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Sagt alles ab - mein erstes Geisterspiel (Thread)

Die Fans, also die echten Fans, die, die noch die Patentante des dritten Torhüters mit Namen kennen, sind schon wieder abgezogen zum Fanhaus gleich nebenan, wo der Fernseher steht. 1/x #coronavirus #Corona
Eben noch haben sie das Team gefeiert, als es im Bus das Stadion erreichte, trotz der Bitte der Stadt, das Gelände wegen der Ansteckungsgefahr zu meiden. Nun aber, eine Viertelstunde vor Anpfiff, gibt es hier nichts mehr zu sehen, denn ins Stadion kommen sie heute nicht. 2/x
Ausgerechnet das Derby, DAS DERBY, wird zum ersten Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte.

Aber ich, als unechter Fan, stelle mein Rad hinter der Nordkurve ab, DER NORDKURVE, das heißt, vor dem Gitter, das das ganze Stadion umgibt. 3/x
In meinem Leben stand ich nur einmal in der Nordkurve, jetzt stehe ich wenigstens noch mal dahinter. Was ich hier mache, weiß ich selbst nicht so genau. Ich bin in keinem Auftrag hier. Alle Zeitungen wollten bloß Berichte aus dem leeren Stadion, aber keinen von davor. 4/x
Ich sehe bloß ein Kamerateam und die in ihren Warnwesten gekleideten Ordner, die auf der anderen Seite des Gitters nicht so recht wissen, was sie tun sollen außer darauf zu achten, dass niemand übers Gitter klettert. Es ist aber ja keiner da. 5/x
Erst verspätet bekomme ich mit, dass im Stadion die Hymne läuft, „Die Elf vom Niederrhein“, sonst ein Garant dafür, dass sich alle Zuschauer erheben, doch wie gesagt, es sind ja keine da. Danach gibt der Stadionsprecher die Mannschaftsaufstellung durch. 6/x
Normalerweise brüllen die Fans jeden Nachnamen, aber wie gesagt... nun ja.

Dass die Spieler einlaufen, erkenne ich nur daran, dass der „Triumphmarsch“ erklingt. Ich glaube, den Anpfiff bekomme ich nicht mit. Ich dachte, ich würde nun hören... 7/x
... wie die Spieler sich gegenseitig Dinge zurufen, aber ich höre nur ab und zu die Pfeife des Schiedsrichters, ansonsten das Gebrabbel der Ordner, die das Spiel auf dem Handy und auf anderen kleinen Bildschirmen verfolgen. 8/x
Ich weiß schon jetzt, dass es eine blöde Idee war, die fünf Kilometer mit dem Rad zu fahren, bevor ich die Nachricht einer befreundeten Schauspielerin erhalte. Vor einigen Wochen hatte ich sie interviewt, es ging unter anderem darum, wie schwer es für Schauspieler... 9/x
... im Winter ist, weil wenig gedreht wird, wenn die Tage kurz sind. Damals war das Virus aus China noch weit weg.

Sie schreibt mir: „Im Grunde müssten wir das Interview heute nochmal führen. In der Filmbranche herrscht Endzeitstimmung. Die kommenden Projekte... 10/x
... ...sind alle eingefroren, die Kinopremieren auf unbestimmt vertagt, die Theater zu. Wir haben alle keinen Beruf mehr.“

Wir haben alle keinen Beruf mehr.

Erst in diesem Moment wird mir so richtig klar, was da in den kommenden Wochen und Monaten auf uns zukommt. 11/x
Dass das wirklich ernst ist und nicht bloß Material für die Boulevardseiten. Dass wir zusammenrücken müssen, indem wir auseinanderrücken. Und dass die ganzen Absagen und Ausfälle einige Leute mehr treffen werden als andere und es dazu keine Alternative gibt. 12/x
Denn um Leben zu retten, müssen Existenzen aufs Spiel gesetzt werden. Zum Beispiel derjenigen, die vor Publikum auftreten oder für ein Publikum drehen. Diese ganzen Kulturschaffenden, die ohnehin schon überwiegend prekär leben, von den oberen Tausend mal abgesehen. 13/x
Es fällt dann ein Tor, das erste Tor in einem Geisterspiel der Bundesliga, und es wird überraschend laut, das müssen die Ordner sein. 1:0 für mein Team, aber nach drei Sekunden ist das Gefühl vorüber.

In der Halbzeit fängt es an zu regnen, und ich beschließe zu fahren. 14/x
Es gibt ja nichts zu sehen und selbst wenn, würde ich es nicht mehr sehen wollen. Selbstverständlich nimmt der Regen auf der Fahrt zu. Ziemlich sicher bin ich mir, dass gerade noch das für lange Zeit letzte Bundesligaspiel läuft. 15/x
Und da ist noch nicht bekannt, dass sich bei Juventus Turin ein Spieler angesteckt hat und Inter Mailand sich aus allen Wettbewerben zurückzieht und die NBA ihre Saison unterbricht. Der Profifußball reagiert mal wieder mit Verzögerung, weil es um so viel Geld geht. 16/x
Zuhause poste ich den Song „Sag alles ab“ von Tocotronic. Dann stoße ich auf ein Video. Es zeigt Hunderte Fans, die sich dicht zum Abpfiff wieder hinter der Nordkurve drängeln, um den Sieg zu bejubeln. Jemand schreibt: „Gladbach feiert den Gewinn des Darwin-Awards.“ 17/SCHLUSS
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