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Interessant: In der Süddeutschen steht, Greta Thunberg sei die Hauptfigur in einer klassischen Tragödie. Ein Thread, warum das Unsinn ist:
Zuerst: Wie beschreibt der Artikel diese tragische Handlung?
Im Teaser heißt es: „Greta Thunberg ist die tragische Heldin, die die Wahrheit zwar sieht und ausspricht, aber dennoch nur scheitern kann.“
Und im Text: »Junge Idealistin prallt auf die Realität - aus diesem Szenario speist sich der Stoff einer klassischen Tragödie, in deren Zentrum Greta Thunberg steht: Tatsächlich wird sie nur scheitern können.«
Weiter: »Auf der einen Seite warten ihre Kritiker hämisch darauf, die Heldin als Heuchlerin zu enttarnen. […] Auf der anderen Seite erwarten ihre Fans, nicht weniger genüsslich, das Scheitern der Welt an den Ansprüchen der Klimabewegung.«
Das ist es im Wesentlichen, was der Text hergibt an Bestimmung der hier vorgeblich sich entfaltenden Tragik. Was lässt sich daraus machen?
Zunächst ein Blick auf die klassische, also die attische Tragödie, die sich im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen entwickelt hat.
Über diese Entwicklung wissen wir nicht so viel, wie wir gerne würden. Anzunehmen ist, dass sich die Tragödie als Aufführung eines Theaterstücks mit Schauspielern aus einer religiösen Feier entwickelt hat.
Dabei handelte es sich um ein Fest zu Ehren des Gottes Dionysos, bei dem unter anderem Chorlieder gesungen wurden.
Dieses Fest wurde zunehmend politisiert, und zwar mit der Absicht, das Gemeinschaftsgefühl der athenischen Bevölkerung zu stärken. Damit einher gingen Modifikationen der religiösen Riten.
Zum Chor gesellte sich ein Vorsänger, zum Vorsänger irgendwann ein Protagonist – jemand, der etwas sprach und dann mit dem Chor in eine Wechselrede bzw. einen Wechselgesang einfiel.
Später kam ein zweiter Protagonist hinzu, schließlich ein dritter. Und das war es: Maximal drei Schauspieler und ein Chor auf der Bühne, Dialoge, Gesänge, Tänze – die attische, klassische Tragödie.
Um diesen Dialogen und Gesängen eine Handlung zu geben, bedienten sich die Tragiker der mythologischen Erzählungen. Auf eine davon scheint der SZ-Artikel anzuspielen: Kassandra.
Kassandra war eine Seherin in Troja, die jedoch von einem Gott verflucht worden war, sodass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkte.
So kam es, dass sie den Untergang Trojas vorhersagte, ohne etwas bewirken zu können. Die Griechen eroberten Troja und Kassandra wurde von ihrem Anführer Agamemnon als Sklavin und Geliebte beansprucht.
Agamemnon nahm Kassandra mit zurück nach Griechenland. Dort hatte seine Frau Klytaimnestra ihrerseits einen Geliebten, Aigisthos. Die beiden hatten vor, Agamemnon, sollte er aus Troja zurückkehren, zu ermorden.
Kassandra sah auch diese Ermordung voraus, aber Agamemnon hörte wegen des Fluchs nicht auf sie. Er kam mit ihr nach Mykene, wo er und Kassandra von Klytaimnestra und Aigisthos getötet wurden.
Dieser Teil der Geschichte – Agamemnons Rückkehr und seine und Kassandras Ermordung – bildet den ersten Teil einer Tragödien-Trilogie von Aischylos, dem ältesten Tragiker, von dem sich Werke überliefert haben.
Insofern klingt es ja ganz passend: Kassandra ist eine Seherin, der niemand glaubt, und eine Figur in einer der berühmtesten antiken Tragödien. Da liegt die Analogie zu Greta Thunberg doch auf der Hand!
Oder eben nicht. Lassen wir mal den Punkt beiseite, ob die (implizite) Beschreibung als ›Seherin‹ angemessen ist in Anbetracht der Tatsache, dass es erschlagenden wissenschaftlichen Rückhalt für diese ›Prophezeiungen‹ gibt.
Das Problem mit dem Kassandra-Vergleich ist: Kassandra ist keine tragische Heldin. Sie ist die Nebenfigur in einer Tragödie, die den Tod des Agamemnon zeigt.
(Und nebenbei ist diese Tragödie nur das Vorspiel, um die Handlung um den eigentlichen tragischen Helden der Trilogie, Agamemnons Sohn Orestes, loszutreten. Denn der rächt seinen Vater und muss danach sehen, wie er die Rachegöttinnen abschüttelt, die ihn deshalb verfolgen.)
Nun könnte man sagen: Auch, wenn Kassandra nicht die Hauptfigur ist, kann sie doch trotzdem eine tragische Figur sein!
Und da wird es kompliziert: Denn was ist eigentlich ›tragisch‹? Um das zu beantworten, können wir uns die anderen Zitate aus dem Artikel anschauen.
Nochmal: »Auf der einen Seite warten ihre Kritiker hämisch darauf, die Heldin als Heuchlerin zu enttarnen. […] Auf der anderen Seite erwarten ihre Fans, nicht weniger genüsslich, das Scheitern der Welt an den Ansprüchen der Klimabewegung.«
Der Artikel macht einen Gegensatz auf (einerseits/andererseits): Entweder teilt man Thunbergs Position, oder man kritisiert sie. Er stellt beide Seiten als berechtigt da: Ja, es müsse mehr Klimaschutz geben, aber nein, zu radikal dürften diese Forderungen auch wieder nicht sein.
Was hat das mit Kassandra und der antiken Tragödie zu tun? Genau, erstmal gar nichts. Niemand käme auf die Idee, das Für und Wider der Ermordung Agamemnons und Kassandras irgendwie gleich zu gewichten.
Die Idee, dass zwei gleichberechtigte Forderungen ›tragisch‹ sein könnten, ist erst in den 1820er Jahren entstanden. Wir verdanken sie Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der suchte sich eine andere antike Tragödie aus, um seine Idee des Tragischen zu veranschaulichen:
Die »Antigone« von Sophokles. In diesem Stück geht es darum: Antigones Bruder hat seine Heimatstadt angegriffen, weil er Anspruch auf die Herrschaft erhebt. Dabei wird er getötet. Der aktuelle Herrscher verweigert ihm wegen des Angriffs die Bestattung.
Antigone fühlt sich aber verpflichtet, ihren Bruder zu beerdigen. Es kommt zum Streit mit dem Herrscher und am Ende sind – eigentlich ein Klischee, aber hier ist es wirklich so – fast alle tot, einschließlich Antigone.
Für Hegel war das ein tolles Beispiel. Denn er konnte das Drama so deuten, dass zwei gleichberechtigte Positionen aufeinanderprallten. Einerseits Antigone, die auf die Familienbande pochte, und andererseits der Herrscher, der das Recht der Stadt durchsetzen musste.
Familie vs. Staat, für Hegel war das ein Beispiel dafür, wie immer wieder gegensätzliche, aber nicht gegeneinander abwägbare Positionen miteinander in Konflikt geraten.
Eine Hoffnung war, mittels (seiner) Philosophie einen Ausweg aus solchen Konflikten zu finden, der nicht den Tod aller Beteiligten beinhaltete.
In diesem Sinne also wird der Gegensatz von Thunberg-Unterstützern und -Gegnern im Artikel als ›tragischer‹ Konflikt beschrieben. Es kommt eine zweite Art von Tragik ins Spiel, die mit der Kassandra-Analogie nichts zu tun hat.
Damit nochmal zurück zu Kassandra. Es ist schwer zu sagen, was an dem Stück, in dem sie auftaucht, ›tragisch‹ ist. Das liegt daran, dass wir mit diesem Begriff ungefähr das verstehen, was Hegel damit meinte – die antiken Griechen diese Idee aber gar nicht hatten.
Eine Möglichkeit wäre, zu sagen, Kassandra sei Teil einer Tragödie, die eben das Leiden der Menschen vorführe – Helden fallen, Könige sterben, Unschuldige werden ermordet. That’s life. Durch Leiden lernen, das war eine antike Vorstellung.
Eine andere Möglichkeit wäre, zu sagen: Wenn wir ein Theaterstück sehen, in dem schreckliche Sachen passieren, ergreift uns das, aber hinterher fühlen wir uns irgendwie besser, befreiter. Das war Aristoteles’ Idee von Tragödie.
Der Punkt ist: Kassandras Ende ist nicht ›tragisch‹, es ist einfach nur Handlungselement einer Tragödie. Die ohnehin mehr als heikle Analogie zu Geta Thunberg erlaubt es also gar nicht, irgendeine Form von Tragik aus ihr abzuleiten.
Bleibt noch Hegel. Und da wird es kritisch. Denn wenn der Artikel wirklich auf diese Idee von Tragik anspielt, impliziert er, dass die Gegenposition zu Thunbergs Forderungen in gleicher Weise legitim sei.
Und damit kommt man an den Punkt, an dem die heutige Rede davon, irgendetwas sei ›tragisch‹, hochproblematisch wird. Denn entweder – in der einfachsten Version – ist damit gemeint, dass etwas so passieren musste, wie es passiert ist.
Dann konnte niemand etwas dafür, nichts hätte unternommen werden können, um es zu verhindern. Aber das trifft ja fast nie zu: Viele ›tragische‹ Autounfälle etwa ließen sich durch Tempolimits verhindern usw.
Impliziert wird damit eine Schicksalhaftigkeit von Ereignissen, die es den Menschen erlaubt, ihre Rolle dabei kleinzureden. Das steckt ja auch im Artikel: Wenn wir die Veränderungen im Klima nicht minimieren, ist das nicht unsere Schuld.
Mithin: Das, was Thunberg fordert, sei ja vollkommen unrealistisch.
Eine andere Sache ist: Wenn man etwas als ›tragisch‹ beschreibt, degradiert man es zum ›Theater‹. Das macht der Artikel hier sehr offensiv, indem er den Vorwurf erhebt, Thunberg betreibe ausführlich PR in eigener Sache.
Damit wird der Inhalt der Botschaft abgewertet. Tragische Helden, das sind in diesem Sinne Schauspieler, die einen Text aufsagen, so tun, als würden sie sterben, und hinterher mit den Kollegen ein Bier trinken gehen. Nichts Ernstes.
Das ist ein ziemlich krasser Vorwurf, der reichlich unsachlich erscheint. Vor allem aber untergräbt er die Dringlichkeit der Forderung, eine offensivere Klimapolitik umzusetzen, indem er sie zum bloßen Spektakel erklärt.
Insofern ist es nicht einfach nur falsch, hier von einer Tragödie zu sprechen, sondern auch unverantwortlich. Man macht es sich auf fahrlässige Art zu einfach, wenn man mit diesen Begriffen operiert.
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