Heute hat das #Bundesverfassungsgericht eine #Verfassungsbeschwerde bezüglich der in der #Bundesnotbremse verankerten #Schulschliessungen und #Wechselunterrichtsregelungen abgelehnt.

Die Begründung des Urteils ist meines Erachtens sehr interessant, vor allem wenn man sie in
den Kontext der berücksichtigten fachlichen Stellungnahmen bringt.

Diejenigen, die ich wissenschaftlich überblicken kann (ich kann dies nicht für juristische Fragestellungen), habe ich mir mal genauer angeschaut und gegen die resultierende Begründung der Rechtsauffassung
des Gerichtes gelegt.

Ein Thread zu (aus meiner Sicht) nicht vollständig nachvollziehbaren Auslegungen, Gewichtungen und dem Verdacht auf wissenschaftliches Cherrypicking. ⬇️

👉 Ich kann hier nicht die ganze Argumentation erläutern, aber jeder kann sich die Begründung in Gänze
hier durchlesen:

bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Ent…

Die Schriftsätze inklusive des Fragenkatalogs und der öffentlichen Gutachten finden sich hier:

schule-bleibt-offen.de/schriftsaetze/

Eine Stellungnahme zu den Gutachten erfolgte bereits durch das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und
Gesundheitsökonomie der Charité und ist ebenfalls unter den Links zu finden:

schule-bleibt-offen.de/wp-content/upl….

Meine folgenden Gedanken sind eine politische Interpretation der Gutachten und ihrer Gewichtung vor dem Hintergrund meiner eigenen Kenntnis der Publikationslandschaft auf dem
Gebiet. Dabei geht es mir weniger um die fachliche Einschätzung von Details, als um die Frage, warum relevante Publikationen in bestimmten Gutachten nicht berücksichtigt wurden und wie es am Ende zu jener bemerkenswerten Aussage des Gerichtes kommen konnte, die ich als Mutter,
Wissenschaftlerin und politisch aktive Person erstmal sacken lassen muss:

🔥 „Bei einer lange andauernden Gefahrenlage […] muss der Gesetzgeber […] fundiertere Einschätzungen zugrunde legen […]. Allerdings dürfte der Staat große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht
deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug dazu beigetragen hat, dass freiheitsschonendere Alternativen zur Abwehr dieser Gefahren erforscht wurden.“ Vollständiger Text des Zitates: Bei einer lange andauernden
Diese Aussage ist aus meiner Sicht aus 3 Gründen sehr problematisch:
1️⃣ Dass nach knapp einem Jahr Pandemie angeblich keine validen Daten zur Wirksamkeit alternativer Maßnahmen vorlagen subsumiert nicht nur politisches und wissenschaftliches Versagen epischen Ausmaßes, da ja durchaus diverse (!) einschlägige Studien politisch
initiiert und durchgeführt wurden. Diese vom Tisch zu wischen ist auch peinlich für alle Beteiligten und zeigt, dass im Zweifel ein Grund gefunden werden kann, jede Aussage zu negierten, wenn das politisch gewollt ist. Tatsächlich betont die
Deutsche
Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie („DGPI“) in ihrer Stellungnahme auf Seite 36f, dass spätestens im Herbst 2020 ausreichend „Erkenntnisse auf nationaler und internationaler Ebene“, darüber hinaus auch zahlreiche aussagekräftige Empfehlungen wissenschaftlicher
Fachgesellschaften vorlagen, die es ermöglicht hätten, eine anderer „Weichenstellung vorzunehmen“ und „praktisch umsetzbare Maßnahmen für ein Offenhalten von
Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen und Kindergärten unter Pandemiebedingungen mit einem ausreichend hohen Maß an
Sicherheit für Kinder und Jugendliche wie auch für die
dort beschäftigten Erwachsenen“ umzusetzen.
Eine Grundlage auf der im übrigen auch viele anderen Europäischen Staaten ihren Paradigmenwechsel in Bezug auf die Schulschliessungen vorgenommen haben.
Dieses deckt sich weitestgehend mit den Einschätzungen der Mehrzahl der Gutachten, die bei der Abwägung die Schwere der Einschränkungen der Kinder betonen und die Rolle der Kinder für das Pandemiegeschehen als gering bis moderat einschätzen sowie die Risiken für Kinder und
Personal abwägen. Mir fallen hier insbesondere zwei Gutachten auf, und das deckt sich mit der Bewertung der Stellungnahmen durch Prof. Willich, die auf Seite des Schadens für die Kinder (BKJPP: Der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik, Dr. Berg) und
auf Seite der Alternativen/Rolle im Infektionsgeschehen (Institut für Virologie der Charité, Prof. Drosten) eine stärker abweichende Position einnehmen.
Letztere betont vor allem Datenmangel bei der Erhebung des Infektionsgeschehens an Schulen (und das obwohl zum Gutachten-
Zeitpunkt im August bereits über einige Monate in den Schulen getestet und somit das Dunkelfeld zumindest aufgehellt wurde. Die Wirkung der Testungen wird ebenfalls mit Verweis auf Daten aus UK angezweifelt und das obwohl die Autoren des ONS letztlich zu ganz anderen Schlüssen
Auch waren zum Zeitpunkt des Gutachtens bereits zwei Berichte der LMU München und des Frauenhofer Instituts bekannt, die deutlich die Wirksamkeit der Tests in Schulen belegten: itwm.fraunhofer.de/de/presse-publ… und covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_ber….

Ein Hinweis darauf, dass, zumindest rückblickend,
diese Daten vorliegen, wären sinnvoll gewesen angesichts der zukunftsweisenden Entscheidung des BVerfG.

Die Bewertung der Stellungnahmen kritisiert bei der Frage nach Alternativmassnahmen ein Zukurzkommen wissenschaftlicher Evidenz im Gutachten der Virologie & die nicht
vollständige „Berücksichtigung zeitlicher Zusammenhänge zwischen Maßnahmen und dem Infektionsgeschehen“ ⬇️.

Interessant ist auch der Umgang des Gutachtens mit Long Covid bei Kindern, das als Argument der Schutzwürdigkeit heran gezogen wurde.
Obwohl im Mai 3 kontrollierte
Studien dazu veröffentlich wurden, konzentriert sich das Gutachten darauf, die eine Studie mit dem größeren Bias zu kritisieren, ignoriert die beiden anderen, d. niedrige Zahlen zeigen & die in einer Metastudie als hochqualitativ eingestuft wurden (secure.jbs.elsevierhealth.com/action/getShar…; T. A4)
und benennt statt dessen Spannenobergrenzen für Prävalenz, die aus
schlechteren nicht-kontrollierten Studien stammen. (Mehr zur Metastudie: ).
Auf der anderen Seite steht ein Gutachten der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik (BKJPP), die zu interessanten Aussagen kommen (Auszug ⬇️ aus
der Bewertung durch Prof. Willich):
Das Gutachten nimmt auch Bezug auf anekdotische Berichte von „Entschleunigung“ und „Verbundenheit in den Familien“. Das als Argument für Schulschliessungen anzuführen, halte ich, gelinde gesagt, für extrem zynisch.
2️⃣ Viele Daten existieren theoretisch, sie werden nur nicht ausreichend ausgewertet und berücksichtigt. Warum zB. stützt die Stellungnahme des BVÖGD sich auf Presseberichte und lokale praktische Aspekte?
➡️ Interessant sind zudem weitere Punkte: die CODAG der LMU kritisiert generell den Mangel an verfügbaren Daten. ( ➡️ Damit wären wir wieder bei Punkt eins: wir steuern mit Maßnahmen in das 3. Jahr der Pandemie, die wir bisher nicht evaluiert haben, das ist auch eine politische
Entscheidung‼️).

Vor allem mahnen sie unklare und intransparente Beratung der Bundesregierung und den ideologischen Tonfall auch in der Wissenschaft an.
➡️ Weg von der infektiologischen Evidenz hin zu politischer Ehrlichkeit bewegt sich folgende Aussage des Helmholtz Zentrums für Infektionsforschung, das darlegt, dass Schulschliessungen in der ersten Welle auch maßgeblich über Einschränkung der Mobilität der Eltern und als Signal
der „Ernsthaftigkeit“ wirkten ⬇️

(Mir sind übrigens keine Studien aus der ersten Welle bekannt, die es geschafft haben diese Effekte kausal zu trennen.) Politisch ergibt sich für mich daraus zumindest die Frage ob ein ähnlicher Effekt nicht auch mit anderen Maßnahmen
erreicht werden kann. Nur die stellt das HZI nicht und soweit ich das überblicke auch nicht das BVerfG.

Ähnlich frustrierend liest sich für mich dazu dann ein Abschnitt ⬇️ im Gutachten von Herrn Drosten, der vermutet, dass Kinder, im Gegensatz zu anderen Ländern in D einfach
hinter Arbeitsstätten und Freizeit der Erwachsenen haben zurück stecken müssen.

➡️➡️➡️ Die Zusammenfassung aller Gutachten durch Prof. Willich lautet nun folgendermaßen:
Das BVerfG urteilt hingegen urteilt mit fehlender wissenschaftlicher Evidenz für a) die Falsifizierung des Risikos durch Kinder und b) für Alternativmassnahmen (und den möglicherweise damit einhergehenden Risiken für Leib und Leben) und folgt damit vor allem dem Gutachten der
Virologie der Charité, obwohl es maßgeblich von den anderen Stellungnahmen abweicht und relevante Studien nicht benennt. Mir erschließt sich nicht, warum.
Das BVerfG schafft es noch nicht mal, sich deutlich in die Zukunft zu positionieren:

Im Kontext von Impfungen, einem Mehr an Daten und Kinderimpfungen ist eine Formulierung wie „Mindeststandard schulischer Bildung SO WEIT WIE MÖGLICH zu wahren“ und dass „NACH MÖGLICHKEIT
Distanzunterricht stattfindet“ eine Fechheit und ein Schlag ins Gesicht aller Familien - egal ob sie gut oder schlecht mit Fernunterricht zurecht kommen und ob sie für oder gegen Schulschliessungen eintreten.
Ich finde das frustrierend.
Gutachten mit der Datenlage von 2020 lesen zu müssen, die zu einer Entscheidung des höchsten Gerichts der Bundesrepublik führen, in der es sinngemäß heißt: im Zweifel wird dem Gesundheitsschutz untergeordnet, der Staat unterstütze Familien doch und
die Länder mögen doch bitte, bitte dafür sorgen, dass (aber nur wenn es gerade passt!) auch Schadensbegrenzung betrieben wird, -
das ist ein Schlag zumindest in das Gesicht meiner Kinder, mir als berufstätigen Mutter, politische Person und Wissenschaftlerin,
die das ein oder andere Gutachten so nicht erstellt hätte.

Und es ist eine beängstigende Blaupause für die Zukunft.

Aber was weiß ich schon. 🤷‍♀️

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