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Mir ist heute mehrmals der „Neodirigismus“-Text von Fuest in die TL gespült worden.⬇️ Das ist schon ein recht bedenkliches Stück. Ein paar Einlassungen dazu. 1/20

cc @EconJena @popp5201 @egghat @AchimTruger @eug_de @zukunftsheld @oxi_blog @MakronomMagazin
Fuest leitet zunächst damit ein, die Kritik an der „neoliberalen“ Marktgläubigkeit dadurch zu entkräften, dass er das Gespenst des Neodirigismus an die Wand malt. Dabei ist das Bild, das er davon zeichnet schlicht überzogen und pauschal. 2/20
Vor dem Hintergrund dieses Bilds fühlt er sich jedenfalls an den Dirigismus der 1970er Jahre erinnert. Aber natürlich sind die Verhältnisse andere & um das zu markieren, aber gleichzeitig die (anti-keynesianische?) Konnotation beizubehalten, das „Neo“ vor dem Dirigismus.😉 3/20
Diese billige Strohpuppe sollte aber nicht über die teils rhetorisch wirklich geschickte Argumentation hinwegtäuschen: Durch nuancierte Differenzierung relativiert er scheinbar seinen Marktfundamentalismus, um letztlich doch bei einer Art Marktfundamentalismus 2.0 zu landen. 4/20
So lässt sich ihm schwer „Neoliberalismus“ vorwerfen (übrigens ein Begriff, dessen Verwendung er aus ideengeschichtlichen Gründen kritisiert). Denn neben marktfundamentalistischen Argumentationsmustern finden sich halt auch viele Relativierungen. 5/20
Jedoch bleibt bei aller Relativierung am Ende irgendwie hängen, dass „der Markt“ super ist, er zwar regulierender Eingriffe bedarf, es Deutschland aber viel zu weit treibt: mit (Feinstaub-) Verboten in der Klimapolitik oder Belastungen, die private Investitionen hemmen… 6/20
Mögen andere Kolleg:innen sich hier im Detail zur Besteuerung, Investition, Klimapolitik usw. äußern. Ich will mich auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beschränken. Und hier ist die Argumentation recht fragwürdig. 7/20
So verdreht er offenbar bewusst, dass am ALGII *nicht* (wie von ihm behauptet) die Verpflichtung zur Mitwirkung als unzumutbar kritisiert wird, sondern es geht um unzumutbare Mitwirkungspflichten & Sanktionen. Das ist ein sehr großer Unterschied! 8/20
Fragwürdig ist die Behauptung, „die Rolle ökonomischer Anreizwirkungen [würde] geleugnet“. Der Punkt ist hier, dass HartzIV bekanntlich ua dafür kritisiert wird, ein Strafrecht im Sozialrecht zu sein & es dort für viele Menschen ganz real um ihre *Existenz* geht! 9/20
Fuest verschweigt, dass sich die ökonomischen Anreize im ALGII in der bewussten Existenznot finden. Existenznot ist *das* Instrument des Arbeitsmarkts! Wer nun aber diese Existenznot lindern möchte, verneint (so suggeriert Fuest) die Rolle der ökonomischen Anreize…🙄 10/20
Fragwürdig ist auch das Bild über Erwerbslose, das er dort forciert: Er sagt *nicht*, dass Arbeitslose faule Drückeberger sind, denen Beine gemacht werden müssen. Nein, das macht er natürlich nicht. 11/20
Aber über die HartzIV-Kritiker:innen zu behaupten, die Bemühung um Arbeit einzufordern, würde als unzumutbar kritisiert, oder sie würden Arbeitsanreize als nicht notwendig ansehen, das nicht sachgemäß & appelliert schon irgendwie doch an den Soziale-Hängematten-Vorbehalt. 12/20
Den Verweis auf Arbeitsanreize könnten Betroffene durchaus als despektierlich auffassen. Denn er vermittelt: Arbeit würde sich nicht lohnen, sie blieben lieber zu Hause & müssten erst zur Arbeit motiviert werden. Aber hier findet sich auch eine argumentative Hintertüre. 13/20
Denn in der Tat: unter rein ökonomischem Kalkül mag zB die Transferentzugsrate negativ auf die Arbeitsmotivation & das -angebot wirken. Nur wird im Text erst allg. von Anreizen zur Arbeitsaufnahme gesprochen & dann im nachfolgenden Satz der Wunsch nach Mehrarbeit erwähnt.🤨 14/20
Das wirklich Schräge an der Geschichte ist aber, dass Fuest am Anfang das Gespenst vom Neodirigismus an die Wand malt, ihm aber nicht einmal im Ansatz einfällt, den äußerst repressiven Dirigismus des HartzIV-Regimes zu kritisieren. 15/20
Zudem ist der Hinweis auf die Notwendigkeit aufeinander abgestimmten Transfers im Kontext seiner Neodirigismus-Kritik fast Satire. Dabei hätte er auch Maßnahmen zur Reduzierung des Dirigismus im Sozialbereich vorschlagen können (vom Strafen bis zur Antragstellung). 16/20
Abschließend noch ein allgemeiner Punkt: Es ist erschreckend, wie stark der Text auf die Rhetorik des Systemstreits zurückfällt. Es wird offenbar nur in Kategorien Dirigismus & Wettbewerb/Markt gedacht. 17/20
So sind Genossenschaften ein gutes Beispiel dafür, wie abseits „des Marktes“ gemeinschaftlich gewirtschaftet werden kann. Es kann gut sein, dass wir zukünftig mehr solcher dezentralen gemeinschaftlichen Wirtschaftsformen brauchen. 19/20
Deshalb wirft uns das Denken, das Fuest im Text mit seinem Neodirigismus präsentiert, um Jahrzehnte zurück & stellt auch ein Hindernis für das Nachdenken über verschiedene nachhaltige Wirtschaftsstile dar, die selbstverständlich auch jenseits „vom Markt“ liegen können. 20/20
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