„Das Impfdesaster, an dem wir alle eine Mitschuld tragen.“

Die Grundursache ist unsere völlig verquere öffentliche Fehlerkultur.

Ein Thread zu meinem Kommentar in @derspiegel:

spiegel.de/wirtschaft/soz…
Wir brauchen dringend eine sachlichere Impf-Debatte. Die hoch emotionale Debatte trägt nicht zu Aufklärung und Transparenz bei, sondern polarisiert und zerstört Vertrauen.
Mein Kernargument: der Fehler der Politik lag nicht bei der Beschaffung, sondern dass sie die fehlenden Kapazitäten nicht schon im Frühjahr/Sommer adressiert hat und ignoriert hat wie Märkte und Unternehmen dabei funktionieren.
4 WissenschaftlerInnen (Athey, Kremer (Nobelpreisträger), Snyder, Tabarrok) hatten bereits im Mai 2020 (!) auf dieses Problem hingewiesen und eine AMC-Strategie (advance market commitment) vorgeschlagen, mit zwei Elementen (Pull-Faktor und Push-Faktor):

nytimes.com/2020/05/04/opi…
1.Eine „Über“Bestellung von Impfstoffdosen, d.h. von vielen potentiell erfolgreichen Herstellern, da niemand wissen konnte, wer am Ende erfolgreich und am schnellsten sein würde (Pull-Faktor).
2.Staatliche Investitionen um einen (großen) Teil der Kosten für zusätzliche Kapazitäten, um diese massiv zu erhöhen (Push-Faktor).
3.Wichtig: die „Über“Bestellung alleine reicht nicht um ausreichend neue Kapazitäten aufzubauen, da es unter. Interessen gibt: bei Standardvertrag ist der Zeitpunkt der Lieferung für die Pharmakonzerne zweitrangig, aber für die Gesellschaft essenziell (je früher, desto besser).
4.Das bedeutet: eine frühere oder größere Bestellung von Impfdosen von Biontech/Pfizer und Moderna hätte per se den Engpass bei den Impfdosen NICHT behoben. Dies ist eine häufige, aber falsche Behauptung in der Debatte.(Eine frühere Zulassung/Ausrollen dagegen schon, siehe ISR)
5.Was die EU und Deutschland richtig gemacht haben:

A. Förderung von Forschung und Entwicklung,
B. Risikostreuung, also Bestellung von vielen potentiellen Impfstoffen,
C. „Über“Bestellung (EU: 2 Mrd. Dosen für 450 Mio. Menschen),
D. Gemeinsame EU Strategie um Wettbewerb Infektionen zu vermeiden,
E. Nationale Strategien bei Impf-Prioritäten um individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.
6.Der Fehler: 🇩🇪 und EU haben es versäumt, massiv in den Aufbau von Kapazitäten zu investieren und dies mit den Pharmakonzernen auszuhandeln (der Push-Faktor bei Athey et al.). Man hat ignoriert, dass die Konzerne dies nur begrenzt selber machen werden.
7.Wieso hat die Politik diesen Fehler gemacht? Unsere öffentliche Fehlerkultur ist ein wichtiger Grund: richtige Entscheidungen werden häufig ignoriert, Fehler massiv attackiert. Dies führt zu Fehlanreizen und einer hohen Risikoaversion der Entscheidungsträger.
8.Frage: was wäre passiert, wenn die Politik riesige (teure) Vorbestellungen bei Biontech und Moderna getätigt hätte, diese aber nicht erfolgreich gewesen wären? Kritik der Geldverschwendung und Rufe nach Rücktritt wären sehr laut geworden.
9.Dies führt dazu, dass viele in der Politik die Risiken minimieren und (zu lange) am Status Quo festhalten. In diesem Fall wären massive „Über“-Bestellungen und Investitionen in Kapazitäten richtig gewesen, selbst wenn 90 % dieser nicht gebraucht worden wären.
10.Unsere Sparfuchsmentalität ist ein zweiter Grund: der Staat soll bloß kein Geld ausgeben, Schulden abbauen und lieber heute als morgen die Schwarze Null erfüllen. Öffentliche Vergabe orientiert sich zu häufig am billigsten Preis, nicht am besten Preis-Leistungsverhältnis.
11.Aber auch wir als Wissenschaftler*innen müssen uns stärker einbringen mit Expertise um Lösungen zu finden und Mechanismen aufbauen zu helfen, die funktionieren.

ENDE.

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More from @MFratzscher

3 Oct 20
Deutschlands Wiedervereinigung hat nicht nur Freiheiten für Menschen im Osten, sondern auch für Menschen im Westen geschaffen, u.a. für Mütter und ihre Kinder.

#30JahreEinheit

Mein neue Kolumne @zeitonline:

zeit.de/wirtschaft/202…
30 Jahre #Wiedervereinigung — viele schauen darauf, wie dies Ostdeutsche verändert hat und dass es ihnen viele neue Freiheiten eröffnet hat. Menschen in Westdeutschland haben jedoch genauso profitiert und neue Freiheiten erhalten.
#30JahreEinheit
Die Gleichstellung von Frauen hat im Westen einen signifikanten Fortschritt gemacht, dank der Wiedervereinigung und des Einflusses von Ostdeutschen. Denn in Bezug auf #Gleichstellung hat der Westen lange hinterher gehinkt. #Gender
Read 7 tweets
1 Oct 20
Fun facts on the 100th birthday of my favorite city — Berlin — which was founded on 1 October 1920 as a merger of several adjacent cities.
#Berlin100

A fabulous birthday publication, for statistics geeks:
statistik-berlin-brandenburg.de/produkte/faltb…
Berlin in 1920 instantly became the third largest city in the world, after New York City and London, with 3.8 million citizens — though it has fewer inhabitants today than during its “golden 1920s”.
#Berlin100
#cities #demography
Berlin has always been a city of immigrants. 
During the 2010s, net immigration has been between 40,000 and 50,000 per year.

#migration #Berlin100
Read 7 tweets
29 Sep 20
Die soziale Mobilität in Deutschland ist mit am geringsten unter Industrieländern. Kinder aus einkommensschwachen Familien brauchen im Schnitt sechs Generationen um ein mittleres Einkommen zu erzielen.
Wichtiger Artikel @stefaniediemand
#Chancengleichheit
faz.net/aktuell/wirtsc… Image
Einer der wichtigsten Gründe für die geringe soziale Mobilität in Deutschland ist die fehlende #Chancengleichheit im Bildungssystem: 74 % der Akademikerkinder gehen zur Uni, nur 21 % der Nicht-Akademikerkinder. Image
Hier die Grafik: es dauert im Schnitt 6 Generationen in Deutschland für ein Kind aus einer einkommensarmen Familie um ein mittleres Einkommen zu erzielen. In vielen vergleichbaren Ländern sind es 2 oder 3 Generationen.
#Chancengleichheit Image
Read 8 tweets
27 Sep 20
Wie der Fall #SpringerDöpfner zeigt, so ist das Thema der Besteuerung von Erbschaften/Schenkungen hoch emotional und in Deutschland auch wirtschaftlich häufig schlecht geregelt.
@janboehm @FabioDeMasi @SBachTax

Deshalb hier eine Reihe von Fakten um die Debatte zu versachlichen:
Es wird in der Debatte häufig ein falscher Widerspruch zwischen Substanzbesteuerung von Unternehmen und fairer und wirtschaftlich sinnvoller Besteuerung von Schenkungen und Erbschaften aufgebaut — es gibt sehr wohl Lösungen beide in Einklang zu bringen - siehe zB @StiftungVE.
Vorsicht: bei #SpringerDöpfner geht es nicht primär um die Übertragung von Vermögen an Familienangehörige (nicht selten minderjährige Kinder), sondern um die Zukunftssicherung des Unternehmen. Dies ist auch im Interesse der Gesellschaft und der vielen Springer Beschäftigten.
Read 15 tweets
25 Sep 20
Dies ist eine wichtige Debatte, die @AnkeHassel @CKemfert ua hier anstoßen über Diskriminierung und Netzwerke im Diskurs der Medien mit Wissenschaftler*innen. Das FAZ Ranking (obwohl es zahlreiche Schwächen & Verzerrungen enthält) zeigt, wo das Hauptproblem liegt:
#Gender #Medien
In den Top-100 des FAZ Ranking sind 15 Frauen und 85 Männer.
Es setzt sich aus vier Komponenten zusammen: klassische Medien, soziale Medien, Politikberatung, Wissenschaft.
Nicht nur beim Punktdurchschnitt bei den klass. Medien schneiden Ökonominnen schlechter ab, sondern vor allem wenn man den Median und die männlichen Nachbarn im Ranking nimmt (was sinnvoll ist, weil es die Verzerrung durch Ausreißer eliminiert):
Read 11 tweets
16 Sep 20
Die Wiedervereinigung hat nicht nur den Osten, sondern auch den Westen verändert. Häufig hat nicht nur der Osten sich dem Westen angepasst, sondern auch der Westen hat Vieles vom Osten lernen können.

Unsere große Analyse zu 30 Jahre Wiedervereinigung:

diw.de/de/diw_01.c.79…
Unser neuer DIW Wochenbericht zu 30 Jahre Wiedervereinigung — mit Beiträgen von D. Barth, J. Jessen, K. Spieß, K. Wrohlich, S. Schmitz, @FelixWeinhardt , H. Buslei, @diw_jgeyer, P. Haan, Laura Buchinger, Theresa Entringer, Simon Kühne, Stefan Liebig.

diw.de/de/diw_01.c.79…
Bei der Gleichstellung hat der Westen vom Osten profitiert. Das dominante Familienmodell im Westen hat sich von einem „Ein-Ernährer-Modell“ zu einem „Zwei-Ernährer-Modell“ gewandelt, obwohl viele Frauen noch immer in Teilzeit arbeiten.

#30Jahre1 Image
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