen sie nicht ein, nur jedeR Zehnte findet etwas (gelb). Deswegen flüchtet sich ein Viertel in die Pension (hellblau). 3/15
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10 Sep 20
Es ist nicht mein eigener Geburtstag, fühlt sich aber genauso an: Seit einem Jahr bin ich bei @mom_inst. Beruflich bei weitem die aufregendste und coolste Zeit im Leben bisher. 1/4
Das liegt nicht nur am Konzept des Thinktanks der Vielen, der eine riesige Lücke in der österreichischen wirtschaftspolitischen Landschaft füllt. Die Verbindung von Wissenschaft, Wirtschaftspolitik, und breitenwirksamer Vermittlung ist einmalig und unglaublich interessant. 2/4
Es liegt vor allem an großartigen Leuten, die mich täglich voller Energie und Freude ins Büro kommen lassen. Danke an: @barbarablaha, @leonidobusch, @annahehenberge1, @MattiasMuck, @lisahanzl, @MichaelGinovino, @OJakisch, @dominikgries, @_A_Knapp, @battletosh, @KorneliaMohl 3/4
Read 4 tweets
7 Aug 20
Kommentar zur Replik von @monikaturyna auf meinen @derStandardat Kommentar. Ich gehe auf die OECD-Zahlen und deren Interpretation ein in einem kurzen Thread: 1/9 Image
Sie schreibt: 'Laut aktuellen OECD-Zahlen gibt es kein einziges Land in der EU, welches für einen ehemaligen Durchschnittsverdiener nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit eine höhere Ersatzleistung zahlt als Österreich.' - Das ist richtig, aber größtenteils irrelevant. 2/9
Der Durchschnittsverdiener wird nämlich seltener arbeitslos. Stattdessen werden nachweislich Menschen arbeitslos, die weit unterdurchschnittlich verdienen. Deswegen sind die OECD-Zahlen mit 2/3 des Durchschnittsgehalts der relevante internationale Vergleich. 3/9
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