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Manchmal frag ich mich, warum ich meine #garstigeGroßmutter(tm) erst nach ihrem Tod als #Nazi bezeichnen kann.

#Thread #Kriegsenkel
Meine Großeltern waren beide Jahrgang 1923. Sie heiraten im August 1944, die Großmutter sagte: "Am Tag bevor er an die Front musste."

9 Monate später wird mein Vater geboren. Auf der Flucht vor der herannahenden russischen Armee. Auf dem Gebiet der Tschechei. Zu Fuß bis Wien.
Der Junge wächst im zerbombten Berlin auf. Auf den Fotos lachen sie meist. Er bleibt lange der kleinste seiner Altersstufe. 1953 kommt mein Großvater zurück aus der Kriegs-Gefangenschaft. Es sind viel weniger, als erhofft, die damals zurückkommen.
Diese Storyline kann ich hoch und runter beten. So oft wurde sie mir erzählt. Auch, dass die Großmutter vor dem Krieg die gehobene Gesellschaft kannte. Sie habe mit den Töchtern von Hermann Göring im Garten gespielt. Erst nach ihrem Tod sehe ich erstmals Fotos von damals.
Darunter auch Gartenfest-Szenerien. Die meisten Männer tragen jene Uniformen, die ich nur aus Filmen kenne. Die mit den weiten Oberschenkeln.

Mein Vater berichtet, sie habe in der kurzen und schnellen Demenz vor ihrem Tod angefangen, den Holocaust zu leugnen.
Erst langsam setze ich die Puzzlestücke neu zusammen aus jener Zeit, als sie und ich noch Kontakt hatten. Aber was heißt eigentlich Kontakt? Ich habe 505 Tage bei ihr gelebt, vor dem Abi. Lange Zeit und auch heute noch manchmal sage ich: Ich habe diese Zeit überlebt.
Die Familie hat ihre Gewalt immer auf ihre Alkoholsucht und ihr individuelles Schicksal zurückgeführt. Kein Elternteil oder die Geschwister meines Vaters haben je Ideologie und Menschenbild der Nazis dazu in einen Kontext gebracht.
Dreimal hatte ich der Schule die NS-Zeit in Geschichte. Das volle Programm und doch: Der Unterricht hat mir offenbar nicht mal im Ansatz nähergebracht, wie ein Nazi ist, der keine Uniform trägt oder den Arm nach oben reckt. Auch die Neonazis der 1990er waren so... erkennbar.
Ich meine inzwischen, verstanden zu haben, wie sehr meine Großmutter ihre Sprache an die Erwartungen des Nach-Nazi-Deutschlands angepasst hat. Und dass mir vor allem die Shoah gezeigt worden war in der Schule. Nicht: Die grundsätzliche Abwertung konstruierter Andersartigkeit.
Ich wusste nicht mal, dass dieses Anderssein-Ding mit dem ich so selbstverständlich aufwuchs, überall noch stattfand. Für mich war es selbstverständlich, dass Lesben & Schwule weniger Rechte hatten. Selbst nachdem ich mein eigenes Coming-out hinter mir hatte.
Darum erschien mir die krasse Reaktion meiner Großmutter auf die #AktionStandesamt des @lsvd im August 1992 gar nicht sonderlich auf. "Wenn die Homosexuellen sich zeigen, dann geht die Gesellschaft bald danach kaputt."
@lsvd Da war mein Opa schon 5 Jahre tot. Mit ihm haben wir das Korrektiv und Gegengewicht zu ihr verloren. Ich erinnere ihn als freundlich, zugewandt, humorvoll. Ernsthaft. Ich glaube, er wollte vor allem: nie wieder Krieg. Auch wenn er beruflich Soldat geblieben war.
@lsvd Seine Laufbahn brachte sie wieder dorthin, wo sie sich vermutlich immer "richtig" wähnte: In die Elite. Das macht die Nazi-Ideologie wohl auch aus: Es gibt eine geschlossene Gesellschaft, die nicht nur über alle(s) entscheidet, sondern sich schamlos bedient und bevorteilt.
@lsvd Legendärste Erinnerung: Wie lauter alte (reiche) Damen beim Kaffee der einen empört zuhören, dass die Krankenkasse ihre Kur nicht bezahlen wollte. "Da hab ich den persönlichen Referenten vom Seehofer angerufen. 5 Minuten. Dann war das kein Problem mehr!" Alle nickten & lächelten.
@lsvd Seehofer war damals Bundesgesundheitsminister. Im Nachlass meiner Großmutter waren auch die Fotos von den Damenrunden mit Hannelore Kohl. Konservativer Klüngel. Oder die Nachfolge-Netzwerke? Ich hab keine Ahnung. Repräsentative Ehefrau war wohl ein wichtiger Beruf damals.
@lsvd Niemals kamen die Nazi-Buzzwords: Juden. Vergasen. Unwertes Leben. Endlösung.

Es war einer gewissen mitleidigen Herablassung gewichen (wenn es nicht schon immer so war?) und ganz selbstverständlich wurde implizit und ständig entwertet. Menschen waren eben "dumm geboren".
@lsvd Und sie waren "faul", wenn sie es nicht nach "oben" schafften. Und wenn sie "oben" waren, waren selbst die dicksten Kartoffeln noch die besten Partien. Dass ich einen "angehenden Juristen" (=einen Studi) traf, erfreute sie. Der würde was hermachen. Den müsse ich "halten".
@lsvd Fürs Notizbuch: Auch die stark begrenzte Vorstellung von Mann/Frau/Familie ist so ein Teil vom Nazitum. Ich schlug den Studi beim Billard. Dreimal. Fand ich cool. Sie nicht. "Du darfst ja besser sein als der Mann. Aber er darf es nicht merken!!"
@lsvd In den 1980/90ern waren die gesellschaftliche/politische Elite und die Neonazis noch ziemlich getrennte Welten, scheint es mir im Rückblick. Niemals hätte die Großmutter solchen Pöbel in der Nähe haben wollen. Aber besser als "diese Asylanten" waren die immer noch.
@lsvd These: Es war die Verbindung der elitären "gebildeten" und der gewaltbereiten "handwerklichen" Skupellosigkeit in einer durch ein abgeschlossenes Weltbild geeinten Koalition, die binnen weniger 1930er-Jahre in Holocaust und Krieg geführt haben.
@lsvd Damals ging es um Expansion der Nation und um die Vernichtung der intellektuellen Konkurrenz. Zudem um Selbstbereicherung am Eigentum der als lukrativ identifizierten Personengruppen. Oder an den Regierungsaufträgen und durch Zwangsarbeit.
@lsvd Hatespeech, Medien auszuschalten zu versuchen, Personengruppen als "zu präsent" (wenn kleine Gruppe) oder als "böse/schlecht" (wenn groß) zu brandmarken, dazu ein Wahlprogramm, dessen Umsetzung umgehend sozialen Zündstoff bedeuten würde... Da bleibt mehr Geld für Elite & Friends.
@lsvd Ich bin froh, dass ich - wenn auch spät - (an zynischen Tagen sagte ich: Alkohol konserviert) nach dem Tod der Großmutter so vieles besser einzuordnen beginnen konnte.

Was aber immer noch zu fehlen scheint: Was hilft eigentlich gegen diese Entwicklung? Talkshows schon mal nicht.
@lsvd Ich denke oft: Die Zeit und Energie in die demokratischen, empowernden, bildenden Maßnahmen stecken. Mich nicht von meinem FÜR dort wegziehen zu lassen zu einem GEGEN, das keine Wirkung erzielt.
@lsvd Die Großmutter hatte jeden Tag die Möglichkeit, etwas zu ändern. Als sie starb, war mein Vater der letzte Mensch, der sie besuchte. Seitdem kann auch er langsam aus diesem nie beendeten Krieg raus.
@lsvd Und obwohl ich vor mehr als 25 Jahren aus ihrem Haus floh, kann auch ich erst seit wenigen Jahren so langsam anders erzählen, denken, fühlen.

Da ist dann immer noch diese individuelle Sache. Und sie war schlicht kompetent destruktiv & gewalttätig auf eine infam-verdeckte Weise.
@lsvd Ich bin sehr froh, dass die Vererbungslehre der 1930er sich als falsch herausgestellt hat. Leider finde ich gerade nicht das Foto dazu aus dem Schulheft meines Großvaters vom Tag als ich half, ihr Haus auszuräumen... Jedenfalls war da u.a. "asozial, kriminell" erbbedingt.
@lsvd Danke Euch fürs Lesen.

Hier noch ein paar frühere Tweet mit #kriegsenkel von mir:

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