Auf mehrfache Nachfrage versuche ich mal einen kleinen Thread zur Einführung in die Bedeutung bindungsorientierter Arbeit in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die mit ihrem #Verhalten irritieren und verstören. #Bindung #Jugendhilfe #Trauma #Pädagogik 1/32
Da ich dabei von einem dynamischen Bindungsmodell auf Grundlage neuerer Forschungen (z.B. Fraley & Spieker, Shaver & Mikulincer) sowie systemisch-familientherapeutischen Modellen (z.B. v. Sydow, Jopt) ausgehe, muss ich theoretisch ein wenig ausholen, damit es verstehbar ist 2/32
Die grundlegende Hypothese der Bindungstheorie ist, dass jeder Mensch ein natürliches Bedürfnis nach Bindung zu (erwachsenen) Bezugspersonen hat (Bowlby). Inwieweit dieses Bedürfnis erfüllt wird, hängt mit der Feinfühligkeit der Bezugsperson für Signale des Kindes zusammen. 3/32
Das Grundmodell, welches allen Theorien und Forschungsarbeiten zugrunde liegt, beschreibt dabei den Prozess, dass die individuellen biographischen Bindungserfahrungen des Kindes zu einer Bindungsrepräsentation „kartiert“ werden. Diese Bindungsrepräsentationen bilden dann die 4/32
Grundlage für die Erwartungshaltung, mit dem ein Kind zukünftig der (sozialen) Umwelt begegnet. Damit sind die Bindungsrepräsentationen die Basis von Emotionsregulation, Beziehungsverhalten sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Mittels dieser Prozesse bewältigt der Mensch 5/32
dann seine Bildungs-, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, welche wiederum als neue Bindungserfahrungen auf das System zurückwirken (siehe Abbildung). Wichtig: Ein Begriff wie „Bindungsstörung“ (medizinische Diagnose) macht in der Bindungstheorie strenggenommen 6/32
garkeinen Sinn, denn ein Prozess erfahrungsabhängigen Lernens und die Ausbildung einer Erwartungshaltung für die Zukunft ist nicht „gestört“ – sondern bei negativen oder traumatischen Erfahrungen bilden sich entsprechende Erwartungen aus – und zwar völlig normal! 7/32
Die Bindungstheorien unterscheiden nun zwischen „sicherer Bindungsrepräsentation“ und „unsicheren Bindungsrepräsentationen“. Experimente zum Bindungsverhalten (Ainsworth) arbeiteten dabei zunächst die Hypothese heraus, dass sich Kinder in unterschiedliche Bindungskategorien 8/32
einteilen lassen. Dabei wurde zunächst unterschieden zwischen
- „sicher gebunden“
- „unsicher-vermeidend gebunden“ &
- „unsicher-ambivalent gebunden“.
Spätere Experimente (Main) fanden bezüglich Kindern mit traumatisierenden oder Vernachlässigungs-Erfahrungen einen vierten 9/32
Bindungstyp: Den „unsicher-desorganisierten Bindungstyp“. Ob es sich dabei tatsächlich um eine eigene Kategorie handelte, oder um den Zusammenbruch der Bindungsstrategien, ist dabei durchaus unterschiedlich betrachtet worden. Internationale Studien zeigen, dass unsichere 10/32
Bindungen jeglicher Couleur in der Bevölkerung durchaus weit verbreitet sind. Bei Kindern mit schwierigen Verhaltensweisen sind dagegen desorganisierte Reaktionsmuster deutlich überrepräsentiert, sichere Bindungen dagegen deutlich unterrepräsentiert (Studie von H. Julius) 11/32
Neuere Ansätze in der Bindungstheorie brechen zunehmend mit dem statischen Bild von Kategorien, in die sich Menschen einteilen lassen und die sich in frühester Kindheit herausbilden und in der Regel lebenslänglich prägend bleiben. 12/32
Im ersten Schritt ist festzuhalten, dass Bindungen kein rein dialogischer Prozess zu(r) primären Bezugsperson(en) darstellt, sondern immer in einem komplexen Beziehungsnetzwerk stattfindet. So ist die Bindung zu Bezugsperson A keineswegs unabhängig von den 13/32
Bindungserfahrungen mit Bezugsperson B – und kann sich auch spontan anders zeigen, wenn A anwesend ist oder eben nicht. Insofern müssen wir viel stärker auch von triadischen und quadratischen Bindungsmustern (v. Sydow) und Dynamiken ausgehen – ein Prozess, für den Urie 14/32
Bronfenbrenner (1989) in der Ökosystemik die Meso-Systemebene der Beziehungen geschaffen hat. Veränderungen an einer Stelle eines Netzwerkes sorgen immer auch für Veränderungen im Gesamtgefüge.
Zweitens muss davon ausgegangen werden, dass Menschen im Laufe 15/32
ihrer Entwicklung sehr unterschiedliche Bindungserfahrungen mit vielen Menschen sammeln, die sich eher zu einem Erfahrungsfeld entwickeln, als zu einem primären Bindungstyp. Potenziell erleben viele Menschen alle Qualitäten von Bindungsangeboten, wenn sicherlich auch 16/32
in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Aus dieser Historie der Bindungserfahrungen bilden sich nun die Erwartungshaltungen aus, mittels derer der junge Mensch anderen Menschen begegnet und „lesen lernt“ (Mentalisierung; Fonagy, Bevington) 17/32
Darüber hinaus sehen bindungsdynamische Ansätze verstärkt auf BindungsVERHALTEN in Situationen, die das Bindungsbedürfnis stimulieren bzw. Stress auslösen, welcher durch Bindungsverhalten reguliert werden kann/ muss. Dieses Bindungsverhalten bewegt sich nun auch weniger in 18/32
Kategorien als vielmehr auf einem dimensionalen Pfeil, in dessen Mitte die Sicherheit steht. Hier gewinnt der Mensch durch den Bezug auf andere Menschen (Bindungspersonen) seine innere (und auch äußere) Sicherheit und es gelingen Emotionsregulation, Selbst- und 19/32
Fremdwahrnehmung sowie die Sicherung in Beziehung erfolgreich. Ist der Mensch situativ aber nicht im Raum der Bindungssicherheit, schwankt sein Verhalten entweder in Richtung Bindungsangst (mein Verhalten folgt der Angst, dass die Bindung abbrechen oder mich verletzen 20/32
könnte) oder in Richtung der Bindungsvermeidung (mein Verhalten vermeidet situativ die Beziehungssituation, da ich nicht erwarte, durch die Bindungsperson gesichert zu werden). Dabei kann auch der einzelne Mensch situativ oder je nach dem, WELCHE 21/32
Bindungsperson gerade verfügbar ist, unterschiedliche Strategien zum Einsatz bringen, die auch – dem dimensionalen Grundgedanken folgend – sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.
Diagnostisch haben @bolztijs und ich dieses Modell noch um die beiden 22/32
Handlungsstrategien der „Kontrolle“ (ich muss die Bindung kontrollieren, um sie aushalten zu können) und der „Regression“ (ich bin ganz klein und hilflos, Du musst die Kontrolle übernehmen) ergänzt, so dass ein Fadenkreuz zur Einschätzung des Bindungsverhaltens entsteht 23/32
Wenn man jetzt dieses Verständnis von Bindung zugrunde legt, wie funktioniert dann bindungsorientierte Arbeit? Eigentlich ist diese Frage relativ einfach: Der junge Mensch kommt mit den Erfahrungs- und Erwartungsmustern zu uns, die seine Biographie ihm gegeben hat. 24/32
Wenn jetzt unser Ziel ist, ihm möglichst viele Erfahrungen der Sicherheit anzubieten, dann müssen pädagogische Fachkräfte selbst dafür sorgen, dass sie aus der Sicherheit heraus handeln. Es geht nicht um die Störung des Kindes, sondern um die Sicherheit der Fachkraft! 25/32
Ein paar Beispiele: Wenn ein Kind z.B. ängstlich regressiv reagiert (oder seine Bindungsstrategien auf Grund schwerer Traumata völlig in sich zusammenbrechen), kann der Pädagoge natürlich in das Gegenteil schlagen und Bindung vermeidend (ignorieren, weil „der will… 26/32
…ja NUR Aufmerksamkeit“) und kontrollierend (sanktionierend, schimpfend, überwältigend) handeln – dies wäre aber eben nicht aus dem Zentrum der Sicherheit heraus. Eine SICHERER Begleitung bestünde darin, dem jungen Menschen zu vermitteln, dass man bei ihm/ihr bleiben wird, 27/32
bis er/sie sich wieder selber regulieren kann. Hierzu braucht es sowohl ein Setting, in dem dies möglich erscheint, eine eigene Handlungssicherheit sowie festen Rückhalt in einem Team – ggf. Reflexion durch Fachberatung/ Supervision. 28/32
Ein anderes Beispiel: Wenn es Spannungen im Team gibt, ist ein Kind, dass auf Grund seiner Erfahrungen mit streitenden Eltern und einem gegen die Eltern streitenden Hilfesystem versucht, die Kontrolle zu übernehmen und eine Fachkraft durch ängstliches Verhalten an sich zu 29/33
...binden und einen anderen durch Kontrolle auf Distanz (Vermeidung) zu halten, weder Bindungsgestört noch das Team spaltend – es nutzt sein biographisch erworbenes Erfahrungswissen, um eine Situation zu lösen, in der sich das Team aus dem Zentrum der Sicherheit selbst 30/32
herausbefördert hat.
An solchen und vielen anderen Beispielen kann man lernen, was eine Pädagogik bedeutet, die aus der Sicherheit heraus Bindungsangebote unterbreitet, statt in Machtkämpfen oder durch Versuche der (erzwungenen) Veränderung (Machbarkeitsphantasien) 31/32
verwickelt zu werden und dabei den Bedürfnissen von bindungsgekränkten bis hin zu traumatisierten Kindern nicht gerecht zu werden, sondern im Gegenteil die unsicheren Strategien zu zementieren –Ein langer Weg, der sehr viele neue Erfahrungen benötigt, aber er lohnt sich! 32/32
So, dass war jetzt mal ein längerer theoretischer Thread, aber ich hoffe, Ihr konntet einigermaßen Folgen... Wenn nicht, einfach Fragen, oder weiterklicken!

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Feb 24
#Kinder reagieren verunsichert auf den #Krieg in der #Ukraine - zurecht!
Drei Erste-Hilfe-Hinweise:
1. Vermittelt dem Kind, dass seine Gefühle und Unsicherheit richtig ist, dass auch Ihr ein mulmiges Gefühl hat! Kinder wissen & spüren, das "etwas" nicht in Ordnung ist! ->
2. Sorgt dafür, dass Kinder nicht (nur) ungefiltert informiert werden. Schaut mit ihnen gemeinsam Kindernachrichten oder kindgerechte Informationen und stellt Euch den Fragen, Gesprächen und Gefühlen, die da kommen.
Material z.B. auch hier: ->
Und 3. Wenn Ihr noch Eltern oder Großeltern (oder auch Bekannte & Verwandte aus aktuelleren Konfliktherden) habt oder hattet, die Krieg erlebt haben, erzählt den Kindern davon - nicht beschönigend oder dramatisierend, aber erstens haben Geschichten für Kinder immer eine Ebene ->
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Dec 1, 2021
Egal, was passieren wird – tausende #Familie baden die Folgen des Gelehrtenstreites aus – UND SIND DABEI WIEDER VOLLKOMMEN ALLEINE!
Aber es gibt Wissen über #Familiendynamik & #Kinderschutz in der #Covid_19 #Pandemie, was zeigt, was man tun kö… Äh, was ZU TUN IST!
Thread 1/30
Wir kennen die Dynamiken familiärer Prozesse, die für Kinder, Jugendliche & Eltern problematisch werden können. Warum nutzen wir das Wissen nicht? Ist Kinderschutz wirklich eine Frage der Rechthaberei? Folgende Maßnahmen sind aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll: 2/30
*(Triggerwarnung: Dieser Thread enthält keinerlei dogmatische Forderungen oder Verurteilungen bestimmter Pandemie-Maßnahmen und will diese auch nicht in Drukos/ Drükos lesen – hier geht es AUSSCHLIEßLICH um UNTERSTÜTZUNG, die jetzt SO ODER SO notwendig ist) 3/30
Read 30 tweets
Jul 2, 2021
10 Punkte für ein neues Schuljahr
#Schule #Covid19 #Corona
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1. Wie #Präsenzbetrieb sichern?
2. Wie bei neuen Pandemieentwicklungen handeln?
3. Wie den Herausforderungen durch die psycho-soziale #Entwicklung der Kinder & Jugendlichen begegnen?

Dabei sehe ich 10 Punkte als möglichen Rahmenplan: 2/17
1. Entry-Testung am Ende der Sommerferien – mindestens zwei #Tests VOR Schuljahresbeginn, idealerweise ein PCR-Pooltest.

Hierdurch kann auf mögliche Dynamiken aus der Urlaubsphase reagiert werden und der Schulbeginn startet sicher und ohne unnötige Quarantänen. 3/17
Read 17 tweets
Jun 13, 2021
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Read 24 tweets
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...aus einer Krankheit heraus abzuleitende Gefahr von dem jungen Menschen für sich und/ oder andere Ausgeht. Dieses Kriterium ist sorgfältig zu prüfen, der Aufenthalt so kurz wie möglich zu gestalten und die Aufnahme zu verweigern, wenn die Kriterien nicht erfüllt sind. 3/x
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Apr 24, 2021
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