Noch eine Nachbetrachtung zur Berichterstattung Autofirmen vs. Aktivist:innen bei der #IAA21:

Der Text hier ist ein gutes Beispiel für unterschiedliche gängige, aber nicht ganz so offensichtliche Probleme in der Klimaberichterstattung.

zeit.de/wirtschaft/202…
1. zeigt der Beitrag, warum die Vorstellung von Neutralität o. Objektivität auch in berichtenden Formaten oft problematisch ist.

Der Text beschreibt:

- erst die Neuerungen auf der IAA
- dann kurz die Kritik der Aktivist:innen
- & lässt dann die Hersteller:innen drauf reagieren.
Journalistisch ist das sauber, sogar fair & gute Praxis, Protagonist:innen die Möglichkeit zu geben, auf Kritik einzugehen.

Nur gibt das den Autohersteller:innen hier automatisch sehr viel mehr Gewicht im Beitrag. (Selbst wenn am Ende noch auf weitere Proteste verwiesen wird.) Screenshot aus Zeit-Online-Text: Verständnis für den Prote
Um sich gegen den Gesamteindruck zu verwehren, die Kritik der Aktivist:innen sei überzogen, bräuchten Leser:innen einiges an Vorwissen.

Der Autor verhält sich nach gängigen journalistischen Standards dennoch (vermeintlich) neutral, weil er beide Seiten zu Wort kommen lässt.
2. sieht man hier eine Form von False Balance, die wir uns nur selten bewusst machen:

Selbst wenn man den geringeren Sprechanteil & die strategisch schlechtere Positionierung im Text als 50:50 betrachtet, wäre das eine falsche Ausgewogenheit.
Denn der Autor stellt sich vermeintlich neutral zwischen beide Seiten & tut damit so, als könne man nicht bewerten, welche Seite in welchem Punkt recht hat.

So mögen sich die Produkte der Autohersteller:innen extrem schnell entwickeln & verbessern.
Dennoch gibt es offensichtliche Widersprüche, die man als Journalist expliziter einordnen sollte:

Selbst wenn es E-Kleinwagen ab 2025 in Serie für 20.000 Euro gibt – wie passt das mit den Klimazielen zusammen, dass ab sofort jedes Jahr massiv Emissionen eingespart werden müssen?
Wie leistet der Verkehrssektor – dessen Emissionen bei PKW nur um 5 Prozent gesunken sind & aufgrund der Zunahme an Verkehr insgesamt sogar steigen – dann 2021, 22, 23, 24 seinen angemessenen Anteil?
umweltbundesamt.de/daten/verkehr/…
Ist es angesichts der benötigten Ressourcen & Energie überhaupt möglich, dass jeder Haushalt seinen Verbrenner durch einen Elektrowagen ersetzt & dann ist alles prima & "das Klima" gerettet?
(Vielleicht haben einige Firmen das sogar mitgedacht & stellen deswegen Fahrräder vor? Oder ist das reines Greenwashing? Kann ich persönlich nicht beurteilen, würde mich ernsthaft interessieren, wie ernst das Motto #IAAMobility2021 zu nehmen ist.)
Und ist angesichts der Antworten auf diese Fragen die Forderung nach autofreien Innenstädten vielleicht doch gar nicht überzogen, unsachlich & unfair gegenüber den Autohersteller:innen, sondern: logisch & wissenschaftlich begründbar?
Beharrende Kräfte & kleine Verbesserungen 1:1 (oder sogar 3:1) gegen echten strukturellen Wandel zu halten, wie auch die Wissenschaft ihn fordert, ist daher nicht neutral.

Er normalisiert & bevorteilt den Status Quo & verfestigt ihn damit. Und das seit Jahrzehnten.
All das ist 3. gar nicht so einfach zu erkennen, da der Beitrag ja grundsätzlich anerkennt, dass Veränderung nötig ist.

Auf den ersten Blick wirkt er daher unproblematisch & geht in der Redaktion wohl als gegenüber beiden Seiten kritischer Text zur Verkehrswende durch.
Ps.: Auch das Zitat von BMW-Chef Zipse, die Kanzlerin sei eine kritische Partnerin gewesen & habe die Industrie vorangebracht, hätte man mit ein paar Sätzen einordnen können. Oder besser: müssen.

Dinge einfach "neutral" widerzugeben, ist: nicht neutral. sueddeutsche.de/wirtschaft/mer…
(Ein paar sehr gute, einordnende Texte zur #IAA21 habe ich übrigens bei der @SZ gelesen.)

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More from @SaraSchurmann

14 Sep
Ich schiebe es seit 16 Tagen vor mir her, was zum @hungerstreik21 zu schreiben.

16 Tage, in denen junge Protestierende nichts gegessen haben, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir mitten im #ClimateEmergency stecken & bisher niemand ansatzweise angemessen darauf reagiert.
Einerseits weil ich ihre Interpretation des geleakten IPCC-Berichts nicht teile, dass nur 3 Jahre bleiben, um 2 Grad einzuhalten.

Andererseits weil ich nicht weiß, für wie strategisch klug ich ihre Forderung halte.

Eigentlich aber wegen etwas ganz anderem.
Ich hatte überlegt, sie zu besuchen. Aber ehrlich gesagt bin ich zu feige.

Es bricht mir das Herz, zu sehen, dass junge Menschen so verzweifelt sind, dass sie ihre Gesundheit heute gefährden, um der Chance auf eine halbwegs sichere Zukunft vielleicht doch noch näherzukommen.
Read 12 tweets
14 Sep
"Hoffen Sie auch, noch bis zum Jahr 2040, 2050 oder länger zu leben?

Dann sollten Sie sich vor der anstehenden Bundestagswahl sehr sorgfältig informieren & überlegen, mit welcher Wahlentscheidung Sie am wahrscheinlichsten dann noch ein sicheres Leben in Frieden genießen können."
"Was wir lange vorhergesagt haben, hat sich bewahrheitet. Ohne sofortige Maßnahmen wird es immer schlimmer werden, wir werden immer öfter völlig neue Extreme erleben. Auch hier bei uns. Auch in der Lebenszeit der heute 60- & 70-jährigen. Es trifft nicht nur die junge Generation."
"Wir verursachen selbst das Problem & können etwas dagegen tun. Um die Erwärmung bei 1,5 Grad anzuhalten, müssen wir laut IPCC weltweit bis 2030 die Emissionen halbieren. Wir haben also nur noch diese Legislaturperiode Zeit für den Aufbruch zu einer wirksamen Klimapolitik."
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29 Aug
Beim #Triell haben wir das gleiche Problem gesehen, wie im gesamten Wahlkampf vorher & einem Großteil der Berichterstattung dazu:

Wir reden nicht über das Gleiche, wenn wir über die #Klimakrise sprechen.
Deswegen fragen die Moderator:innen nicht, warum keine Partei einen Plan fürs 1,5-Grad-Limit hat.

Deswegen wundert sich niemand, welche Zukunft Scholz herbeifantasiert, in der junge Menschen den Luxus haben, sich um ihre Rente in 50 Jahren Sorgen zu machen.
Deswegen ist ernsthaft die Rede von "Verzichtsideologie".

Deswegen fragt niemand, wie man innerhalb von 7 Jahren CO2-Restbudget völlig neue Lösungen erfinden (Innovation!!) UND global implementieren will.
Read 9 tweets
29 Aug
Schön, dass @zeitonline einen Vergleich der Wahlprogramme der Parteien zur Klimapolitik anbietet.

Schade, dass es dabei nicht viel mehr macht, als sie einmal laut vorzulesen. #btw2021 #klimawahl

zeit.de/politik/deutsc…
So als wäre es unmöglich, zu beurteilen, welche Vorschläge Substanz haben und welche nicht.

Wenn man sich diese Beurteilung persönlich nicht zutrauen sollte, könnte man das einfach mal recherchieren.

Und dann findet man z.B. das:
Read 18 tweets
28 Aug
Ich halte es für nötig, dass sich deutsche Redaktionen Leitlinien für ihre Klimaberichterstattung geben.

Wenn @phoenix_de Guidelines hätte wie die @BBC, hätte es Fritz Vahrenholt wohl nicht in die Phoenix Runde mit @Luisamneubauer, @beyond_ideology & Sven Plöger geschafft:
Um die Position von Vahrenholt einschätzen zu können, reichen 3 Minuten Google-Recherche. Unter den ersten Treffern findet sich das:
de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Vah…
Read 7 tweets
27 Aug
Noch mal ein ausführlicherer und differenzierterer (und daher auch seeeeehr langer) Thread:

Die #Klimakrise ist eine unvorstellbare gesellschaftliche Kommunikationskrise. Daran beteiligt sind vor allem Politik, Wissenschaft und Medien. Und Lobbykräfte.

„Mitschuld“ war meinerseits eine zu starke Formulierung und nicht angemessen angesichts dessen, dass Wissenschaftler:innen natürlich vor allem aufklären & Fakten bereitstellen. Und das seit Jahrzehnten.

Besser wäre gewesen: „tragen (unbewusst & ungewollt) mit dazu bei“.
Wissenschaftskommunikation wird seit Jahren reflektiert & verbessert (spreche ich oben auch an). Es gibt da viel Großartiges & viele öffentlich weniger bekannte Wissenschaftler:innen, die sich gesellschaftlich engagieren und Probleme & Lösungen sehr klar artikulieren.
Read 27 tweets

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