Heute möchte ich euch einen wissenschaftlichen Review vorstellen, der sich mit der Frage beschäftigt, welche #Covid_19 #Massnahmen evidenzbasiert und strategisch empfehlenswert sind.

Ein Thread mit persönlicher Kommentierung ⬇️

bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.11…
👉 Vorbemerkung: Diese Frage ist auch aus wissenschaftlicher Sicht hochpolitisch, denn auch WissenschaftlerInnen weltweit haben unterschiedliche Sichtweisen auf Pandemiepolitik und auch, wenn das hier gerne anders geframt wird: jenseits der Extreme, wie zB. komplette Leugnung
(die ich aus “Wissenschaft” ausklammern würde, denn bloß weil jemand als Arzt oder Wissenschaftler tätig war oder ist, hält dies natürlich nicht davon ab, einen evidenzbasierten Weg zu verlassen), gibt es sehr viele Graustufen, die in einem zunehmenden Pool an Wissen mehr oder
weniger solide Begründungen finden können.

Wissenschaftliche Meinungsbildung ist zudem iterativ, das heißt, eine Auffassung kann für eine gewisse Zeit vertreten und durch zusätzliche Fakten verworfen werden, ohne dass dies ein Grund für Kritik oder ein Makel ist.
Genauso kann man auf einer gemeinsamen Datengrundlage zB. durch unterschiedliche Gewichtung von Information zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Insofern ist die, hier schon häufig gelesene Auffassung, es gäbe keine wissenschaftliche Meinung, sondern nur Fakten, eigentlich so
nicht korrekt, denn aus Daten (die auch falsch oder ungenau sein können), entstehen Datensätze und der Prozess, aus diesen Schlussfolgerungen oder Fakten abzuleiten ist kein Weg, der nur auf eine Art erfolgen kann und immer ausschließlich zu einem einzigen konsensualen Ergebnis
führt. Viele durchaus widersprüchliche Sachverhalte lassen sich mit Daten begründen und können durchaus zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen führen. In einem Zustand mit wenig Daten zB. zu behaupten, dass man Fakten präsentiere, wird leider auch bei inflationärem
Einsatz oder unter Argumentation ex auctoritate nicht richtiger. Ein Verweis auf bestehende Unsicherheiten ist daher ebenfalls völlig normal und in vielen Fällen völlig angemessen.

👉 Der vorliegende Review beschäftigt sich nun damit, im Kontext der Existenz von Impfungen,
nicht pharmazeutische Interventionen (NPIs) neu zu bewerten. Angesichts der Tatsache, dass Impfungen ein hohes Schutzlevel gegen schwere Verläufe bieten und sich dies auch für die Booster bei Omicron abzeichnet (aber es noch zu früh ist für sichere Aussagen), rückt die Frage der
Nebenwirkungen von Covid-Maßnahmen in den Vordergrund und wird bei der Bewertung dieser in diesem Review jenseits reiner epidemiologischer Fragestellungen mit einbezogen.

👉 Limitationen: Da kontrollierte und randomisierte Versuche zur Überprüfung der tatsächlichen Wirksamkeit
von NPIs spärlich sind (keine Ethikkommission wird in einer Pandemie zulassen, dass ein Population weniger Schutzmaßnahmen hat, als eine andere vergleichbare) werden bei der Bewertung der Wirksamkeit andere Parameter zum Vergleich heran gezogen, zB. regionale Zeitverzögerungen
oder internationale Betrachtungen.
Ausnahmen gibt es hier bei Masken, zwei kontrollierte Studien an OP Masken, liefern hier zB. unterschiedliche Ergebnisse.

Nun zu den Hauptpunkten

1️⃣ Schneller Impfen:
Hier wird die Priorisierung von Risikogruppen und medizinisch-pflegerischem
Personal hervorgehoben. Eine Vergrößerung des Impfintervalls, um zunächst alle relevanten Gruppen zu impfen, könne sogar den Effekt der 2. Impfung erhöhen. Hier weisen die Autoren darauf hin, dass es international relevant ist, in ärmeren Ländern zunächst die Grundimmunisierung
vorzunehmen, bevor die Booster in den reichen Staaten priorisiert werden. Dies sei wissenschaftlich & ethisch geboten. Nun kann dieser Fakt aufgrund neuer Daten zu Omicron bereits überholt sein, Booster werden für alle Altersgruppen empfohlen. Angesichts von Impfquoten weit unter
30% in einigen Regionen der Erde, kann man das mE. Dennoch weiterhin als ethisch fragwürdig erachten. Angesichts der Tatsache, dass diese Regionen dann im Zweifel Geburtsstätten neuer Varianten sind, sollte es auch wissenschaftlich hinterfragt werden.

2️⃣ Im 2. Abschnitt haben
sich ebenfalls bereits einige Punkte überholt (Paper wurde im Juni das 1. Mal eingereicht). Es wird argumentiert, dass Maßnahmen aufgrund ihrer soziologischen, psychologischen & körperlichen Folgen zurück gefahren werden müssen, je mehr Menschen durch Impfung geschützt sind. Nun
hat sich der Verweis auf einen anhaltenden Impfschutz mittlerweile nicht als haltbares Argument erwiesen, was Reinfektionen betrifft und wird bei Omicronv vermutlich nochmals deutlich korrigiert werden müssen. Es ist jedoch dennoch so, dass der Anteil an schweren Verläufen
trotz hoher Zahlen vor allem in Ländern mit hoher Impfquote, zB. Portugal weiterhin (relativ) deutlich niedriger ist als vor der Verfügbarbeit der Impfstoffe. Unter Anwendung harter Maßnahmen eine Niedriginzidenzstrategie zu verfolgen ist daher aus meiner Sicht nicht mehr
zielführend, weshalb statt flächendeckender Pauschalmassnahmen lokale und zeitlich pointierte Eingriffe zu bevorzugen sind.

3️⃣ Ist aus meiner Sicht besonders interessant, weil es nochmal hervor hebt, was in D in den letzten Monaten so an Karren in den Dreck gefahren wurden:
hier betonen die Autoren nämlich, dass Information und Transprenz harten, sanktionierten Maßnahmen vorzuziehen sind. „Harm reduction involves informing people how to assess and mitigate risk, while acknowledging the real-world conditions that may lead some persons to take
calculated risks.“ ist meines Erachtens ein zentraler Punkt. Selbst die wirksamste Maßnahme mit den härtesten Sanktionen wird keinen Effekt haben, wenn zu viele Menschen sie (aus diversen Gründen) nicht annehmen, und führt schlimmstenfalls zu gegenteiligen Effekten. So sollten zB
Impfnachweise auf Hochrisikosituationen begrenzt werden. Vor allem sollten Maßnahmen auf aktueller Datengrundlage transparent kommuniziert werden. Ein Imperativ, den wir in D in den letzten 6 Monaten völlig missachtet haben.

4️⃣ Ebenso wie die Empfehlung, Aktivitäten möglichst
nach außen zu verlagern. Solange absurde Regelungen, die alle wissenschaftlichen Empfehlungen der Aerosolforscher widersprechen, weiterhin aus politischen Gründen angeordnet werden, werden Kontakte in Innenräumen schon allein aufgrund des Wetters attraktiver sein. Gerade
in der Vorweihnachtszeit sind Weihnachtsmärkte und ähnliche Veranstaltungen eine Risikostreuung Alternative zu Indoorveranstaltungen und können mit Beschränkung der Teilnehmerzahl gut kontrolliert werden. 2G ist hier mE ein absurder Auswuchs deutscher Regelungswut.
5️⃣ Schulschliessungen mögen zu Zeiten eingeschränkter Daten und ohne Impfstoffe eine einfache Lösung gewesen sein. Ich habe selbst keine Studie gelesen, die den Effekt von Schulschliessungen vom Effekt der Einschränkung der Mobilität der Eltern hat trennen können. Dies kann
auch durch andere Maßnahmen erreicht werden und da ist eine ganze Reihe an Alternativen möglich. Bleibt auf einen Abschnitt im Paper zu verweisen, der (obwohl er zum Zeitpunkt der Submission noch auf Daten der Alpha-Variante basierte, die auch als besonders transmissible bei
Kindern eingestuft wurde) so mittlerweile auf allen wissenschaftlichen Stellungnahmen zu diesem Thema zu finden ist und mE. als wissenschaftlicher Konsens angesehen werden kann: ⬇️
Mit der Option, Schulmitarbeitende und zunehmend auch vulnerable Kinder zu impfen sowie Kinder mit erhöhtem Wunsch, kann, auch mit Auftreten neuer Varianten, der Ruf nach Schul-(Teil-)Schließungen nur abgelehnt werden, solange nicht nachgewiesen ist, dass für die Kinder
tatsächlich ein massiv höheres Erkrankungsrisiko trotz Impfung besteht. Vorsichtige erste Daten zu Omicron deuten darauf nicht hin, aber bis zum Ende der Weihnachtsferien wird man hoffentlich ausreichende Daten aus betroffenerem Regionen ausgewertet haben.
6️⃣ Lockdowns haben massive Nebenwirkungen auf medizinischer, psychischer, soziologischer und ökonomischer Ebene. Gerade aufgrund sozioökonomischer Ungleichheiten auch bei der Verbreitung von Sars-Cov2 können solche Effekte sogar ohne offiziellen Lockdown auftreten.
Daher müssen weniger invasive Maßnahmen vorgezogen und gezielt eingesetzt werden.
Sollten Lockdown, Isolation und Quarantänemassnahmen notwendig sein, müssen diese ökonomisch abgepuffert werden.
7️⃣ Maßnahmen, die nach aktueller Datenlage keine relevante Evidenz aufweisen sollten nicht weiter verfolgt werden (zB. Oberflächendesinfektion, Temperaturmessungen, Reisebeschränkungen).
Diese können schlimmstenfalls (bei falscher Anwendung) sogar zu Schäden führen.
8️⃣ Teststrategien sind an Fragestellungen anzupassen. Den Punkt haben wir bei @RapidtestsDE in der Vergangenheit des häufigeren adressiert: für Diagnostik ist PCR der Goldstandard, es ist aber weiterhin fraglich, wie gut PCR tatsächliche Ansteckungsgefahr abbilden kann.
Schnelltests hingegen können können hoch ansteckende Personen sehr gut erkennen und sollten daher für regelmäßigste Screenings, um Infektionsketten zu brechen, genutzt werden.

Zudem wird der Punkt aufgeworfen, dass nicht jede Infektion geimpfter Personen verhindert werden muss,
da der Schutz vor schweren Verläufen im Vordergrund steht. Wie gut das im Kontext Omega zu halten ist, werden wir noch prüfen müssen.

9️⃣ Wir brauchen mehr Forschung für Sars-CoV-2 Therapeutika. —> 👍
🔟 Wir müssen uns besser auf kommende Epidemien vorbereiten. Kein Blindflug mehr in Zukunft! —> 👍

👉 Fazit: durch die Impfungen hat sich die Notwendigkeit massiver Maßnahmen relevant reduziert. Die Kommunikation eines dauerhaften Alarmzustandes richtet Schaden an und kann
nicht über Monate oder Jahre hinweg aufrecht erhalten bleiben.

Eine transparente Kommunikation und regelmäßige Überprüfung von Maßnahmen ist notwendig, um Schäden zu vermeiden.
Nachtrag: oben bitte Datensatz durch Information ersetzen.
Das Wort Datensatz ist im Bereich Informatik schon genau definiert und passt daher nicht als Umschreibung für das was ich ausdrücken wollte.

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6 Dec
Lieber @Tagesspiegel, Ich möchte die Kontra-Position zu eurem Kommentar von @skarbonat einnehmen, welcher zeigt, dass nicht die #Stiko, sondern die Zivilgesellschaft die Wichtigkeit von präzise auf Evidenz basierenden Entscheidungen falsch einschätzt.
Ich teile die Einschätzung, dass das Vorgreifen von Stiko Chef Mertens sehr unglücklich war.

Dennoch: gerade angesichts auf allen Eben beschleunigter Zulassungsprozesse muss Evidenz nicht Eminenz-basierten Entscheidungen übergeordnet werden.
Dabei ist es nichts als ein falscher Kontext, hier ausgerechnet den WHO Direktor Michael Ryan zu zitieren, der Schnelligkeit im Kampf gegen Epidemien einfordert, denn, wenn man es an dieser Stelle einsetzt, widerspricht es Grundsätzen ärztlichem Handelns: Im Gegensatz zu nicht
Read 12 tweets
4 Dec
Mit Verlaub, Herr Lauterbach, dieser Vergleich hinkt auf einigen Ebenen. Auch wenn ich die Covid-Impfung unbedingt befürworte, mit unpassenden Vergleichen überzeugen Sie niemanden.
Die derzeit in der Entwicklung befindliche mRNA-basierte Immuntherapie gegen Krebs ist nicht ohne
weiteres mit Immunisierung gegen eine viralen Infektion vergleichbar.

Warum nicht?

Es gibt unterschiedliche Ansätze, welche Eiweiße durch den Impfstoff gebildet werden
sollen. Diese reichen von recht spezifischen Tumorantigenen beim Melanom (BNT111, Phase 2 läuft derzeit) in Kombination mit Immuncheckpointinhibition, die T Zellen von einer „Inaktivierung“ durch die Krebszellen abhalten und auf bestimmte Oberflächenproteine des Tumors
Read 10 tweets
3 Dec
Die Art und Weise, wie die Pandemie derzeit Massnahmen-technisch gemicromanaged wird anstatt große Hebel zu benutzen, öffnet mir die Augen, warum wir Gesetze zu Krankenhausfinanzierung, Bafög, Steuer & Co. haben, die nach 5000 Überarbeitungen niemand mehr durchblickt.
Ich denke,
es ist an der Zeit den ganzen Quatsch bezüglich „Weihnachtsmärkte innen, außen, Buden vor Weihnachtsmärkten, vor oder nach 2 Uhr nachmittags“ sein zu lassen und
1️⃣ die Ziele zu definieren,
2️⃣ den Werkzeugkasten zu reviewen und
3️⃣ sinnvolle evidenzbasierten Maßnahmen zu
definieren.

Diese Kleinscheisserei bei den Maßnahmen, die Ausnahmen für jeden Impfstatus, Familienstand und jede Branche definiert, ist völlig absurd und sorgt dafür, dass auch die letzte Person compliancetechnisch aussteigt.

Die einen werden sich zuhause einigeln,
Read 6 tweets
30 Nov
Heute hat das #Bundesverfassungsgericht eine #Verfassungsbeschwerde bezüglich der in der #Bundesnotbremse verankerten #Schulschliessungen und #Wechselunterrichtsregelungen abgelehnt.

Die Begründung des Urteils ist meines Erachtens sehr interessant, vor allem wenn man sie in
den Kontext der berücksichtigten fachlichen Stellungnahmen bringt.

Diejenigen, die ich wissenschaftlich überblicken kann (ich kann dies nicht für juristische Fragestellungen), habe ich mir mal genauer angeschaut und gegen die resultierende Begründung der Rechtsauffassung
des Gerichtes gelegt.

Ein Thread zu (aus meiner Sicht) nicht vollständig nachvollziehbaren Auslegungen, Gewichtungen und dem Verdacht auf wissenschaftliches Cherrypicking. ⬇️

👉 Ich kann hier nicht die ganze Argumentation erläutern, aber jeder kann sich die Begründung in Gänze
Read 40 tweets
29 Nov
Wenn ich mir diese 3 Grafiken aus dem aktuellen Wochenbericht des RKI so anschaue, sieht man, wie gut (!) die Impfungen auch in den vulnerablen Altersgruppen schützen. Trotz hoher Inzidenzen liegen die ITS Fälle immer noch unter den Zahlen der 2. und 3. Welle und auch die
Sterbezahlen sind im Verhältnis zu voran gegangenen Wellen sehr viel niedriger und weiterhin sehr stark von alten und sehr alten Personen dominiert, also aus meiner Sicht keine nennenswerte Verschiebung hin zu ungeimpften jungen Personen, was sich ja mit den Risikoprofilen deckt.
Aus meiner Sicht ergibt sich diesbezüglich keine Notwendigkeit für Schuldzuweisungen an ungeimpfte junge Personen, sondern drängt sich geradezu die Frage auf, wie es sein kann, dass seit der 2. Welle die Kapazitäten in den Krankenhäusern immer weiter abbauen. Ein zentraler Punkt
Read 8 tweets
29 Nov
Gibt es #LongCovid bei #Kindern und #Jugendlichen und wenn ja, wie häufig tritt es auf?

Ein Thread zu einer aktuellen #Metaanalyse. ⬇️⬇️⬇️

journalofinfection.com/article/S0163-…
👉Vorbemerkung:

Es gib eine ganze Reihe von einzelnen Studien zum Thema, die allermeisten ohne Kontrollgruppe. Warum ist das wichtig? Viele Symptome können eine Reihe von Ursachen haben. Fragt man Menschen nach diesen, vor allem wenn sie wissen, dass sie gerade eine gefährliche
Infektion überstanden haben oder wenn sie krankheitsbedingt längere Zeit auf Bewegung oder Sozialkontakte verzichtet haben, dann kann kann es passieren, dass viele Symptome bestätigt werden. Kontrollgruppen sollen verhindern, dass Effekte, die in einer gesamten Bevölkerungs-
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