#IchbinHanna ist Ausdruck eines strukturellen Problems. Es geht nicht nur um Entfristungen. Es geht darum, die Wissenschaft wieder zu einer freien Wissenschaft zu machen. Das geht nicht ohne einen grundlegenden Paradigmenwandel. – Das aktuelle Paradigma hat unter dem /1
Deckmantel der Schaffung breiter Bildungsgerechtigkeit das Wissenschaftssystem unter Kontrolle gebracht: Mehr Studierende, mehr hochwertige Abschlüsse, mehr qualitativ hochwertige Forschung – so lautete das Versprechen. Die Rückseite dieses Prozesses umfasst die gesamte /2
Bandbreite des Systems: Die Zahl der Abschlüsse entscheidet den Wert eines Faches – also müssen Mittel und Wege gefunden werden, sie zu erhöhen, auch jenseits individueller Leistungen im Studium. Die Studierenden werden in eine Zeit- und Studienordnung gespannt, die jeden /3
einzelnen Schritt überwacht; die Dozent:innen einer dauerhaften Evaluation unterworfen, die sich an Parametern orientiert, die für manche Fächer kaum Sinn ergeben. Studium und Lehre werden einer dauernden Qualitätssicherung ausgesetzt. Das Ergebnis? Studierende durchlaufen /4
Seminare aus Zeitdruck für Punkte auf Scheinen. Dozierende vermitteln feststehendes Wissen und Grundkompetenzen, die auf der Strecke geblieben sind. – Den Professor:innen überträgt man Verwaltungsaufgaben und fordert sie auf, Drittmittel einzuwerben, um in der Wertung, /5
die sich an den meisten Doktorand:innen mit den besten Bedingungen orientiert, die vordersten Plätze einzunehmen. Ergebnis: Die Lehre wird delegiert, an diejenigen, die Prüfungen abnehmen dürfen – Doktoranden und Post-Docs. Das sind aber wiederum auch diejenigen, die sich /6
bis zur Professur, die aufgrund von Stellenmangel nur ein Bruchteil von ihnen erreichen kann, in einer „Qualifikationsphase“ befinden. Sie sollen lehren, Qualifikationsarbeiten schreiben, sich um ihre Finanzierung kümmern und innovative Forschung treiben. Denn das sind die /7
Kennziffern des Messsystems, in dem sie sich bewegen. Eine unmögliche Aufgabe. Diese Nachfrage generiert die Legitimation für die immer üppigere Ausstattung der Drittmittelgeber, die entscheiden, wer gefördert wird. Die Verfahren sind intransparent und abhängig von Kriterien, /8
die die gleichen Stellen überprüfen, die auch entscheiden. – Die Hochschulen werden knapp gehalten, die Gremien oft politisch fremdbesetzt, etwa durch Wirtschaftsvertreter:innen. Viele Professor:innen, die vom System profitieren, sorgen dafür, dass es ausgebaut wird. /9
Diejenigen, die noch nicht profitieren, aber davon zu profitieren hoffen, halten still. Diejenigen, die nicht davon profitieren und das System nicht gut heißen, spielen mit, werden nicht gehört oder gehören zum rebellischen Rand. Oder vertreten als letzte ihren Lehrstuhl. /10
Dabei ist es keineswegs so, dass Professor:innen oder auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) nur auf der Seite des Systems stehen: Im Mai 2014 hat die HRK fast die gleichen Kritikpunkte formuliert, die heute unter #IchbinHanna geteilt werden. Im Mai 2015 vertritt sie die /11
Linie des BMBF heute. Das ist wichtig zu wissen, dass es auch hier Konjunkturen gibt und auch die Professor:innen und die Hochschulen wissen und formulieren, dass das System in Schieflage ist. – Die Hochschulen wissen das sehr gut, denn auch sie befinden sich in einem /12
Konkurrenzkampf untereinander um den sagenhaft nichtssagenden Titel der „Exzellenz“. Wer schon einmal den Aufwand gesehen hat, der deswegen betrieben wird, kann nur darüber staunen, dass sich ganze Universitäten in der exakt gleichen Logik bewegen wie Post-Docs: Anstatt zu /13
funktionieren – riesige Institutionen mit tausenden Mitarbeiter:innen und Studenten –, müssen sie ihre Ressourcen aufwenden, um an Edelfinanzierungen zu kommen, mit denen sie für kurze Zeit dem System gegenüber etwas eigenständiger werden. Ein Prämiensystem, sozusagen, als /14
hätte man das Bildungssystem nach dem Vorbild eines Schneeballsystems restrukturiert. Wissenschaft ist gut darin, mit Bildungsversprechen jungen Menschen Hoffnung zu machen; wo Hoffnung ist, ist der Wille, auch Absurdes zu glauben, nicht weit. Hinzu kommt, dass an den /15
Universitäten ein Comment herrscht, das laufende System ausschließlich in den Werbevokabeln des Systems zu beschreiben – schließlich ist man in Abhängigkeiten, sei es als Angestellte:r, sei es als Dozent:in. Dass das Ganze im Grunde ein Riesenbeschiss ist, in dem ein oft /16
zugeschnittenes Studium und zu leicht erworbene Abschlüsse ohne nachhaltige Bildungswirkung in einem System produziert werden, das fortlaufend um die eigene Existenz kämpfen muss, sieht man oft erst, wenn es zu spät ist. Dass diesem System trotzdem exzellente /17
Wissenschaftler:innen hervorbringen kann, liegt nicht am System, sondern an denen, die mit Talent, eisernem Willen und oft existenziellen Einbußen ihr Leben darauf verwenden. Der Respekt, den man ihnen zollt, besteht darin, sie paternalistisch als „Nachwuchs“ anzusprechen /18
und ihnen miese Bezahlung für Überstunden als Normalität anzudrehen. Dank des Systems steht schon der / die nächste bereit, sie zu ersetzen. – Also nein, mit Entfristungen alleine wird sich nichts ändern. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. /19
*dieses

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