Endlich kam ich dazu, diesen Artikel komplett zu lesen. Absolut grandioser Text– wer Englisch kann und eine halbe Stunde Zeit hat: LESEN!

Wieso war die #Pandemie in manchen Regionen so verheerend, in anderen eher harmlos? Was ist backwards tracing, warum ist es so wichtig? 1/
Und wieso ist die Frage, ob „#COVID19 exponentiell wächst“ oder nicht weder sehr aufschlussreich noch neu?

All diese Fragen hängen in ihrem Inneren mit einer verrückten Eigenschaft des neuen #Coronavirus #SARSCoV2 zusammen, der sog. Überdispersion- häufig Faktor „k“ genannt. 2/
Viele kennen vermutlich den Faktor „R0“, der bei Infektionskrankheiten die zu erwartende Anzahl an Personen angibt, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Bei der Grippe z.B. ist das tatsächlich halbwegs homogen, bei anderen Erregern, wie eben ganz extrem bei SARSCoV2, 3/
völlig inhomogen: stecken die allermeisten #SARSCoV2-Infizierten niemanden oder nur eine weitere Person an, "schafft“ es eine kleine Minderheit an Infizierten auf einen Schlag eine ganze Menge, ggf. weit über 10, weitere Menschen anzustecken; mehr dazu hier:
4/
Das spannende an dieser– auch für die meisten Epidemiologen– zunächst ungewohnten Art der Ausbreitung ist, dass der Zufall eine riesige Rolle spielt! In den meisten Fällen bleibt es bei sehr kurzen Infektionsketten, die recht schnell selbst zum Erliegen kommen:
5/ Image
Wenn man nur diesen Teil der #Infektionen betrachtet, kommt es nicht einmal zum exponentiellen Anstieg der #Fallzahlen, wie wir es von „normalen“ Erregern kennen. ABER: in einem kleinen Teil der Fälle kommt es eben anders. Ein Infizierter steckt, z.B. bei einer in einer Bar 6/
gleich eine Vielzahl an anderen an. Hier explodieren die Fallzahlen also förmlich; zwar nur an einem Abend und nur an einem Ort (Bar), aber dafür in einem krass überexponentiellen Maß! Allgemein bekannt dürfte das als #SuperSpreaderEvent sein. Dabei muss man aufpassen, 7/ Image
dass man nicht vorschnell glaubt, ein #superspreader sei eine Person, die besonders viele Viren ausstößt. Das mag EIN Aspekt dabei sein, aber wirklich verstanden hat man das noch nicht. Ganz sicher ist, dass es Umstände gibt, die solche Ereignisse stark begünstigen: 8/
1. Innenräume, 2. viele Menschen (am schlimmsten: ohne Maske, singen, schreien) & 3. schlechte Belüftung! Nahezu alle großen Ausbrüche fanden in solchen Settings statt! Darum die erste große Lektion hier: solche Umstände zu erschweren reduziert das Ausbreitungsrisiko radikal! 9/
Was folgt noch aus der Erkenntnis dieser Überdispersion? Dass der Zufall eine riesige Rolle spielt, da praktisch unvorhersehbar ist, wo und wann es zu einem solchen lokalen Ausbruch, einem sog. Cluster kommt! Diese Zufallskomponente mag auch bereits der 10/
zugegebenermaßen intellektuell sehr unbefriedigende Grund dafür sein, dass manche Regionen (Norditalien!) extrem schwer betroffen waren, mit plötzlich explodierenden Fallzahlen, während andere trotz ähnl. Gegebenheiten (Bevölkerungsdichte etc.) weit weniger getroffen waren. 11/
Das Tückische ist nämlich: da bei einem #SuperSpreaderEvent direkt eine große Zahl Infizierter „entsteht“, besteht folglich auch ein sehr viel größeres Risiko, dass es unter all diesen neuen Fällen abermals Personen gibt, die in geeigneten Umständen zum superspreader werden! 12/
Auf diese Art und Weise kann es dann in einem räumlich eng umrissenen Gebiet zu einer Ausbreitung kommen, die sogar deutlich ÜBER dem erwartbaren exponentiellen Anstieg liegt. In diesem Bild die lila Linie, während die gestrichelte rote den exponentiellen Anstieg darstellt:
13/ Image
Das heisst, es mag so einfach wie frustrierend ausreichen, dass in Norditalien (und anderen Gegenden der Welt) ein paar Cluster-Ereignisse ungeschickt zusammenkamen, so dass die Situation dann explodierte und unkontrollierbar aus dem Ruder lief. Bleibt die letzte Frage: 14/
Was können wir tun, um solche Situationen für die Zukunft zu vermeiden? Hier kommt das auch von @c_drosten bereits häufig angeführte #backwardstracing ins Spiel. Bisweilen wird das schlicht als „Kontaktrückverfolgung“ verstanden und es heisst: „Machen wir doch schon lange!“ 15/
Aber es gibt einen gravierenden Unterschied: klassisch (wie von unseren Gesundheitsämtern meist exzellent gemacht), werden von einem Infizierten alle Kontakte der letzten Tage identifiziert und vorsorgl. in #Quarantäne gesteckt, falls er sie angesteckt hat. 16/
Wie oben beschrieben ist aber die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Infizierte gar niemanden oder nur 1-2 weitere Personen angesteckt hat– man gewinnt also nicht sehr viel durch diese Strategie. Wenn man aber herausbekommt, an wem er sich selbst angesteckt hat und dann DESSEN 17/
Kontakte identifiziert und testet, kann man schnell erkennen, ob es weitere Infizierte, und damit einen Ansteckungs-Cluster gibt. Findet man noch zwei, drei weitere Angesteckte, kann man von einem #Cluster ausgehen und alle Kontakte dieses „ersten“ Falles quarantänisieren. 18/
Durch dieses sog. #clusterbusting erhöht sich die Schlagkraft der Test- und Isolierungsstrategie schlagartig bei vergleichbarem Aufwand seitens der Gesundheitsbehörden. Länder wie Südkorea oder Japan sind hier die Vorbilder– es gab dort Cluster (sogar #Megacluster!), aber 19/ Image
durch konsequentes Nachverfolgen der Cluster und Quarantäne aller möglichen Beteiligten, konnten diese kontrolliert und zum Erliegen gebracht werden. Diese Strategie führt zwangsläufig dazu, dass „einfache“ Infektionsketten übersehen werden– man verhindert also wissentlich 20/
nicht jeden einzelnen Fall– aber dafür erhält man die realistische Möglichkeit, ohne drakonische Einschränkungen des öffentlichen Lebens (Japan hatte nie einen echten Lockdown) und mit endlichen Ressourcen der Gesundheitsämter eine Ausbreitung der Infektionen durch die Breite 21/
der Gesellschaft zu verhindern; die Fallzahlen werden auf einem stabilen, niedrigen Niveau gehalten! Voraussetzung hierfür ist aber, dass man früh genug mit dieser Strategie beginnt, BEVOR die schiere Zahl an Neuinfektionen die Rückverfolgung unmöglich macht. Und hierfür ist 22/
das konsequente Durchhalten der #AHAFormel eine absolute Notwendigkeit. Durch #AHA und #backwardtracing können wir das Virus nicht komplett eindämmen, aber die unkontrollierbare Ausbreitung verhindern und den gesundheitlichen Schaden insgesamt auf ein Minimum begrenzen! 23/24
Bildquellen werden in den Kommentaren zum jeweiligen Tweet genannt; für weitere Quellen bitte den Originalartikel lesen / durchschauen!
Spannende Quelle (Superspreading events in Hong Kong): researchsquare.com/article/rs-295…
Spannende Quelle (Superspreading events in Hong Kong): researchsquare.com/article/rs-295…
Im Thread vielleicht zu kurz gekommen: da es keine klassische Epidemie mit homogenem R0 ist, erfolgt die Entwicklung der Fallzahlen auch nur über große Regionen hinweg gemittelt näherungsweise exponentiell. Aber schon kleine Änderungen der Umstände …
… können den Verlauf dramatisch verändern. Das kann schlecht sein (unvorhersehbare Explosion der Fallzahlen bei Zusammentreffen bestimmter Umstände), oder gut ("überraschend“ zügiger Rückgang des Wachstums durch geringfügig bessere Umsetzung von Maßnahmen).

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4 Oct
Lieber Herr Oberst, Danke erstmal für Ihre Antwort!
Ich mag Ihre Unterscheidung zwischen „rechtlicher“ und „ethischer“ Betrachtung nicht ganz mitgehen. Es gibt ja kein Gesetz, dass Pandemie-Maßnahmen explizit regelt. Die Auslegung, die Sie versuchen, ist dann doch wieder Ethik.1/
Sie stellen Ihre Grundannahme dann abermals als unstrittig (#alternativlos) dar: „Das kann man nicht ernsthaft in Zweifel ziehen“. Natürlich kann man! Bleiben wir beim Bsp. Durchseuchung: müsste man von nur 3 Toten ausgehen, und würde dafür Millionen anderer existenzielle Not 2/
ersparen, würden das vermutlich doch viele „ernsthaft in Zweifel ziehen“. Wären es 3000 Tote, wäre es schon etwas strittiger– dann hätten wir etwa die Situation wie im Straßenverkehr. Wir WISSEN, dass er tausende Tote zur Folge hat, aber erachten den allgem. Nutzen als höher. 3/
Read 10 tweets
3 Oct
Vielen Dank Herr Oberst für diesen spannenden Thread! Klare Leseempfehlung!

Ich möchte aber ein paar Anmerkungen dazu loswerden. Im Ggs zu Ihnen bin ich kein Philosoph, erlaube mir aber dennoch ein paar Einwände, zumindest gegen die implizierte Eindeutigkeit der Ethik.1/
Ich versuche mich im eigenen Interesse (und dem meiner Familie 😉) kurz zu fassen. In Ihrer Eingangsbetrachtung verwenden Sie griffigerweise das Bsp. des Risikos durch Verkehrsunfall, vor dem uns der Staat nicht „mit radikalen Konsequenzen“ schützt. Ich führe aus: er könnte ja 2/
das Autofahren in Innenstädten von 7:30-8:30 und 12:00-13:30 Uhr verbieten, um Kinder auf dem Schulweg vor dem Verkehrstot zu bewahren. In Kauf genommen würden ganz erhebliche Eingriffe in die Freiheit z.B. aller Erwerbstätigen, die zum Arbeitsplatz müssen (u.v.a.m.). 3/
Read 17 tweets
1 Oct
1/ Ein Artikel von Profs. R. Gottschalk und U. Heudorf (GA Frankfurt a.M.) sorgt aktuell für Gesprächsstoff. Wie zu erwarten bedienen sich einige des Textes, um ihre grundsätzlichen Ablehnung der #Corona-Maßnahmen mit Expertenaussagen zu untermauern. Bedauerlicherweise… 1/n
2/ … behandelt der Artikel auch noch das ohnehin viel zu breit diskutierte Thema der PCR-Spezifität, wobei Herr Gottschalk bereits signalisierte, dass der Artikel an dieser Stelle ungeschickt verkürzt darstellt. Der Text sollte aber auf keinen Fall hierauf reduziert werden!
3/ Tatsächlich beleuchtet der Artikel nämlich durchaus einige wichtige Fragen und mahnt vor allem 1.) eine bessere Risikokommunikation in der Öffentlichkeit an, sowie 2.) einen breiteren, ehrlichen Diskurs über unsere Schutzziele, v.a. im Hinblick auf eine möglicherweise…
Read 20 tweets
21 Sep
Häufig Frage: was ist an #COVID19 besonders, dass so viele Infizierte kaum Symptome zeigen und nur wenige sehr ernsthaft erkranken? Antwort: eigentlich nichts!

Beispiel Polio: die große Mehrheit der Infektionen bleibt symptomlos, „nur“ 0,5% entwickeln die KinderLÄHMUNG.
1/6
War die Polio also harmlos? Mitnichten! Wir Jüngere können uns nicht erinnern, aber wenn wir mal unsere Eltern fragen, dann hören wir schlimme Geschichten. Hier ein eindrucksvoller Beitrag zu Polio bei @quarkswdr: www1.wdr.de/mediathek/vide…

Noch ein Beispiel?
2/6
Beispiel Epstein-Barr-Virus: fast jeder ist mit dem Virus infiziert. Aber: die meisten wurden im Kindesalter infiziert und entwickelten kaum/keine Symptome. Wer es sich aber erst als Jugendlicher einfängt bekommt das Pfeiffersche Drüsenfieber!
3/6
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17 Sep
Zugabe zum Tweet von gestern: wie „zählt“ man Viren? Die Technik nennt sich „Plaque Assay“ und ich teile einfach mal meine Vorlesungsfolie dazu. Das zähe Medium bremst die Nachkommenviren➔ infizieren nur noch die direkt benachbarten Zellen 1/ Image
2/ Und nachdem man all die Plaques („Löcher“) auf all seinen zahllosen Platten ausgezählt (und gut dokumentiert!) hat… führt man die Platten ihrer Zweitverwertung zu! 😂
3/ Dank geht an Barbara Müller für die Grundversion der Folie, an Ralf #Bartenschlager und seine SARS-Gang (v.a. @mirkocortese) für das Foto mit dem SARS-CoV2 Plaque-Assay, alle @CiidHeidelberg @uniklinik_hd @UniHeidelberg
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17 Sep
Following up on yesterdays tweet: how to „count“ viruses? The technique is called „plaque assay“ and I’ll share my teaching slide on it below. The gooey medium keeps offspring viruses from swimming around➔ only infect adjacent cells, creating circular holes in the cell layer. 1/ Image
2/ And once you have counted (and documented!) the plaques (i.e. „holes“) from all your countless plates, have fun:
3/ Acknowledgments for the basis of the slide go to Barbara Müller, and for sharing the photo of the SARS-CoV2 plaque assay to Ralf #Bartenschlager and his SARS gang (mainly @mirkocortese), all @CiidHeidelberg @uniklinik_hd @UniHeidelberg
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