Irgendwie hätte ich wirklich Lust, mal eine vernünftige Diskussion über "Identitätspolitik" zu führen. Aber das ist natürlich unmöglich.
Warum nicht? Weil die öffentliche Debatte zum Thema völlig überhitzt ist und die verschiedenen Seiten nicht einmal in derselben Realität leben. Zudem ist so viel Bereitschaft zur böswilligen Interpretation im Raum, dass man kaum diskutieren kann.
Ich merke das auch an mir selbst.
Wenn mal wieder jemand über Probleme der Identitätspolitik schimpft, ist mein Impuls direkt, die Fehler des Schimpf-Statements zu suchen (die findet man immer), und es polemisch wegzuhauen. Das ist dann meistens auch irgendwie richtig, führt aber nicht weiter.
Absurd dran für mich: Ich kam zu diesen Themen als Kritiker dieser Formen von Politik. Dann habe in der Auseinandersetzung viel von ihnen gelernt und gemerkt, dass Teile meiner Kritik auf Missverständnissen beruhen. Viele Kritikpunkte treffen m.E. aber auch heute noch.
Es gibt in den entsprechenden Theorien und Praktiken viel Reduktionismus, viel Abschottung gegen offenen Diskurs und viele Immunisierungsmechanismen gegen Kritik. Das nervt. Es gibt aber auch viele valide Punkte.
Ich wäre gerne Teil einer Auseinandersetzung, in der das diskutiert wird -- freilich in dem Wissen, dass man sich am Ende eh nicht wirklich einigt, aber doch voneinander lernt.

Aber wenn über alldem so ein alarmistischer öffentlicher Diskurs liegt, sehe ich dafür keinen Raum.
Wenn jeden Tag in einer großen Zeitung ein Artikel erscheint, dass Identitätspolitik eine unmittelbare Gefahr für Freiheit und Demokratie sei, ist mein Impuls immer, das abzuwehren, weil es so einfach nicht stimmt und dabei alle validen Punkte ignoriert werden.
Weil ich keine Lust auf das Gebashe habe, verteidige ich dann recht undifferenziert Dinge, die ich selbst ungefähr zu einem Drittel falsch finde. Und damit betreibe ich am Ende doch selbst wieder Gebashe, auf das ich ja keine Lust habe.
Ich glaube ja wirklich nicht, dass ein Wolfgang Thierse da irgendwas böse meint oder ein ignoranter Fiesling ist. Das müsste man doch irgendwie besser ausgetragen bekommen.
Ich bin mir aber nicht so sicher in welchem Raum. Muss das dann irgendwie nichtöffentlich stattfinden? Und was bringt es dann überhaupt? Und wer sollte da überhaupt über was diskutieren?
Schwierig dabei auch:

Man müsste getrennt voneinander und doch verbunden einerseits diskutieren, welche Art von Politik wünschenswert wäre und welche nicht, andererseits, welche Art von Politik wirklich stattfindet und welche nicht. In welcher Reihenfolge?
Man muss sich wohl nicht darüber streiten, ob es gut wäre, wenn Kant aus den Unibibliotheken verbannt würde (vermutlich 99,9% Einigkeit dagegen), aber anscheinend muss man sich in einigen Kontexten darüber streiten, ob das das in Wirklichkeit nicht passiert.
Aber dann gibt es ja auch wirklich ernsthafte normative Konflikte darum, was wünschenswer wäre.

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4 Mar
Eine der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaftskommunikation scheint mir gerade darin zu bestehen, Menschen nachvollziehbar zu machen, dass wir uns nicht in irgendeiner Stagnationsphase befinden, sondern mitten im exponentiellen/beschleunigten Wachstum einer B117-Pandemie. 1/
Die Impfquoten sind bei weitem nicht so hoch, dass sie das auf absehbare Zeit bremsen könnten (im besten Falle vermindern sie die Sterberate unter den vulnerabelsten Gruppen etwas). 2/
Wenn Leute das verstehen und meinen, man müsste aus gesellschaftlichen Gründen dennoch öffnen (in der Hoffnung, dass Schnelltests oder göttliche Interventionen das aufhalten oder weil sie lieber einen neuen Lockdown nach Ostern wollen als eine Fortsetzung des jetzigen), bitte. 3/
Read 7 tweets
2 Feb
Jetzt im Open Access verfügbar und hier als Thread zusammengefasst: Mein (Meta-)Beitrag zur Debatte um #Mbembe, #BDS, #Israel, #Palästina, #Nahostkonflikt, #Postkolonialismus, #Antisemitismus, #Rassismus, #Kritik und #Streitkultur.

budrich-journals.de/index.php/peri…
Vorweg: Jaja, ich habe mal versprochen, nichts zur Mbembe-Debatte zu schreiben und werde hiermit wortbrüchig. Zugleich löse ich mit dem Text aber auch ein Versprechen ein und liefere endlich den dritten Teil meines alten Textes über Antisemitismuskritik und Rassismuskritik ab.
Außerdem ist der Text so meta, dass er kaum als Äußerung zu Mbembe zählt: Ich nutze den Fall als Anlass, um allgemein zu diskutieren, warum Antisemitismuskritik und Rassismuskritik so oft in Konflikt geraten und warum das gerade beim Thema Israel passiert.
Read 31 tweets
7 Jun 20
Ich habe jetzt schon mehrfach gelesen, man werde die Effekte der gestrigen Demos in zwei Wochen an den Infektionszahlen ablesen können. Das kann schon passieren, ist aber (meiner wie immer laienhaften Einschätzung nach) nicht sehr wahrscheinlich.

1/
Überschlagen wir mal ganz großzügig für Berlin. Dort gibt es offiziell knapp über 300 aktive Fälle. Nehmen wir mal an, es sind in Wirklichkeit etwa acht Mal so viele, also 2500. Das ist dann auf die Berliner Bevölkerung gerechnet eine von 1.500 Personen.

2/
Gehen wir auch davon aus, dass das alles grob gleich verteilt ist (oder sich die Ungleichheiten rausmitteln), dann wären auf dem Alexanderplatz vielleicht zehn infizierte Personen gewesen.

3/
Read 10 tweets
29 Apr 20
Bevor ich im Spätsommer 2018 in Tübingen angefangen habe, kannte ich Boris Palmer nur von seinen bundesweiten Skandalen. Entsprechend dachte ich, er sei erstens in hohem Maße narzisstisch, zweitens für einen Grünen ziemlich rassistisch und drittens ein wenig verrückt.

Thread
Das halte ich auch nach anderthalb Jahren etwas eingehenderer Beschäftigung mit seinem Wirken für eine passende erste Annhäherung. Aber mittlerweile würde ich zwischen „narzisstisch“ und „rassistisch“ noch die folgenden drei Punkte einordnen:

2/
a) Palmer ist eine dieser stets unangenehmen Personen, die sich als „Verantwortungsethiker“ in einem Meer von „Gesinnungsethikern“ verstehen – was für ein Unheil Weber mit dieser haltlosen Unterscheidung angerichtet hat!

3/
Read 7 tweets
18 Apr 20
Macht Sinn. Genau wie:

Ich habe kein Karies. Das zeigt, dass ich mit der jahrelangen Zähneputzerei auf die Panik-Propaganda der Zahnputzindustrie hereingefallen bin.

1/
Köln wurde seit Jahren bei keinem Rheinhochwasser mehr überschwemmt. Das zeigt, dass die ganzen Hochwasserschutzmaßnahmen teurer Unsinn sind. Davon hätte man dem DLRG hunderte Rettungsboote kaufen können.

2/
Nachdem ich bei meinem Fahrradunfall neulich auf den Helm gefallen bin, hatte ich gar keinen Schädelbasisbruch. Das zeigt, dass ich den unbequemen Helm ganz umsonst getragen habe.

3/
Read 8 tweets
15 Apr 20
Thread.

Eigentlich wollte ich diese Woche einen Test schreiben:
„Das Schlimmste, was ‚der Wirtschaft‘™ passieren kann, ist eine schnelle Lockerung der Maßnahmen."

Aber nun wurde ähnliches schon aus berufenerem Munde geäußert, daher hier nur einige Punkte in Kurzform.
1. Es stimmt: Wer denkt, es stünde aktuell einfach „die Rettung von Menschenleben“ gegen „wirtschaftliche Interessen“, macht es sich viel zu leicht. Nicht nur eine unkontrollierte Pandemie, auch eine ausgedehnte Rezession oder Depresssion würde sehr viele Menschenleben fordern.
2. Diejenigen, die Punkt 1 betonen, machen es sich meistens viel zu leicht. Die Vorstellung, dass die Wirtschaft eines Landes auch nur halbwegs normal operiert, während in den Krankenhäusern Zustände wie zuletzt in Norditalien, Ostfrankreich oder New York herrschen, ist absurd.
Read 15 tweets

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