Thread by @LHaffert

Laut Steuerschätzung wachsen die deutschen Steuereinnahmen nicht mehr so schnell wie zuletzt. Manche Kommentatoren erwarten oder erhoffen deshalb einen Abschied von der „schwarzen Null“. Warum die politische Logik der #SchwarzeNull das unwahrscheinlich macht. Ein Thread. 1/n

Momentan dürfte Olaf Scholz die schwarze Null noch recht mühelos halten, zumal die neuesten Konjunkturdaten schon wieder besser sind. Sollte die Wirtschaft aber weiter schwächeln, würde sich der Zielkonflikt zwischen schwarzer Null und neuen Ausgaben zwangsläufig verschärfen. 2/n

Was bedeutet das politisch? Eine hilfreiche Heuristik, um darüber nachzudenken, bietet eine Unterscheidung, die R. Kent Weaver 1986 in einem klassischen Aufsatz eingeführt hat: die zwischen „politics of credit claiming“ und „politics of blame avoidance“. 3/n

Credit Claiming bedeutet kurz gesagt: Wenn eine Regierung Maßnahmen durchsetzen kann, die populär sind, wird sie versuchen, offensiv die Verantwortung dafür zu reklamieren. Neue Ausgaben sind dafür ein Musterbeispiel 4/n

Blame avoidance hingegen meint, dass Regierungen unpopuläre Maßnahmen vermeiden oder die Verantwortung dafür von sich schieben. Musterbeispiel: Ausgabenkürzungen 5/n

Zwischen den beiden Politiktypen besteht laut Weaver eine letztlich psychologisch begründete Asymmetrie. „Blame” ist schlechter als „Credit“ gut ist. Weaver: „In short, voters are more sensitive to what has been done to them than to what has been done for them” 6/n

Ganz entscheidend dafür, welche Art von Politik sich ergibt, ist nun die Frage, was der Status Quo ist. Stellt eine politische Maßnahme gegenüber diesem Status Quo eine Verbesserung oder eine Verschlechterung dar? 7/n

Die schwarze Null bot einige Jahre Anlass für klassisches Credit Claiming. Defizite waren ein unpopulärer Status Quo, die schwarze Null eine klare Verbesserung – für die sich Finanzminister gerne feierten. Ein prototypisches und ein skurriles Beispiel:
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Inzwischen ist aber ein ausgeglichener Haushalt der neue Status Quo. Ihn zu bewahren kann deshalb kaum noch als Quelle für „Credit“ dienen. Ihn zu verlieren ist hingegen eine vermeintliche Verschlechterung des Status Quo und droht entsprechend zur Quelle von „Blame“ zu werden 9/n

Damit wird die schwarze Null von einer Politik, mit der die Regierung für sich wirbt, zu einem potenziellen Instrument der Opposition, um der Regierung bei einer Rückkehr ins Defizit Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen 10/n

Für Olaf Scholz kommt erschwerend hinzu: Der Koalitionspartner ist der „Issue Owner“ der schwarzen Null und würde ihm im nächsten Wahlkampf ebenfalls einen Bruch der neuen fiskalischen Norm vorwerfen 11/n

Will Scholz diesen „Blame“ vermeiden, muss er also eine Rückkehr ins Defizit verhindern. Zugleich muss er aber auch vermeiden, dass er die schwarze Null nur noch durch „Blame“ erzeugende Maßnahmen, also durch Kürzungen bestehender Ausgaben oder Steuererhöhungen halten kann. 12/n

Fazit: neue Ausgaben (oder Konjunkturprogramme) haben unter diesen Bedingungen ziemlich schlechte Karten. Sie erlauben zwar durchaus „Credit Claiming“, aber das Motiv, den „Blame“ für Haushaltsdefizite zu vermeiden, wiegt (solange keine Rezession kommt) vermutlich schwerer. 13/n

Gleichzeitig wird Scholz selbst aus einer erfolgreichen Verteidigung der schwarzen Null aber kaum politisches Kapital schlagen können – als Quelle von „Credit“ hat die nämlich mittlerweile weitgehend ausgedehnt. /end