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Ich habe ca. 2 Jahre einen Tag die Woche als Verkäuferin in einer Bäckerei gearbeitet, meist war ich in einer Filiale am Stadtrand, in einem Viertel mit vielen Vereinen, wo man seine Nachbarn i.R. alle mit Namen kennt. Und die Bäckerei viele Stammkunden hat.
Wenn die Schlange nicht gerade bis raus auf die Straße reichte, dann war Zeit für ein paar mehr Worte als "Guten Morgen! Was darf es für sie sein?" Häufig ging es ums Wetter oder die Schlagzeile der Tageszeitung. Aber nicht selten auch um die Familie.
Manche Verkaufsgespräche begannen aber auch so: "Können sie mir ein Brot ohne Körner empfehlen? Ich habe bald eine Darmspiegelung. Wissen Sie ich habe so Angst, dass sie etwas finden." Und plötzlich führt man kein Verkaufsgespräch mehr, sondern ist auf einer anderen Ebene.
Nach einiger Zeit lernt man die Menschen kennen, weiß wer Kinder hat, wer Angehörige pflegt, wer gerade aus dem Krankenhaus zurück ist, wer im Fußballverein oder der Kirchengemeinde aktiv ist. Dann verändern sich die Gespräche, es geht um die Aufregung vor der Hochzeit des Kindes
um Einsamkeit und Trauer. Wenn es ging nahm ich meine Pause dann, wenn Kunden einen Kaffee zum hier trinken kauften, von denen ich wußte, dass sie sich über Gesellschaft freuten. Dann setzte ich mich zum Beispiel zu der alten dementen Dame, die keine Angehörige hat und hörte zu.
Aber es gab auch Kunden, die sich nie an unsere Tische setzten und mit denen ich trotzdem ins Gepräch kam, wie die Frau, deren Mann vor Jahren unerwartet starb und die auf dem Weg zum Grab bei uns Kuchen kaufte und unter Tränen von ihren Mann erzählte.
Oder die Frau, mit einer Behinderung, die jede Woche von ihrem Alltag in der Werkstatt, in der sie arbeitete erzählte und die sich immer schon Wochen vorher auf ihre Urlaubsreisen freute
Das war nicht nur in dieser Filiale so. Als ich einmal in einer anderen Filiale eingesprungen war erzählt mir ein wildfremder älterer Mann unter Tränen seine Lebensgeschichte, während ich ihm ein Stück Kuchen verkaufte.
Kaffees und Bäckerei sind Orte, die zum Gespräch anregen, vielleicht weil man ohne zu kommunizieren dort gar nicht einkaufen kann, vielleicht, weil dort eher Zeit ist.
Nicht selten dachte ich bei der Arbeit, dass es hilfreich wäre, wenn ich eine Seelsorgeausbildung hätte.
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