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Für alle, die sich Fragen, wie der Arbeitsalltag eines #Freiberuflers so aussieht: Ich hatte heute um halb zwölf einen Skype-Termin. Mit meiner Mutter.
Warum? Weil die gute Frau A) eine völlig falsche Vorstellung vom Arbeitsalltag eines Freiberuflers hat und B) vierzehn Monate vor dem wirklich lange ersehnten Ruhestand noch eine digitale #DSGVO-Weiterbildung machen muss.
Offiziell übrigens allein.
Offiziell ohne Unterstützung.
Offiziell während ihrer Arbeitszeit.
Aber wir alle wissen, was das heißt.
Es folgt:
Ein Liveticker wie ich meine Mutter unter wehenartigen Schmerzen physischer und psychischer Natur durch eine DSGVO-Fortbildung begleite.
Disclaimer I:
Ich liebe meine Mutter. Echt jetzt. Aber beruflich hat die gute Frau vor 40 Jahren zwei sehr fatale Grundentscheidungen getroffen: A) Etwas mit Zahlen. B) Etwas mit Menschen. Und jetzt sitze ich hier und hab weder Heroin noch Rasierklingen im Haus.
Disclaimer II:
Meine Mutter ist keine dumme Frau. Im Gegenteil. Aber sie versteht so viel vom Internet wie ich vom Punktesystem der Tour de France. Eigentlich haben wir ähnlich viel Bock auf das ganze hier. Nämlich null. Aber was soll ich sagen: Blut ist dicker als DSGVO.
Übrigens: Weil mich die panischen und hilflos umherirrenden Blicke meiner Mutter fertig machen, sobald ich Sachen sage wie „Dann mach jetzt bitte mal deinen Browser auf“ oder „Das Icon mit dem roten Fuchs. Das Icon. Das ICON! DAS EI-KON! DER KNOPF MIT DEM ROTEN FUCHS!!!“...
... läuft das ganze nicht nur über #Skype, sondern auch über eine Fernsteuerung von #TeamViewer.
Besagte Weiterbildung läuft übrigens nicht über den Arbeitgeber meiner Mutter, sondern die Webseite eines externen Anbieters. Alle Infos dazu hat Mutter in einer Mail bekommen...
... Wir könnten einfach den Link in der Mail anklicken, wenn Mutter die Mail an ihre private Mailadresse weitergeleitet hätte. Hat sie aber nicht. Stattdessen hat sie die Mail auf Arbeit ausgedruckt und hält mir jetzt stolz drei DinA4-Seiten in die Webcam.
Na gut. Dann geben wir die Webadresse halt per Hand ein.
Dass meine Mutter alle, wirklich alle Webadressen bei google eingibt und anschließend "ganz einfach" auf das erste Suchergebnis klickt, statt die URL direkt in die Adresszeile zu tippen, macht mich fertig. Seit Jahren. Echt jetzt. Seit Jahren. Ich träume manchmal davon...
... Einmal hat sie bei google.de google.de eingegeben. Kein Witz.
Direkt zu Beginn muss Mutter ein neues Passwort eingeben. Erkläre ihr, dass „Regina“ kein gutes Passwort ist. Ich bitte um Großbuchstaben, Kleinbuchstaben, Zahlen, Sonderzeichen.
Erkläre meiner Mutter, dass „Regina1957!“ auch kein gutes Passwort ist. Anmerkung des Autors: Meine Mutter heißt übrigens nicht Regina. Wir kennen auch keine Regina. Wer zum Teufel ist Regina!?
Wir sind drin. Die Freude hält sich in Grenzen. Als hätte ich gerade einen Einser-Abschluss in Europäischer Ethnologie gemacht.
Apropos: Die Weiterbildung sieht aus als hätte sie ein Einser-Ethnologe bei einer JobcenterFortbildung entworfen. Auf der ersten Tafel sind lachende junge Menschen zu sehen. Auf einer Wiese. Daneben der Schriftzug „DSGVO!“ Ich wiederhole: Lachende junge Menschen. Auf einer Wiese.
Großer Gott. Die Weiterbildung ist gegendert. Wenn ich meiner Mutter jetzt noch 150 Jahre Feminismus und das Binnen-I erklären muss, bin ich aber raus. Aus diesem Leben.
Nach der Einleitung wird übrigens der Aufbau eines möglichst sicheren Passworts erläutert. NACH der Einleitung. Blanker Hohn ist das. Blanker Hohn. #Regina
Mutter ist jetzt erstmal mit dem Lesen der Gesetzlichen Grundlagen beschäftigt. Zeit genug einen Kaffee aufzusetzen, mich kurz zu ritzen und auf dem Balkon eine zu rauchen. Wird übrigens die erste Zigarette meines Lebens. Hab ich mir verdient, finde ich.
Ich stehe auf dem Balkon. Mutter ruft auf dem Handy an, "weil ich seit 2 Minuten meine Pause überziehe“. Ihr postsowjetischer Befehlston erklärt ganz gut, warum Mutter seit fünfzehn Jahren freitags immer frei hat. Trotz vollem Gehalt. Das nennt man #Betriebsklimaverbesserung.
Mutter hat sich in meiner Abwesenheit ausgeloggt. Angeblich versehentlich. Kann vorkommen. Immerhin liegen zwischen den Buttons für „Nächste Seite“ und „Abmelden“ nur gute 1100 Pixel. Ich habe schon lange das Gefühl, dass Zeit und Raum hier langsam an Bedeutung verlieren...
... Welches Jahr haben wir? Ist der Krieg schon vorbei? Ist AKK noch Kanzlerin? Wie war die vierten Staffel „Rick and Morty“?
Zwischenstand. Seite 14 von 38. Überschrift: Besondere Arten von personenbezogenen Daten. Menschen mit einem Fetisch für Stockphotos würde spätestens jetzt ejakulieren...
... Mutter liest laut vor: „Daten zur sexuellen Orientierung.“ - „Ach guck“, sagt sie. „Hier geht’s um dich.“
Ich lese laut: „Daten zur ethnischen Herkunft und weltanschaulichen Überzeugungen.“ - „Jaja. Du mich auch.“, sagt Mutter.
Seit Seite 11 sitzt übrigens mein Vater mit am Rechner. [Also an ihrem, nicht an meinem.] Der Mann ist seit drei Jahren im Ruhestand und hat sich seit Abschluss seines Megabauprojekts „Steingarten21“ in der unendlichen Leere seiner Altersfreizeit verloren...
... Anders kann ich mir nicht erklären, dass er diesen Scheiß hier freiwillig mitmacht. Wenn ihn das schon begeistert, kriegt er zu Weihnachten eine Gasthörerschaft für Europäische Ethnologie.
Seite 21 / Folgen bei Verstößen
Man stelle Sich das dümmste Stockphoto vor, dass einem einfällt. Richtig: Ein Mann in Hemd & Krawatte hinter Gittern. In Westernoptik.
Gleiches Spiel auf Seite 22. Thema: Weitergabe sensibler Daten. Ein Mann der eine FloppiDisk mit der Aufschrift ‚Raubkopie’ in seinem Sacko verschwinden lässt. Eine FloppiDisk! Bewegen uns also rückwärts durch die Zeit. Wann kommt das erste Stockphoto mit einer Schellackplatte?
Antwort: Seite 22. Umgang mit alten Datenträgern.
Meine Mutter hat sich übrigens Urlaub genommen für diese Weiterbildung. Ich dachte ich erwähne das kurz, damit die ganzen Freiberufler [und Ethnologen] mal ein Gefühl dafür bekommen, was anständige Arbeitsmoral ist.
Apropos Arbeitsmoral: Es ist gleich 15 Uhr und ich sitze immer noch in Boxershorts vor’m Rechner und ernähre mich von Kelloggs Smacks. Ohne Milch. Direkt aus dem Karton.
Langsam ist ein Ende in Sicht. Mutter ahnt noch nicht, dass auf Seite 36 zehn Fragen auf sie warten. Ihre Aufmerksamkeit lässt übrigens zu wünschen übrig...
... weil diese kleine, als 60-Minuten-Block angekündigte Weiterbildung aktuell in ihre vierte Stunde geht. Und weil auf dem Fernseher neben Papas Computertisch die dritte Folge „Sturm der Liebe“ läuft. Naja. Wer von uns ohne Netflix ist, der werfe den ersten Stein.
Hier läuft übrigens die dritte Staffel „Stranger Things“. Nicht einmal halb so gruselig wie eine DSGVO-Weiterbildung mit der mütterlichen Blutlinie.
14 Uhr. Zehn Fragen. Mutter bietet mir 50 Euro, wenn ich „das Quiz“ alleine löse während sie die Wäsche macht. Ich appelliere an ihr Ehrgefühl, bis mir dämmert, dass Mehrfachnennungen möglich sind und man bei einer falschen Antwort direkt zur jeweiligen Seite zurückgeleitet wird.
14:10 Uhr. Ich habe Mutter auf 100 Euro und einen Wochenvorrat Choco Crossies hochgehandelt. Mit einer erschreckenden Routine klicke ich mich durch den Fragebogen. Mutter macht angeblich die Wäsche...
... liegt aber in Wirklichkeit mit der #Bunten auf dem Sofa. Das weiß ich, weil die Fernsteuerung noch läuft und Papas Webcam schwenkbar ist.
14:15 Uhr
Meine Mutter hat jetzt ein Zertifikat in Datenschutz. Weil man Name und Geburtsdatum aber selbst eintragen muss und jederzeit zurückklicken kann, haben jetzt auch „Adolf Pimmelfinger Hitler“ und ich eins.
14:17 Uhr
Weil mein Vater alle seine Passwörter und Zugangsdaten in einer Textdatei auf seinem Desktop speichert und die Fernsteuerung noch immer aktiv ist, schlägt Mutter vor, dass ich mir die vereinbarten 100 Euro einfach selbst überweise...
... und ob ich auch gleich noch den Computer ausmachen könne, wenn ich fertig bin. Ich hab’s euch doch gesagt: Meine Mutter ist keine dumme Frau. Im Gegenteil.
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