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Feb 3 49 tweets 84 min read
Wie viele #Schattenfamilien leben in Deutschland?
Ein Thread. Lang.

Spätestens seit @janfleischhauer s Entschuldigungstweet an @ebonyplusirony, seinem exzellenten Artikel über die Situation der Familie von @semanthis
focus.de/politik/deutsc…

sowie dem zum Thema veranstalteten
1/
Abendspaziergang von @PSHolstein nebst After-Space von @Berater_1 kursieren aufgeregte Fragen und wilde Vermutungen, wie viele #Schattenfamilien in Deutschland leben. Ich will diese Frage hier erhellen, bin ich doch nicht ganz unbeteiligt daran, dass die Thematik langsam in
2/
die Köpfe sickert und diese Fragen nach den Zahlen überhaupt aufkommen.

Ich setze hier als #Schattenfamilien diejenigen Familien voraus, in denen mindestens ein vorerkranktes Kind lebt, also #Risikohaushalte, in denen die Kinder selbst Risikopatienten sind. Zu den
3/
Risikohaushalten gehören darüber hinaus Familien, in denen ein erwachsener Angehöriger vorerkrankt ist.

Einige Zahlen (und ihre Quellen).
1. In Deutschland leben gut 452.000 Kinder und Jugendliche von 12-17 Jahren, etwa 11% der Altersgruppe, die selbst eine covid-19-relevante
4/
Vorerkrankung nach STIKO-Klassifizierung (s.u.) aufweisen. Diese Zahlen wurden veröffentlicht, als die Impfung für die 12-17-Jährigen zugelassen und von der #STIKO zunächst nur für vorerkrankte Kinder (oder Kinder mit Risikopatienten in der Familie) empfohlen wurde – am
5/
11. Juni 2021, bspw. hier in der @tagesschau tagesschau.de/inland/gesells…. Die Quelle ist das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland @Zi_Berlin, das Herausgeber des Versorgungsatlas ist, der diese Zahlen anlassbezogen erhoben
6/
hat. zi.de/presse/pressei…

2. In Deutschland leben ca. 200.000 Kinder unter 12 Jahren, die eine entsprechende Vorerkrankung aufweisen. Diese Zahlen wurden in einem Artikel der @welt genannt: welt.de/politik/deutsc…
Diese Angaben stammen laut der Verfasserin des Artikels
7/
vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (@BVKJ).

3. In Deutschland leben etwa 5,7 Millionen vorerkrankte Menschen ü18 in Familien mit Kindern. Das ergab eine Studie des RKI @rki_de vom Februar 2021 rki.de/DE/Content/Ges…
hier in einem Artikel
8/
im @derspiegel zusammengefasst:
spiegel.de/wissenschaft/m…

Wir haben es also nach diesen Daten insgesamt mit über 6,5 Millionen Menschen zu tun, die im Kontext eines Familienlebens mit Kindern zu den schützenswerten #Risikogruppen gehören.
9/
Weitere relevante Daten:
Im Informationsdienst Wissenschaft idw-online.de/de/news762858 erschien Febr. 2021 ein Beitrag, der einen auf #KiGGS (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des @rki_de - Erhebung 2017) basierenden Anteil vorerkrankter Kinder höher beziffert.
10/
Dort werden 11% der Mädchen und 16% der Jungen als vorerkrankt im Sinne der Pandemie benannt. Bei einer Bevölkerung unter 18 J. von rund 13,75 Millionen und einem Anteil von Mädchen mit 49% und Jungen mit 51% errechnet man etwa 740.000 vorerkrankte Mädchen und über 1,1 Mill.
11/
vorerkrankte Jungen. Das wären also noch viel mehr Betroffene.
Der @BVKJ nennt ebenfalls diese höheren Zahlen für die Gesamtheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland: bvkj.de/politik-und-pr…
12/
Betroffene Kinder in D leiden laut #STIKO rki.de/DE/Content/Inf… an folgenden covid-19-relevanten Vorerkrankungen:
- Adipositas,
- angeborene oder erworbene Immundefizienz oder relevante Immunsuppression,
- angeborene zyanotische Herzfehler,
- schwere Herzinsuffizienz,
13/
- schwere pulmonale Hypertonie,
- chronische Lungenerkrankungen mit einer anhaltenden Einschränkung der Lungenfunktion,
- chronische Niereninsuffizienz,
- chronische neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen,
- maligne Tumorerkrankungen,
- Trisomie 21,
14/
- syndromale Erkrankungen mit schwerer Beeinträchtigung sowie
- Diabetes mellitus

Drei Beispiele in Zahlen:
1) In D gibt es aktuell etwa 112.000 Kinder mit relevanten Herzerkrankungen.
2) Wir sehen jährlich etwa 2000 neue Krebsdiagnosen bei Kindern. idw-online.de/de/news762858
15/
3) Etwa 32.000 Kinder unter 18 J. sind an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt. diabetesde.org/ueber_diabetes…

Persönliche Bemerkungen: Ich empfinde es als kaum erträglich, dass es 2 Jahre Pandemie (davon 1,5 Jahre OHNE Impfmöglichkeit) braucht, bis #Risikofamilien wahrgenommen
16/
werden. Weder Medien noch Politik haben dem bislang eine nennenswerte Bedeutung beigemessen. Zahlen werden kaum bis gar nicht erhoben und entsprechende Nachfragen bei relevanten Stellen (bspw. die Anfrage des @wdr im Kultusministerium NRW @BildungslandNRW) ergeben weder
17/
inhaltliche Antworten noch Aufmerksamkeitsinteresse bezüglich vorerkrankter Kinder. @janfleischhauer beschrieb im Abendspaziergang bei @PSHolstein, wie und wann er auf den Begriff #Schattenfamilien und die Thematik der Risikofamilien aufmerksam wurde. Dieser Erklärung nach
18/
kann ich sachlich verstehen, wie das lange (Ver-)Schweigen zustande kam, akzeptieren kann ich es kaum. Seit fast 2 Jahren kursiert dieser Begriff, es gibt verschiedenste #Initiativen, die sich aus Risikofamilien gegründet haben und mit ungeheurer Energie daran arbeiten,
19/
sichtbar zu werden. Diverse demokratisch gewählte Landeselternschaften, bspw. in NRW die @LEK_NRW mit ihrer Vorsitzenden Anke Staar @AStaar8 oder die @LEiS_NRW bringen das Thema in Medien und Landespolitik ein. Schon länger bestehende Vereine und Patientenorganisationen aller
20/
möglichen Erkrankungen, seriöse Ärzt:innen, Wissenschaftler:innen und Fachverbände weisen seit Beginn der Pandemie auf diese Thematik hin. Das Netz ist voll von Beiträgen – in den Äußerungen der Politiker fand das so gut wie keinen Widerhall. Die Mittel der Betroffenen sind
21/
natürlich anders gewählt als bei sorglosen aufmerksamkeitsheischenden Massenspaziergängen – das kommt qua Situation gar nicht in Frage. Aber sie sind nicht minder gut gewählt: Mahnwachen, Demonstrationen, Webinare, (Offene) Briefe, Petitionen, Presseerklärungen… nur
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wollte sie niemand wahrhaben. Zu klein, zu unspektakulär, zu brav, zu leise, zu sehr Minderheit, zu unangenehm das Thema…
Sämtliche Bundestagsabgeordneten des alten wie des neuen Bundestages, verschiedenste Landtage und ihre Abgeordneten wurden mehr als einmal schriftlich
23/
auf diese Thematik hingewiesen, Ministerien wurden angeschrieben, Zeitungen, Fernsehsender, Nachrichtensendungen, Talkshows, einzelne Journalisten… die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Der ein oder andere wird sich beim Lesen dieses Threads erinnern. Es darf sich
24/
jede/r (v.a. jede/r der Angesprochenen) überlegen, warum es zu keiner Wahrnehmung kam, warum er/sie persönlich das Thema nicht wahrnahm. Die Gründe kann man diskutieren, aber das gehört in einen anderen Thread.

Es gibt einen Aspekt, für den die #Schattenfamilien plötzlich
25/
eine Rolle spielten: bei der Empfehlung der #Impfung. Da wurden sie zu einer mathematischen „Größe“ zur Bestellung von Impfstoffen, zur Frage, wann, wo und wie sie geimpft werden können. Die Kriterien für einen schweren Verlauf wurden zu Kriterien der Impfpriorisierung. Zu
26/
Kriterien von Schutzmaßnahmen wurden sie zu keinem Zeitpunkt der Pandemie. So blieben die #Schattenfamilien bislang vergessen im Wahnsinn einer überforderten Pandemiepolitik, die seit dem 1. LD nicht mehr weiß, was sie tun soll. Schon gar nicht, um diejenigen zu schützen, die
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nicht hinter den Toren der Pflegeheime leben, sondern in die Schule gehen, beim Kinderturnen Purzelbäume schlagen und an einem sonnigen Nachmittag mit ihren Freunden über den Spielplatz toben…. MÖCHTEN.

Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass gefährdete erwachsene
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Risikopatienten hinter den Mauer von Pflegeheimen leben und jüngere Vorerkrankte höchstens in Förderschulen sitzen. Die Pandemie hat einen neuen Patientenbevölkerungstyp generiert: covid-19-relevant vorerkrankte Menschen gab es als GRUPPE vor der Pandemie nicht. Und so laufen
29/
alle Schutzmaßnahmen, die sich auf hergebrachte Vorstellungen „vulnerabler“ Gruppen beziehen, ins Leere. Sie erreichen diejenigen nicht, die es zu schützen gilt. Millionen Menschen mitten in der Gesellschaft, im Klassenraum der Grundschule um die Ecke, im Fechtverein, in der
30/
Musikschule, beim Kindergeburtstag, im Schwimmbad, im Restaurant am Nebentisch, in der Schlange an der Kasse vor uns… Kaum jemand bspw. in Schulen trug seine Vorerkrankung vor der Pandemie auf einem Silbertablett vor sich her, oft wissen weder LuL noch SuS, dass der Sitz-
31/
nachbar oder die Sportkameradin eine Vorerkrankung haben. Wir brauchen einen Perspektivwechsel und eine Anerkenntnis dieser Gruppe. Wir brauchen Schutzmaßnahmen, die dort greifen, wo diese Kinder leben. Mitten unter uns.
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Jan 1
.#KMK
Schulpflicht - Bildungspflicht, ein Thread (lang)

Die Pandemie hat eine aufgeregte Diskussion um das Thema „Distanzunterricht“ - maW um Fragen der Schul- oder Bildungspflicht ausgelöst. Schauen wir uns mal an, was es mit diesen Begriffen unabhängig von der Pandemie auf
1/
sich hat und versuchen wir, die Diskussion zu versachlichen.

Die Schulpflicht (im Sinne einer Präsenzpflicht in staatlichen Schulgebäuden) besteht in Deutschland seit 1919 als Errungenschaft demokratischer und milieuunabhängiger Bildungsmöglichkeiten aller Kinder.
Ihr voraus
2/
ging seit dem 18. Jh. eine Unterrichtspflicht, die Eltern verpflichtete, ihren Kindern Bildung zuteil werden zu lassen (auch um sie vor Ausbeutung als Arbeitskräfte unter Missachtung ihrer Bedürfnissen zu schützen). Es war nicht festgelegt, wie und wo die Bildung
3/
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Nov 28, 2021
Letzte Woche fand im Schulausschuss des Landtages NRW eine Anhörung zu einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf Einrichtung einer staatlichen kostenlosen Online-Schule für SuS, die zeitweise keine Regelschule besuchen können, statt. Dazu wurden verschiedene Sachverständige
1/
befragt, was aus ihrer jeweiligen Sicht dazu anzumerken sei. Ich hatte die Ehre, als Sachverständige fünf Initiativen vertreten zu dürfen, die sich - auch - für Risikofamilien in der Pandemie einsetzen. Nicht umsonst heißen diese Familien #Schattenfamilien, da sie in der
2/
Pandemie im Schatten jeglicher Diskussion stehen. Bei allen Maßnahmen (und -zurücknahmen) finden sie mit ihrer besonders belastenden Situation keine Beachtung und müssen ihre Kinder tw. seit über 1,5 Jahren isolieren - Teilhabe Fehlanzeige.

Die beantragte Online-Schule beruht
3/
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Oct 31, 2021
In der aktuellen Diskussion zur (Lockerung der) Maskenpflicht an Schulen werden immer wieder eine Reihe von Argumenten gegen das Tragen von Masken angeführt.
Schauen wir uns einige davon an.
Ein Thread ⬇️

Medizinische Aspekte (Sauerstoffmangel, Todesfälle, Verunreinigung mit
1/
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Aber was ist mit den "soften" Argumenten?

1. Probleme beim (Fremd-)Sprachenerwerb: zum (Fremd-)sprachenerwerb gehört
2/
förderlich (nicht zwingend) hinzu, auch den Mund des sprechenden Gegenübers sehen zu können, insbesondere, wenn neue Laute, die in der Herkunftssprache nicht vorkommen, gelernt werden. So funktioniert unser klassischer Fremdsprachenunterricht. Die Maske stellt den
3/
Read 42 tweets
Jul 22, 2021
"(...) Tugenden verfügt, die jede und jeder mit Ambitionen aufs Kanzleramt mitbringen sollte."

Schauen wir uns einmal an, wie es um diese "Tugenden" bei @ArminLaschet bestellt ist, dem Bewerber aus Merkels Partei. Für ihn sind die Fußstapfen dadurch sogar noch größer.
1/
"Erstens: Mit wissenschaftlichem Verstand ausreichend ausgerüstet (...)"

@ArminLaschet in der ersten Phase der Pandemie eines neuartigen potenziell gefährlichen Virus' über Wissenschaft und Wissenschaftler, deren Spezialgebiet dieses Virus ist:

deutschlandfunk.de/lockerung-der-…
2/
@ArminLaschet über die Dynamik einer neuen Pandemie mit immer noch vielen Unbekannten und die anspruchsvolle Wissenschaft der Modellierer:


3/
Read 17 tweets
Jul 11, 2021
@DJanecek reißt heute einen Vergleich zwischen LongCovid und Lockdown auf. Ich habe darauf reagiert. Servicetweet für Dieter:

LongCovid-Folgen - also die gesundheitlichen Folgen einer Virusinfektion mit einem neuen Virus, dessen Langzeitfolgen wir nicht kennen - gegen
1/n
Auswirkungen infektionseindämmender Maßnahmen - pauschalisiert "Lockdown" genannt - aufzuwiegen, ist sachlich absurd.

2019 brach eine weltweite Pandemie aus: eine "unnormale" Situation und jede Reaktion - Wut, Angst, Trauer, Abwehr, Verunsicherung... ist eine normale 2/n
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3/n
Read 26 tweets
Jun 29, 2021
@cturzer @JMWiarda
Ich erlaube mir, auf einige Aspekte zu antworten. Das kann so nicht stehen bleiben.

1. Die Vermutung, Sicherungsmaßnahmen suggerierten Beteiligten eine ungerechtfertigte Gefahr, verkehrt grundlegend psychologische Faktoren der Risikoanalyse/Prävention
1/
und nährt das politische Narrativ "Schule ist sicher", das eine gefährliche Scheinsicherheit suggeriert und Eltern/SuS/LuL vorgaukelt, sich um eine Infektion keine Sorgen machen zu müssen. Spätestens mit der ersten Quarantäneanweisung bricht für Familien dieses
2/
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3/
Read 26 tweets

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